Aufbruch
Aufbruch
Feine Nebelschleier zogen sich durch die stille, dunkle Parklandschaft. Kein Laut der Vögel, die als erste jeden neuen Tag begrüßen und den Park zuhauf bevölkern, war zu hören. Ab und zu brummte ein verirrter Laslar-Käfer von Baum zu Baum, auf der Suche nach einem geeigneten Versteck, um den Tag zu verschlafen.
Am Horizont schimmerte der erste helle Schein, der den neuen Tag ankündigte. Geräuschlos öffnete sich eine Tür, Licht erhellte einen dunklen Platz. Ein Mann kam heraus und ging geradewegs zum Rand des Gleiterlandeplatzes. Hinter ihm schloß sich die Tür wieder lautlos. Das Licht erlosch und nur die Positionslichter der Landefläche glommen durch das Morgengrauen. Er ging langsam und bedachten Schrittes zur Einflugschneise der Gleiter und nestelte kurz an seinem Gürtel umher. Er stellte sich exakt an die Kante, wo es fast 200 Meter steil hinab ging. Der Boden war nicht zu sehen, leichte Nebelschwaden und ein Stück der schwarzen Nacht verschluckten jedes Licht, daß in die Tiefe fiel. Die Beine zusammen gestellt, den Körper gestreckt, hob er langsam die Arme, als ob er den neuen Tag begrüßen wollte und kippte langsam kopfüber nach vorne weg!
Der Schein am Horizont wurde stärker und erhellte den fallenden Kolonial-Arkoniden für einen Augenblick, bevor ihn die Nebelschwaden verschluckten. Kein Laut drang über die Lippen des Mannes, der diesen Fall anscheinend genoß. Die 200 Meter hinab fallend, noch wenige Sekunden, dann würde er aufschlagen! Aber der Sturz, mit Kopf und ausgestreckten Armen voran, wandelte sich in eine flache Kurve und mit der erreichten Fallgeschwindigkeit raste er wie ein übernatürliches Wesen, gerade noch drei Meter über den Erdboden hinweg, einem Weg durch den Park folgend. Der Trichterbau verschwand hinter den Laubkronen der Bäume, als der Tamanari zur Landung ansetzte. Sein Körper drehte sich um 90 Grad, die Fluggeschwindigkeit reduzierte sich. Die Füße berührten den Boden und er begann zu laufen. In diesem Augenblick erwachten die Morgenvögel, begannen zaghaft das erste Zwitscher-Konzert des Tages und langsam stimmten weitere Vögel mit ein.
Das oberste Rund der Sonne Tam schob sich über den Horizont und leuchtete auf den Weg und die Wiesen herab. Gleichmäßig in einem bestimmten Rhythmus atmend, folgte der Tamanari diesen Weg, zurück zum Trichterbau, wo an diesem Morgen alles seinen Anfang nahm. Zwei Drittel des Weges schon hinter sich, begrüßten ihn die Kusus, kleine gesellige Vögel in buntem Gefieder, mit einem Pfeifkonzert. Lächelnd verlangsamte der Läufer seine Schritte, um ihnen für einen Moment zu lauschen, als er vor sich das Klatschen zweier Hände hörte.
„Respekt, mein Junge, Respekt! Das war eine gelungene Vorstellung!“ tönte es hinter einer dichten Hecke hervor.
Noch ein paar Schritte und der Sprecher wurde sichtbar!
„Guten Morgen, Pacheopalan!“ wurde der ältere, etwas seltsam aussehende Mann überrascht angesprochen. „Was treibt Dich so früh am Morgen hier in die Einsamkeit hinaus?“
„Tja, Kerasor“ erwiderte der Alte, „Du wirst es mir nicht glauben, aber ich genieße den Sonnenaufgang und das morgendliche Konzert der Kusus! Außerdem klärt die frische Morgenluft die Gedanken, die Stille schärft die Sinne und die Eskapaden gewisser jungen Männer lassen einen schon mal das Herz schneller schlagen.“
„Hm“ kommentierte Kerasor Pacheopalans Worte, „ausnahmsweise nehme ich Dir das ab. Aber was ist der wirkliche Grund, warum Du gerade hier auf mich gewartet hast? Gibt es wieder Ärger?“
„Leider ja – und besonders Großen!“ entgegnete Pacheopalan, Kerasors alter Lehrmeister, und legte einen Arm um die Schultern Kerasors. Langsam schritten sie aus, sich dem Gebäude nähernd. Die Morgensonne schien ihnen in die Gesichter, ein erster Gleiter landete auf dem Trichterbau.
