Begegnungen (Tartor 14.597 d. A.) – Teil 1
* * *
Charrut schlug die Augen auf und sah über sich Blätter eines Baumes leicht im Wind bewegen. Der Geschmack von Blut in seinem Mund ließ ihn schlagartig an den Gleiterabsturz denken. Mühsam richtete er sich auf und sah, dass er fast 20 Quars weit vom Gleiter, oder, das, was einmal ein Gleiter war, am Boden lag. Langsam, mit müden Schritten, ging er auf das Gleiterwrack zu. Jeder Schritt verursachte Schmerzen, insbesondere seine linke Schulter. Den linken Arm konnte er nicht bewegen. Er vermutete, dass sein Arm oder seine Schulter gebrochen war. Aber die Sorge um Onista trieb ihn an, ließ ihn seine Schmerzen verdrängen. Als er beim Wrack angekommen war und einen Blick ins Innere durch das zersplitterte Bugfenster warf, sah er Sidona. Sie lag fast wie von selbst hingelegt über die beiden Gleitersitze. Aber hier kam jede Hilfe zu spät. Ihr ausdrucksloses Gesicht und ihre gebrochenen Augen sagten ihm, dass sie tot war. Aber wo war Onista? Sie lag nicht im Gleiter und auf den Weg dorthin hatte er sie nicht gesehen.
Unterbewusst nahm er war, dass ein Gleiter landete und kurz darauf heraneilende Schritte auf ihn zukamen. Währenddessen hatte er Onista erspäht. Sie lag hinter einem Busch, nur ihre Beine schauten hervor. Unter Missachtung seiner Schmerzen, immer wieder aufstöhnend und mit tränenden Augen, eilte er zu seiner geliebten Neentin, zu Onista.
Als er Onista erreicht hatte, kniete er sich neben sie und drehte sie vorsichtig auf den Rücken, während er ihren Namen flüsterte. Er sagte immer wieder ihren Namen, immer drängender, immer lauter. Irgendwann zuckten ihre Augen und flackernd öffneten sie sich in ihrem wächsernen Gesicht. Sie schien einen Moment zu brauchen, um sich zu erinnern, was geschehen war. Ihre Augen blickten suchend umher, bis sie Charrut erkannte. Sie zitterte vor innerer Kälte und er spürte, dass ihre Kräfte sie langsam verließen. Qualvoll, stockend, mit aus den Mundwinkeln rinnendem Blut, sagte sie: „Wir hatten so… wenig Zeit. Und jetzt … ist es schon vorbei. Bitte halte… die Totenwache… für mich!“
„Nein, halte durch, Hilfe wird bald kommen!“ Und nach einem Augenblick, der für Charrut wie eine Ewigkeit vorkam, mit kaum noch hörbarer Stimme: „Küsse mich… ein letztes Mal“. Charrut beugte sich mit nassen Augen zu ihr hinunter und küsste ihre blassen, schwachen Lippen. Als sich ihre Lippen nach einiger Zeit trennten, spürte er instinktiv, das sie zu den She’Huhans gegangen war. Zögernd, als wenn ihn etwas davon abhalten wollte, hob er seine rechte Hand und schloss ihre Augen.
Die schnellen Schritte, die er gehört hatte, verlangsamten sich und hörten dann in einigen Quars Entfernung auf. Tranthar wollte weitergehen, aber Kerasor hielt ihn fest. Tranthar sah Kerasor an und wollte etwas sagen, aber Kerasor schüttelte nur langsam den Kopf.
Erst leise, dann immer lauter schrie er seinen inneren Schmerz hinaus…
Nach einer endlos scheinenden Zeit, als er sich beruhigt hatte, raffte er sich auf und rief Kerasor zu sich.
Als sich Kerasor neben ihm niederkniete, sagte er leise: „Hilf mir, sie richtig zu legen“
Gemeinsam bettenden sie Onista dem Sonnenaufgang liegend aus und Charrut setzte sich neben sie, während Kerasor zu Tranthar zurückging. Kerasor zog Tranthar mit sich und beide setzten sich in respektvollen Abstand auf einen Stein. Tranthar sah Kerasor fragend an und Kerasor sagte nach kurzem Zögern nur ein Wort: „Totenwache!“.
Charrut betete zu den She’Huhans. In Gedanken beschwor er die uralte Formel, um die Götter wohlgesonnen zu stimmen. Wenn eine Seele zu den Füßen der She’Huhans erschien, musste sie sich fragen lassen, ob sie aus den Fehlern, die sie unter den Lebenden gemacht hatte, lernen konnte oder nicht. Mit der Fürsprache desjenigen, der zu den She’Huhans betete, wurden die Götter milder gestimmt, denn der Betende bat durch sein Gebet um Vergebung für die Fehler der Seele. Aber die Totenwache bestand nur zu einem Teil aus der Bitte um Vergebung. Der andere Teil bestand darin, Abschied zu nehmen und die Seele gehen zu lassen – gehen zu lassen, damit die Seele in das Reich der She’Huhans aufgenommen werden konnte und für den Betenden, damit derjenige einen Neuanfang seines Lebens vollziehen konnte.
