Begegnungen (Tartor 14.597 d. A.) – Teil 1
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, ging Charrut zu einem versteckten Fach am Schreibtisch im Aufenthaltsraum und entnahm ihm einen Handstrahler, den er in den Halfter am Waffengurt steckte. Als er zurückkam, fragte er: „Kann ich so gehen?“
Onista sah ihn nochmals kritisch an und sagte: „Passt“.
Gemeinsam verließen sie ihr Wohntrakt, gingen zum Antigrav-Schacht und ließen sich zum Gleiterdeck empor tragen. Nachdem sie einen Gleiter des Khasurns, wieder waren vier Arbtans als Leibgarde dabei, bestiegen hatten, gab Charrut als Ziel den Raumhafen von Yephroth-Etset an und startete.
Während des Fluges lehnte sich Onista an ihn an und er spürte ihre Wärme, als er seinen Arm um sie legte. Seine Gedanken eilten zurück zum gestrigen Prago, als sie zum Nenin-See geflogen waren. Auch dort hatte er ihre körperliche Nähe gespürt gehabt, als sie beide nach einiger Zeit aus dem kalten, erfrischenden Wasser gestiegen waren und Onista trotz der Wärme der Sonne am Anfang gefröstelt hatte. Sie hatte sich an ihn angeschmiegt und er hatte sie leidenschaftlich umarmt und geküsst. Er hatte ihre Weiblichkeit gespürt, ihre Liebe zu ihm, etwas, was er als Kind und Jugendlicher so nie erfahren hatte. Mochte sein Vater in alten Denkschemata gefangen sein, er wusste, an wen er sein Herz verloren hatte. ‚Ja, ich bin ein glücklicher Mann‘ sagte sich Charrut und ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht…
* * *
„…schade, dass Sie doch nicht an unseren Waren interessiert sind“, sagte der Arki, der ihr gegenübersaß.
„Vielleicht das nächste Mal“ erwiderte sie und stand auf. Auch der Arki, ein Mann von ungefähr 60 Vothars, der sich als Unar Theron vorgestellt hatte, erhob sich und musterte sie kurz.
„Dürfte ich sie vielleicht trotzdem zu einem Essen einladen? Heute Abend?“
Sie wusste sofort, worauf der Mann hinaus wollte. Etwas zu viel Wenas oder anderer Alkohol nachdem Essen, vernebelte die Sinne … Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie sich vielleicht darauf eingelassen, zumal der Arki einigermaßen stattlich gebaut war, aber nicht jetzt. Heute musste sie ihren Auftrag erledigen und außerdem wollte sie nicht, dass sich irgendjemand intensiv an sie erinnerte.
„Tut mir leid, ich habe noch andere unaufschiebbare Termine“, erwiderte sie, verneigte sich leicht, drehte sich um und ging in Richtung Antigravschacht. Dort ließ sie sich vom Antigravfeld zum Parkdeck hochtragen und bestieg dann ihren Mietgleiter.
Nachdem sie dem Autopiloten angewiesen hatte, mehrere Khasurns ansässiger Händler anzufliegen, dort aber nicht zu landen, sondern weiter zu fliegen, würde er sie zu ihrem Hotel bringen. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sie musste auf der Hut sein.
Als sie vor ihren angemieteten Wohnraum stand, sah sie sich unauffällig um und als sie niemanden entdeckte, holte sie aus ihrer Tasche einen handlichen Scanner heraus. Danach aktivierte sie den Scanner. Nach zwei Palbertontas signalisierte der Scanner, dass er keine Mikrospionsonden gefunden hatte. Sie atmete erleichtert auf, öffnete die Tür zu ihrem Wohnraum, trat ein und schloß die Tür hinter sich. Sie führte immer diesen Test durch, und es war für sie immer beruhigend zu wissen, dass niemand während ihrer Abwesentheit ihre Unterkunft verwanzt hatte.