„Heute Nacht haben wir ein Terroristennest ausgehoben – alles keine Tamanarii, sondern bezahlte Killer! Leider konnte einer entkommen. Er verschwand ohne eine Spur zu hinterlassen. Von den Gefangenen konnten wir erfahren, daß Attentate auf die regierende Familie vorbereitet wurden. Diesmal sollte es auch entfernte Verwandte und Querons Kinder treffen! Deswegen bin ich hier! Wir haben die Vorstufe zum Ausnahmezustand und hoffen, den Attentäter wieder aufzuspüren! Diesmal sind Deine Geschwister und Du das Ziel! Deshalb bitte ich Dich, achte heute besonders auf Deine Umgebung!“
„Ich werde deinen Rat beherzigen“, gab Kerasor zurück. Beide blieben unter einer weit ausladenden Hachal stehen.
„Dann, mein Junge, wünsche ich Dir viel Glück und Erfolg und hoffe, Dich gesund wiedersehen zu können! Hier habe ich einen Holowürfel, der für Antor von Kolamir bestimmt ist!“
Pacheopalans zog ein handgroßes würfelförmiges Etwas aus einer seiner Taschen im Gewand, gab ihm den Holowürfel, umarmte den jungen Tamanarer und verließ den Weg entgegensetzt zum Trichterhaus, ohne näheres zu dem Holowürfel zu sagen. Kerasor starrte ihm noch eine Weile nach und nahm mit einem feuchten Schimmer in den Augen seinen Lauf wieder auf! Der Frühstücks-Saal erwartete ihn!
*
Immer lauter hallte das Echo eines schnell laufenden Menschen durch den mäßig beleuchteten Gang. Vergebens suchte man nach dem Verursacher. Erst im letzten Moment erschien eine Gestalt am anderen Gangende, ein Paket unter dem Arm geklemmt. Sie kam näher und huschte schnell durch eine sich selbsttätig öffnende Türe. Draußen, auf dem Fahrzeugparkgelände wurde der Mann von zwei anderen Menschen erwartet.
„Ah, Uwonal, wir glaubten schon, ohne Dich losfliegen zu müssen“ lachte ihm Ikoran entgegen.
Uwonal winke lächelnd ab. „Beinahe hätte ich das Paket vergessen, mußte nochmal zurück. Da sich bisher niemand von der Gruppe gemeldet hat, sind wir noch nicht zu spät dran.“
„Nun, laßt uns abfliegen, die anderen warten nicht gerne bis zur letzten Minute“ unterbrach Kitaon das Gespräch der beiden jungen Männer.
Sie schwangen sich auf ihre Hartellas, nachdem Uwolan das Paket hinter dem Sitz seiner Maschine befestigt hatte, starteten die Motoren, die leise, fast lautlos zu Summen anfingen und schwebten in Fußhöhe vom Abstellgelände zur Straße hinab.
Hartellas sind spezielle Ein- und Zweimanngleiter. Ihre Besonderheit ist, daß sie offen geflogen werden. Bis 140 km/h weht einem der Fahrtwind durch das lange, dunkelbraune Haar, bei höheren Geschwindigkeiten sorgt ein Prallfeld für ein angenehmes Gleitgefühl. Von der Tamanarischen Regierung werden Hartellas nur bis 280 km/h Geschwindigkeit erlaubt. Man sitzt in einer leichten Schräglage nach hinten und steuert das Gefährt mit Händen und Füßen. Der Fahrer gleitet auf Gravitationskissen, die entsprechend eingestellt sind. Kurven, Höhen und Tiefen lassen sich mit einem berauschenden Gefühl durchfliegen. Es ist ein angenehmes und aufregendes Erlebnis, solch eine Maschine zu fliegen.