In Charruts Gedanken tauchten Bilder von Onista auf: das erste Kennenlernen an Bord der LEKA, ihr Wiedersehen in der Trinkhalle, ihre Abende zu zweit, ihre leidenschaftliche Liebe, der Messerkampf mit dem Nebenbuhler, der Besuch auf Harkon. Zu kurz, viel zu kurz war ihnen Zeit geblieben…
* * *
Einige Palbertontas vergingen, bis die von Kerasor alarmierten Sicherheits- und Rettungskräfte eintrafen. Während Tranthar und Kerasor die Rettungskräfte in Empfang nahmen und zu Sidona und später zu Onista geleiteten, untersuchten die Sicherheitskräfte das Gleiterwrack. Charrut, der sich auf einen Stein gesetzt hatte und die Behandlung eines Medikers stoisch über sich ergehen ließ, fühlte sich innerlich wie tot. Vor einigen Tontas waren Onista und er auf Varynkor eingetroffen; glücklich und zufrieden und jetzt? Onista war tot, sein Traum von einer glücklichen und gemeinsamen Zukunft war geplatzt wie eine überreife Frucht. Er hatte vorhin zwar die Totenwache gehalten, aber seine Gefühle konnte er nicht einfach abschalten. ‚Unmöglich‘, ging es ihm durch den Kopf‚ dass alle positronischen Komponenten wie auch die Redundanzsysteme im Gleiter von Sidona ausfielen. Einfach unmöglich! Und doch, wenn er sich zurück erinnerte, waren die Systeme kurz hintereinander mit einem Flackern der Konsolen ausgefallen.‘
Die Stimme des Medikers holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. „Sie haben Glück im Unglück gehabt. Zwar jede Menge Schnittwunden, aber weder der Arm noch die Schulter sind gebrochen. Der Arm ist lediglich ausgekugelt. Ihre Schnittwunden habe ich mit Wundspray behandelt, aber den Arm einrenken sollte ein Spezialist durchführen.“
Charrut war so in Gedanken gewesen, dass er die Behandlung seiner leichteren Schnittwunden gar nicht mitbekommen hatte. Er sah kurz den Mediker an und sagte: „Machen Sie es. Jetzt!“
Der Mediker sah in überrascht an und erwiderte: „Ich habe Ihnen zwar ein Schmerzmittel injiziert, aber ich bin kein Physiotherapeut, kein Spezialist. Es könnte schmerzhaft sein. Sie sollten es wirklich durch…“. Charrut wollte jetzt nicht hören, was der Mediker konnte oder nicht konnte. Er unterbrach ihn mit ärgerlicher Stimme: „Tun Sie es JETZT! Ich kann jetzt hier nicht fort.“
Der Mediker schüttelte nur den Kopf, nahm aber hinter Charrut Aufstellung, umfasste den Arm und sagte: „Trotz des Schmerzmittels werden Sie Schmerzen verspüren. Entspannen Sie sich“.
„Fangen Sie schon an“ erwiderte Charrut.
Der Mediker griff fester zu und gleich darauf spürte Charrut einen stechenden Schmerz, begleitet mit einem leichten knirschenden Geräusch. Schmerzvoll verzog er das Gesicht, bis der Schmerz nachließ. Währenddessen war der Mediker schon dabei, sein Arm und die Schulter zu fixieren.
Tranthar kam mit einem bullig aussehenden Sicherheitsoffizier auf ihn zu und beide blieben vor ihm stehen.
„Ich bin Doun Ousko, Sicherheitsoffizier 2. Klasse. Ich benötige ihre Aussage zu dem, hmm, Unfall“ sagte der Sicherheitsoffizier mit tiefer Stimme zu Charrut.
Charrut sah ihn kurz nachdenklich an und fing dann an, vom Start des Gleiters bis zum Absturz alles zu erzählen. Als er geendet hatte, rieb sich der Sicherheitsoffizier sein Kinn und schüttelte langsam seinen Kopf.
„Eigentlich ist so etwas unmöglich. Jedes Transportsystem hat diverse Sicherheitsfunktionen, die ein Versagen der Positronik und deren angeschlossenen Systeme verhindern sollen“. Der Sicherheitsoffizier dachte kurz nach und sagte dann mit fester Stimme: „Ich lasse ein Spezialistenteam kommen, die das Wrack untersuchen sollen.“ „Ich will wissen, wie es passieren konnte!“ erwiderte Charrut mit einer Stimme, die keinen Widerstand zuließ. Der Sicherheitsoffizier nickte verständnisvoll Charrut zu und ging dann in Richtung Gleiterwrack davon.
Tranthar setzte sich einen Augenblick später langsam neben Charrut nieder und fragte: „Wie geht es dir?“
Charrut machte eine unbestimmte Bewegung mit der rechten Hand, sagte aber nichts. Was sollte er auch sagen? Er fühlte nichts außer einer großen Leere in sich, fast so, als wenn ein Teil von ihm herausgerissen worden sei. Aber ihn beschäftigte vielmehr die Aussage des Sicherheitsbeamten, die seiner Überlegung von vorher entsprach: ein Ausfall aller Sicherheitsfunktionen des Gleiters war einfach unmöglich!
Als Kerasor auf sie zukam, stand Tranthar auf und sagte zu Charrut: „Lass uns in die Akademie fliegen. Deine Verletzungen müssen behandelt und die eingerenkte Schulter nochmals kontrolliert werden und außerdem können wir hier sowieso nichts mehr ausrichten!“
„Nein, ich bleibe. Ich muss wissen, wie es geschehen konnte.“ erwiderte Charrut und schüttelte dabei heftig seinen Kopf.
Kerasor sah Tranthar an und sagte dann, Charrut anblickend: „Dann bleiben wir auch!“. Tranthar und er setzten sich neben Charrut und gemeinsam warteten sie auf das Ergebnis der Wrackuntersuchung.
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