Sie schaltete den Scanner aus und verstaute ihn in ihrer Tasche. Sie ging in den Schlafraum und zog ihren Einsatzkoffer unter dem Bett hervor. Sie legte ihn auf dem Bett ab und öffnete ihn. Aus dem Garderobenschrank holte sie ihren Einsatzanzug hervor und betrachtete ihn: ein leichter Anzug in schwarz, der antireflexionsbeschichtet war und sich im Einsatz eng an die Haut schmiegte. Sogar eine Kapuze war Bestandteil des Anzugs, damit die Haare nicht sichtbar waren. Sie faltete ihn zusammen und legte ihn neben den Einsatzkoffer, danach holte sie die passenden Handschuhe und Stiefel, auch alles aus demselben Material wie der Anzug. Sie legte die Handschuhe und Stiefel auf den Einsatzanzug und setzte sich auf das Bett. Aus dem Einsatzkoffer entnahm sie eine Spezialpositronik und aktivierte sie. Die Spezialpositronik signalisierte ihr, dass der Virus einsatzbereit war. Ein Lächeln entstand auf ihrem Gesicht. ‚Ja, der Positronikvirus war von besonderer Güte: schnell, effizient und passte sich an besondere Schutzmechanismen des Zielsystems an. ‘99,999% Erfolgsgarantie bei einer maximalen Verzögerung von drei Palbertontas signalisierte die Spezialpositronik auf einem Display – ‚das sollte reichen‘. Sie setzte einen Standardspeicherkristall in die Positronik ein und überspielte den Positronikvirus auf den Speicherkristall. Anschließend entnahm sie dem Einsatzkoffer eine größere Einheit und faltete sie auf. Zum Vorschein kamen mehrere biologisch-medizinische Komponenten, eine kleine Fernsteuerungspositronik, eine Fernsteuerungsmaske sowie eine durchsichtige Schatulle mit drei Robotinsekten aus swoon’scher Fertigung, die zustechen konnten und die fast auf jeder Welt des Tai Ark’Tussan anzutreffen waren. Sie entnahm die Robotinsekten, öffnete das Fläschen mit dem Spezialgift und gab etwas in eine Kunststoffschale. Danach aktivierte sie die Fernsteuerungspositronik.
„Positronik, aktiviere die Robots, fliege sie zu der 0,5 quars entfernten Kunststoffschale und befülle den roboteigenen Transportbehälter mit der in der Kunsttstoffschale vorhandenen Flüssigkeit und deponiere die Robots anschließend im Aufbewahrungsetui.“
Während sie beobachtete, wie die Robotinsekten nacheinander aktiviert wurden, zu der Kunststoffschale flogen und dort einige Augenblicke verharrten, um die Flüssigkeit aufzunehmen, dachte sie nach. Es war nicht leicht gewesen, den Aufenthaltsort des Kindes herauszufinden. Aber durch einen unbemerkten Einbruch in das Büro dieser Sidona Ferinei und mit Hilfe ihrer Spezialpositronik konnte sie zahlreiche Sicherheitssperren in deren Positronik überwinden und hatte so den COM-Anschluß dieser Amme gefunden. Danach war es ein leichtes, den Ort zu finden, wo das Kind lebte. Jeden Prago hatte sie sowohl Sidona Ferinei als auch das Kind mit ihrer Amme beobachtet und so deren Tagesabläufe herauszufinden. Sie wusste mittlerweile, wann Sidona Ferinei zu ihrem Büro flog und wann sie es verließ. Genauso wusste sie, wann die Amme mit dem Kind zu dem Spielplatz ging, wie lange sie dort blieben und welches der dort vorhandenen Geräte das Kind gerne benutzte.
„Auftrag ausgeführt!“ erklang die Stimme der Fernsteuerungspositronik und riß sie damit aus ihren Überlegungen.
Zusammen mit dem Speicherkristall, der Fernsteuerungspositronik und der Fernsteuerungsmaske verstaute sie das Aufbewahrungsetui in einer kleinen Transporttasche. Sie warf einen Blick auf ihren Vottan. Allerhöchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die Amme mit dem Kind ihrer Zielperson Sidona Ferinei würde bald die Wohnung verlassen und auf den Spielplatz gehen, wie jeden Nachmittag.
Sie zog den Einsatzanzug an, der sich eng an ihre Haut anschmiegte und darüber einen normalen Freizeitanzug. Anschließend verstaute sie noch die Stiefel und Handschuhe des Einsatzanzugs in die Transporttasche und verließ ihren Wohnraum.