Die drei jungen Männer bogen auf eine Hauptstraße ein und schwebten mit 100 km/h ihrem Treffpunkt entgegen. Die orangegelbe Sonne, sich der höchsten Stelle am Firmament nähernd, brannte von einem wolkenfreien, türkisblauen Himmel herab. Die heiße Jahreszeit neigte sich dem Ende zu. Ein unübersehbares Zeichen war, daß die Blütenkelche der Cornet-Bäume sich zu öffnen begannen. Kleine, blitzschnelle Per-pes-Vögel statteten den Kelchen einen Besuch ab. Sie kamen erst nach der heißen Zeit aus ihren Bruthöhlen hervor.
Mit gleichbleibender Geschwindigkeit folgten sie der breiten Straße, im ruhigen Verkehr der Mittagszeit nicht auffallend. Sanft zogen sich die Hügel hinab zum Fluß, von grünen Gärten und bunten Häusern gesäumt. Mühelos stiegen sie auf die unterste Straßenebene hinab, sich dem fließenden Verkehr anpassend, und erreichten nach kaum 10 Zeiteinheiten den Eingang zum Cro-myn-Park. Die Maschinen wurden langsamer, schwebten an der Cromyn-Statue vorbei. Weiter ging es an Bäumen und mannshohen Sträuchern durch den Park. Die Wege wurden naturbelassener, wie mit kleinen Kieselsteinen aufgeschüttet, die Bäume rückten näher heran. Eine Lichtung öffnete sich kurz darauf vor ihnen; sie hatten ihren Treffpunkt erreicht. Ein Gebäude, ganz anders als die gewohnten Trichterbauten, lag zur Hälfte im Boden versunken und viel Grün umwucherte die Mauern. Vor Jahren wurde es von Querans Familie für den Nachwuchs erbaut, wo sie zusammen mit Freunden ihre Freizeit gestalten und verbringen konnten.
Sie stellten ihre Maschinen auf den vorgesehenen Parkplätzen ab und marschierten den Hügel hinauf zu dem flachen, aber geräumigen Gebäude. Im abgerundeten, drei-eckigem Hof wurden sie von der restlichen Truppe erwartet und fröhlich begüßt.
„He, Uwolan, hast Du auch das Geschenk nicht vergessen?“ tönte eine rauhe, weibliche Stimme zu den Ankömmlingen hinüber.
„Natürlich, Sameu, natürlich. So vergeßlich bin ich auch wieder nicht, obgleich…“ wollte Uwolan weiter fortfahren, als er von Moramal unterbrochen wurde.
„Leute, ich habe Kerasors Maschine in der Ortung, er wird in wenigen Minuten hier sein. Versteckt das Geschenk, bis es gebraucht wird!“
So geschah es. Das Geschenk wurde außer Sichtweite gebracht und die 20 jungen Tamanari gruppierten sich unauffällig im Innenhof umher. Die anregenden Unterhaltungen übertönten das leise summende Geräusch der ankommenden Hartella.
Ein lautes „Hallo“ ließ viele verstummen und sich den Neuankömmlingen zuwenden. Kerasor erschien in Begleitung von Jakinam. Beide Arm in Arm, begrüßten jeden der Gruppe mit einem Handschlag. Damit nach einigen Minuten fertig, löste sich Kerasor vorsichtig aus den Armen seiner Partnerin, stellte sich auf den Sprecherstein in der großen Ecke und räusperte einmal laut. Die Gespräche wurden beendet, die Leute setzten sich und warteten interessiert, was Kerasor ihnen mitteilen wollte.
„Wie ihr alle wißt, ist heute mein letzter Tag hier auf Tamanar und bei Euch. Von Morgen an bin ich unterwegs und werde als erster Sohn eines regierenden Tamanarers eine arkonidische Raumakademie besuchen. So wie ich mich darauf freue, so bedenklich stimmt mich dieser Abschied. Wir werden uns nach einer langen Zeit trennen – von Jakinam, meiner Geiebten und von Euch, meinen Freunden! Wir hatten eine schöne Zeit zusammen und daß diese Augenblicke des Zusammenseins irgendwann vorüber gehen würden, war uns allen seit langem klar. Die Pflicht ruft und ich gehe auf die Akademie, andere von Euch werden im Weltraum oder auf anderen Welten unterwegs sein. Ich bin der Erste von unserer Gruppe, der geht. Ich meine, daß wir uns wieder sehen sollten. Deshalb schlage ich vor, daß auf den Tag genau in zehn Jahren, hier an diesem Ort, wir wieder zusammenkommen!“
Dieser Punkt fand Zustimmung unter allen Anwesenden, der Beifall unterbrach Kerasors Rede eine Zeit lang, bevor er weiter reden konnte.
„Also, daß wir alle einer Meinung sind, war mir klar. Da es mit der Auflösung der „Blauen Blitze“ noch etwas dauern wird, werde ich Uwolan bitten, die nächsten Tage auf euch ein waches Auge zu richten, damit keiner Unfug macht. Uwolan wird als einziger hier in Taman-Estet bleiben. Als angehender Historiker hält er Kontakt zu uns und schreibt unsere Geschichte weiter. Wenn also jemand Kontakt wünscht oder braucht, so wißt Ihr, wo er zu ereichen ist.“ Darauf hin stieg Kerasor vom Rednerstein herab, gab Uwolan die Hand und umarmte ihn.
Applaus und laute Zurufe begleiteten diese Geste. Uwolan gab Kitoran mit den Au-gen ein Zeichen. Diese holte das Paket hervor und stellte es auf den kleinen Monolithen, dem Rednerstein.
„Bevor Du mit Jakinam verschwindest, haben wir noch etwas für Dich“ begann Uwolan und drehte Kerasor zum Rednerstein hin. „Pack es aus und nimm es mit auf die Akademie! Es ist von uns allen und soll Dich immer an uns erinnern!“
„Das ist wirklich eine Überraschung“, brachte der verdutzte Kerasor noch heraus und ging auf das Paket zu. Vorsichtig hob er es an, drehte es einige Male umher, bis er den Öffnungsensor entdeckte. Sanft angetippt, legte er das Geschenk zurück auf den Stein. Die Farben der Verpackung begannen zu glühen und sie öffnete sich wie eine Blüte im Zeitraffer. Zum Vorschein kam eine original arkonidische Valora – die Rührung konnte man Kerasor ansehen, als er vorsichtig das Musikinstrument aufnahm. In seinem Gesicht erhob sich Protest, als die ersten „Musik, Musik“ Rufe erschallten, doch Kerasor unterdrückte ihn.
„Nein, ihr wollt doch nicht, daß ich Euch jetzt etwas vorspiele! Dazu bin ich viel zu unkonzentriert!“ wehrte Kerasor ab.
Doch Jakinam umfaßte seinen rechten Oberarm und sprach langsam auf ihn ein. „Mein Lieber, nach solch einem Geschenk wirst Du spielen müssen – ob du willst oder nicht! Schließlich habe ich das Geschenk mit ausgesucht und bestehe auch auf ein Lied – unser Lied!“
„Na warte, bis wir zu Hause sind, Du kleine Verräterin“ flüsterte Kerasor ihr lächelnd zu, setzte sich auf den Sprecherstein, legte sich die Valora über die Knie und hielt die Hände einige Augenblicke über das Musikinstrument.
Er konzentrierte sich, schloß die Augen, dann strichen seine Finger sanft über die beidseitg angeordneten Metallplättchen hinweg. Bei jeder Berührung erklangen viele angenehme Töne, kurz hintereinander. Kerasor probierte erst einige Takte, um sich mit dem Instrument vertraut zu machen. Dann begann er sein Spiel mit dem „Lied des Kristallprinzen“. Als dessen erste Melodien erklangen, wurde es so still, daß man das Gras hätte wachsen hören können. Es war das Lied der blauen Blitze, wie sie sich selbst nannten. Die angenehmen, harmonischen und eindringlichen Klänge verzauberten alle Zuhörer. Dem langsamen und leisen Intro folgte ein rhythmisches melodisch klingendes Musikstück, das die Zuhörer mitwippen ließ. Nach etlichen Minuten endete dieser Teil und weitere sanften Melodien folgten. Sie verzauberte nicht nur die um Kerasor sitzende Gruppe, auch andere Tamanarer, die im Park unterwegs waren, um sich zu entspannen, schlugen sie in den Bann. Sie blieben stehen oder setzten sich, um den Klängen zu lauschen, die leise irgendwo aus der Nähe heran schwangen, wie weiche, kleine Wellen in einem See.
Obwohl nicht perfekt, verzauberte Kerasor dennoch sein Publikum. Die wenigen Fehler, die ihm unterliefen, wurden nicht beachtet. Die Queran-Familie, die regierende Familie auf Tamanar, war schon immer ein Verehrer und Förderer arkonidischer und anderer Musiker gewesen. In besonderen Ehren hielten sie das Gesamtwerk eines Komponisten, den selten jemand im Imperium beachtete. Die Musikzyklen von Upoc I. des Großen, wie er auch genannt wurde! Das Lied das Kerasor gerade spielte, stammte aus dessen letzten Zyklus, dem größten dieses alten Meisters. Vor fast fünf Jahrtausenden wurde es geschaffen. „Nebelkrieg“ nannte Upoc sein letztes und längstes Werk. Vor viertausend Jahren in Vergessenheit geraten, wurden die Originale von Famakall von Tamanar wiederentdeckt. Seitdem werden sie von den Arkoniden auf Tamanar immer wieder gespielt.
Plötzlich erscheckte ein lautes Brummen den Spieler und seine Zuhörer, die Musik brach ab, die Stimung verlor sich in Augenblicken. Von vier Armbändern der Gruppe – Kerasor, Uwolan, Kitoan und Gaffaren, kam das nervenaufreibende Geräusch. Rote Lichter blinkten an ihren Armkommunikatoren. Das Alarmsignal hörte abrupt auf und die Stimme von Pacheopalan, dem Sicherheitschef von Tamanar, erklang; schneidend und aufrüttelnd.
„Sicherheitswarnung! Sicherheitswarnung! Für die Stadtbezirke Pekrab 21 bis 56! Wir haben einen „Attentäter“ auf dem Schirm. Sonderschaltung „Manar“ tritt in Kraft! Seht Euch vor!“
Als das Wort „Attentäter“ erklang, erhoben sich die jungen Tamanarer und stürmten – tausendmal geübt, den Hügel zu ihren Maschinen hinab. Die Alarmschaltung öffnete die Waffenfächer und die jungen Leute entnahmen ihnen leichte und mittelschwere Strahlwaffen. Danach verteilten sie sich in Sekunden im Gelände, Deckung suchend, ihre Blicke in der Gegend aufmerksam umherschweifend. Kerasor und Uwolan warnten nahe Passanten. die ihnen zunickten und sich schnell in Richtung der Schutzgebäude entfernten. Aus der umgebenden Stadt ertönte das Wimmern von Alarmsirenen.
„Dort oben, daß muß er sein“ rief Garwen allen zu und deutete auf einen kleinen schwarzen Punkt, der sich schnell vergrößerte. Der Fleck ähnelte einem Furub, einen der großen Vögel von Tamanar. Doch so weit in Äquatornähe wurden diese riesigen Vögel noch nie gesehen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wuchs der Vogel – oder die zum Töten programmierte Robotmaschine. Jeder Versuch, mit den Handfeuerwaffen auf die rasend schnell herabstürzende Kreatur zu schießen, schlug fehl. Auf fast jede Gefahr gedrillt, schoßen die jungen Tamanarer was die Waffen hergaben. Sie war knapp 50 Meter vom Boden entfernt, auf die Blauen Blitze zurasend, als ein Gleiter der Sicherheitsgarde über den Baumwipfeln auftauchte. Ein Röhren und ein Donnern zeugte von einem Schuß des Gleiters. Doch anstatt die Killermaschine zu zerschmelzen, explodierte sie mit einem donnernden Knall. Die umherjaulenden Metall-Splitter durchsiebten den Gleiter und brachten ihn zum Absturz.
Auch die Blauen Blitze kamen nicht ungeschoren davon. Obwohl in großer Höhe explodiert, schlugen pfeifend Metallfragmente rings um und auf die jungen Leute ein, verletzten etliche unter ihnen. Schmerzhaft waren die Wunden, Kerasor blutete aus dem Oberarm, das Gesicht ein wenig vor Schmerz verzogen. Er drehte sich um, Karmol und drei weitere Tamanarer lagen regungslos auf dem Gras und stöhnten vor Schmerzen. Die Splitter hatten sie im Brustbereich verletzt, die Wunden bluteten heftig. Bis auf neun Tamanarer, trug jeder eine kleine oder größere Verletzung davon.
Wenige Augenblicke nach der Explosion erschienen die ersten Ambulanzgleiter und landeten auf dem Rasen des Parkes. Da sah Kerasor Jakinam hinter einer Bodenwelle liegen! Mit vor Schreck geweiteten Augen stürzte er zu ihr hin.
„Kümmert Euch um die Drei dort drüben, sie scheint es am schlimmsten erwischt zu haben“ hörte Kerasor jemanden rufen. Er sah vier Sanitäter heranstürmen.
„Einen Medohelfer her zu mir, schnell“ herrschte er die Leute an. Kerasor beugte sich über die schwach atmende Jakinam. Ein Arzt reagierte und breitete seine Medogeräte auf dem Grasboden aus. Er fuhr mit einem Scanner über den Körper der Frau, gleichzeitig erschien auf dem Kleinbildschirm der ausgebreiteten Medotasche die Verletzungen und deren Schwere. Der Arzt spritze ein vorbeugendes Präparat in den Oberarm der Verletzten und rief über seinen Armband-Kom einen der Krankengleiter her. Der Bauchaufschneider heftete ein Spezialgerät auf Jakinams Brust.
„Zwei Metallsplitter stecken bei ihr im Brustkasten. Die müssen sofort operativ entfernt werden. Die Lunge hat einiges ab bekommen, aber sie wird es schaffen. Zehn vielleicht zwölf Tage, dann ist sie körperlich wieder gesund.“ Mit ruhiger Stimme teilte der Arzt dies dem neben sich wartenden Kerasor mit. Dieser nickte lautlos und folgte der Schwebebahre bis zum Medogleiter. Einer der Helfer kam heran und nahm Kerasor am gesunden Arm.
„Das hat Zeit“ wollte Kerasor kraftlos abwinken, doch der medizinische Helfer ließ sich nicht abwimmeln.
Kerasor lehnte an den nächsten Baum und sah dem Gleiter nach, der Jakinam in die Poran-Klinik brachte. Momentan könne er sie nicht begleiten, frühestens in zwei Stunden, nach der Operation, teilte ihm der behandelnde Arzt mit.
Pacheopalan, der Sicherheitschef der planetaren Abwehr, entstieg seinem Spezialgleiter, der soeben auf dem Boden aufgesetzt hatte und kam auf Kerasor zu.
„Da hattet ihr aber noch mal großes Glück“ sprach er Kerasor an, einen Blick über die Verletzten am Boden werfend. „Gut, nur Verletzte, keine Toten!“
Kerasor wollte diesem sarkastischen Tonfall entgegensprechen, ließ es aber sein, als er in Pacheopalans Augen den Schmerz dieses Ereignisses sah. Es war die Art der Charchanas. Nach außen eine Schale, hart wie Arkonstahl, im Inneren aber einen sehr weichen Kern
„Abwarten, was die Ärzte sagen, wie es Karmol, Ottagahl, Jamina und Faghard geht. Dann erst bin ich beruhigt!
Der Sanitäter sprühte noch eine Schutzverband auf Kerasors verletzen Arm und Kerasor sich einen Vorwurf nicht verkneifen.
„Das hat aber mächtig lange gedauert, bis ihr den Attentäter entdeckt hattet.“
„Tut mir Leid, Junge, tut mir leid. Aber dieser Attentäter, eigentlich waren es zwei – ein Kolmer und ein Roboter, war so perfekt getarnt, daß wir keinerlei verräterische Impulse empfangen konnten. Deren Tarnung war fast perfekt und hätten wir sie nicht entdeckt, käme einer der Gardisten nicht auf den Gedanken, daß Furubs nie soweit nach Süden fliegen – es hätte eine Katastrophe gegeben. So wie es aussah, war das Mistding auf euch jungen Kerle vom Queran-Klan geeicht. Es stürzte direkt auf euren Standort zu.“
„Und der andere Terrorist, habt ihr den wenigstens schon?“ wollte Kerasor noch wissen.
„Ja! Vor zwei Stunden erwischten wir ihn, als er in den Palast eindringen konnte. Leider hat er bei seiner Entdeckung eine Bombe gezündet. Außer dem Terroristen und einigen zerstörten Räumen im Palast gab es keine weiteren Schäden!“ Pacheopalan unterbrach sein Gespräch mit dem jungen Queran und dirigierte seine Spezialisten, die mit speziellen Suchgeräten und -robotern die Fragmente in der Umgebung zusammensuchten.
„Wie geht es der Besatzung von Gleiter Zortor-4?“ erkundigte er sich über Interkom. Kerasor konnte die leise Antwort hören.
„Wir haben sie geborgen, alle vier Mann müssen ins Hospital, haben schwere Kopf- und Gesichtsverletzungen abbekommen, getötet wurde niemand.“
Pacheopalan wandte sich wieder seinem Zögling zu. „Das war nun das erste Attentat auf Dich und hast es überlebt! Wir wissen noch nicht, wer dahinter steckt. Es kämen etliche Familien in Frage, die es nicht gerne sehen, daß dieser Sektor von Kolonial-Arkoniden regiert wird! Es kann auch mit Deinem Besuch der Akademie von Varynkor zusammenhängen. Ich werde dich und den Akademie-Leiter von unseren Nachforschungen in Kenntnis setzen. Du siehst, daß Du ab sofort immer mit einen Anschlag auf Deine Person rechnen mußt, egal wie sicher dir die Umgebung erscheint. Dieses hier wird sich noch oft wiederholen, meist aber nicht so glimpflich ausgehend. Kann ich dich noch mitnehmen?“
„Nicht nötig“ erwiederte der junge Tamanarer. Ich bin mit meiner Hartella hier und fahre anschließend in die Klinik. Sehen wir uns noch, bevor ich abreise?“
„Weiß ich noch nicht – aber mach’s dennoch gut!“ Damit reichte ihm Pacheopalan die Hand. Gedanken an Jakinam nachhängend, ging Kerasor in das Freizeithaus zurück und holte das Musikinstrument. Er verabschiedete sich noch von den Blauen Blitzen. Für alle war dieser Anschlag das erste schwerwiegende Ereignis und dementsprechend geschockt, herrschte Stille in der Runde. Er wandte sich an Uwolan und Harrasch.
„Ich denke, es ist besser, wir sollten alle nach Hause gehen und dieses Attentat erst mal verkraften. Es war für uns alle ein schlimmes Ereignis und es betrübt mich, daß für mich dieser Abschied so unfreundlich endete. Ich bin sehr froh, daß niemand getötet wurde.“ Zustimmend nickten beide Tamanarer.
„Ich werde nach Hause fliegen und mich einige Stunden hinlegen“ murmelte Uwolan zurück.
„Auch ich werde mich erst mal sammeln und den restlichen Tag so schnell wie möglich hinter mich bringen“ kam von Harrasch. „Gut, Kerasor, ich wünsche dir trotzdem alles Gute für die Zeit auf der Akademie und laß von Dir hören!“
Damit drückte er Kerasors Hand, sich an einem Lächeln versuchend. Danach trennten sich ihre Wege. Kerasor nahm die Valora, verstaute sie in seiner Maschine und flog nach Hause. Seine Gedanken kreisten um Jakinam, während er zurück in seinen Wohnbereich im Trichter des Regierungspalastes zurückkehrte. Er packte das Musikinstrument zu den Sachen, die er mit zur Akademie nehmen wollte. Noch 6 Stunden und erste Zweifel tauchten in ihm auf, ob jetzt der geeignete Augenblick wäre, Jakinam und Tamanar zu verlassen, nur um auf diese seltsame Akademie zu gehen. Seine Freundin würde ihn jetzt und hier brauchen, sehr brauchen. Zwar hatten sie in der Poran-Klinik Spitzenleute in der Psychiatrie, aber der Liebsten sollte man in diesen Momenten beistehen.
Solche und andere Gedanken ließen Kerasor die nächste Stunde nicht zur Ruhe kommen. Schließlich war er bereit, seine Abreise zu verschieben und die nächsten Tage bei Jakinam zu verbringen. Er würde erst aufbrechen, wenn sie wieder gesund war.
Kerasor wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich ein Besucher an der Eingangstür meldete. Er öffnete über Fernbedienung. Queran kam herein und blieb vor Kerasor stehen!
Beide sahen sich lange in die Augen, dann umarmte sie sich! Behutsam, so wie sein Vater immer zu ihm war, unterhielten sie sich über die Ereignisse der letzten Stunden. Kerasor teilte ihm seinen Entschluß mit, erst nach Jakinams Genesung Tamanar zu verlassen!
„In jeder anderen Situation würde ich Dir Recht geben, mein Sohn, aber nicht in dieser! Du mußt heute nach Varynkor aufbrechen! Es war sowieso recht schwierig, die Schulleitung zu überzeugen, Dich Wochen nach dem Schulbeginn noch aufzunehmen. Aber es sind noch andere Leute dabei, die verspätet ankommen! Jakinam wird leider auf Dich verzichten müssen! Ich weiß, wie schwer das Dir und Ihr fallen muß, aber es gibt keinen anderen Weg!“
Queran blieb noch zwanzig Zeiteinheiten, dann hatte er Kerasor überzeugt, auf die Akademie zu gehen. Kerasor aktivierte den Holoprojektor und er verbrachte zwei Stunden, in denen er Jakinam alles zu erklären versuchte, ihr sagte, daß er sie liebe und noch vieles mehr, was Verliebte sich zu sagen hatten.
Die Sonne neigte sich dem Horizont und Kerasor bestellte sich einen Gleiter. Vor-sichtig verstaute er das Gepäck im Gleiter, anschließend flogen sie zur Panol-Klinik. Jakinams Operation war erfolgreich abgeschlossen, aber sie lag noch für die restliche Nacht in der Regenerierungskammer im Tiefschlaf. Etliche Minuten harrte er vor der Kammer aus, doch sie wachte nicht auf. Er postierte den Holowürfel so im Zimmer, daß sie ihn nicht übersehen konnte, stellte zwei Sträuße mit Fistal-Blumen dazu. Mit einem Ruck drehte Kerasor sich schließlich um und verließ das Hospital.
Wortlos ließ er sich zum Raumhafen bringen, wo inzwischen die MANATO gelandet war. Kerasor begab sich in den Aufnahmebereich und meldete sich an. Nach einer halben Stunde Wartezeit, die ihm wesentlich länger vorkam, wurden die Passagiere an Bord gelassen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Jakinam zurück. Was sie wohl sagen würde, wenn sie erwachte, was sie tun würde, wenn sie seine Nachricht sah.
Schweren Herzens bezog er die ihm zugewiesene Kabine, legte sich auf das Bett. Den vorbereiteten Begrüßungscocktail rührte er nicht an. Als der Passagierraumer startete, sah er zu dem Panoramaschirm, wo seine Heimatwelt immer kleiner und kleiner wurde. Eine grün-blaue Kugel – das war Tamanar. Der orangegrüne Mond kam dazu. So schwer wie heute war ihm der Abschied von der Heimatwelt noch nie gefallen. Der Planet wurde immer kleiner, Kerasors Augen schlossen sich im gleichen Maß, wie Tamanar aus der Sichtweite verschwand. Er registrierte dessen Verschwinden nicht mehr. Friedlich war er eingeschlummert. Von den Sorgen im Moment befreit, ruhte er sich aus. Die Zukunft wartete auf ihn, seine Träume würden ihn auf sie vorbereiten.
Ende