Mit dem Mietgleiter flog sie zu einem Wohnkhasurn, der direkt neben dem Spielplatz angrenzte und landete dort auf dem Gleiterdeck. Nach der Landung holte sie die drei Robotinsekten hervor, setzte sich die Fernsteuerungsmaske auf und aktivierte die Insekten. Sie öffnete kurz das Schott vom Gleiter und steuerte die Insekten zum Spielplatz vom Gleiter aus. Sie steuerte alle drei Insekten zu unterschiedlichen Zielen und deponierte sie dort nacheinander. Im Parallelmodus aller drei Insekten hatte sie eine hervorragenden Überblick über den Spielplatz, der wie immer in den Pragos, wo sie diesen beobachtet hatte, gut besucht war. Viele Kinder spielten dort, die meisten zwischen zwei und sechs Tai-Vothanii, während ihre Mütter oder Zugehfrauen sie dabei beobachteten. Sie musste nicht lange warten, da erkannte sie die Frau mit dem Zielobjekt, wie sie das Spielzentrum betraten. Das Zielobjekt, das annähernd vier Tai-Vothanii alt war, rannte quer über den Spielplatz und ging zu ihrem Lieblingsspiel, einer positronisch gesteuerten Rutsche, die immer wieder die Bahn änderte. Das Zielobjekt stellte sich hinter eine Reihe ungeduldig wartender Kinder an. Als es an der Reihe war, warf sich das Zielobjekt voller Vorfreude aufschreiend in ein Prallfeld und ließ sich von der Rutsche durch die Luft führen, ganz so, als wenn es selber fliegen könnte. Währenddessen war die Amme mit anderen Arkiifrauen ins Gespräch gekommen und beobachtete nur noch nebenbei das Zielobjekt.
Sie wartete. Das Zielobjekte würde jetzt viele Gerätschaften verwenden, bis es etwas außer Atem sein würde. Dann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen. Das Gift würde, sobald es injiziert war, sich durch den hochgeputschten Kreislauf rasch verteilen und so viel schneller wirken. Sie musste ungefähr 20 Palbertontas warten, dann sah sie, wie das Zielobjekt zur Amme rannte und sich etwas zu trinken geben ließ, bevor es zu einem anderen Spielgerät ging. ‚Der Zeitpunkt ist gekommen‘, sagte sie sich und steuerte ein Robotinsekt, welches bisher an einem Ast eines Busches ‚gesessen‘ hatte, in einigen Quars Höhe Richtung des Zielobjektes. Die anderen beiden Insekten zeigten mit ihren Kameras keine verdächtigen Aktionen. Das Zielobjekt beugte sich gerade nach unten, um etwas am Boden anzusehen, als sie das Robotinsekt in der Nähe der Halsschlagader kurz landen und zustechen ließ, bevor sie es wieder startete. Sie dirigierte das Insekt zu einem Baum. Währenddessen beobachtete sie das Zielobjekt mit dem einem der beiden anderen Robotinsekten. Sie sah, wie das Zielobjekt anfing zu weinen und die eine Hand am Hals hielt. Sie beobachtete weiter und wartete darauf, dass die Wirkung des Giftes einsetzte. Mit dem anderen Insekt sah sie, wie die Amme herüberblickte und dann schnell zu dem Zielobjekt hinlief. Danach überstürzten sich die Ereignisse. Immer mehr Erwachsene kamen zu der Frau, während das Zielobjekt die ersten Anzeichen des Giftes zeigte: aschfahles Gesicht, Atemnot und anfing zu torkeln. Als sie mit der Fernsteuerungsmaske sah, wie eine der vielen Arkiifrauen ihr Armbandkommunikator zum Mund führte und vermutlich medizinische Hilfe anforderte, war es für sie ein Zeichen, die Aktion als erfolgreich anzusehen und die Robotinsekten zurück zu holen.
Nach kurzer Zeit waren die Robotinsekten wieder beim Gleiter und sie ließ sie herein. Sie warf einen Blick auf ihre Votta und sah, das die Aktion ungefähr dreißig Palbertontas gedauert hatte: es war jetzt 10-05 Vot. Ihr erstes Zielobjekt war vermutlich jetzt bereits tot. Teil eins des Auftrags war damit erfüllt. Jetzt musste sie sich noch um das zweite Zielobjekt kümmern.
* * *
Nachdem Onista und Charrut wieder in der Zubringerhalle des Raumhafens von Varynkor-Etset angekommen waren, wurden sie überrascht. Tranthar und Kerasor erwartet sie. Sie begrüßten Charrut, als wenn sie ihn mehrere Berlenprags nicht gesehen hätten. Danach deutete Charrut auf Onista und sagte: „Tranthar, Kerasor, darf ich euch Onista vorstellen?“
Kerasor reichte Onista die Hand und meinte: „Wir kennen uns bereits. Ich hatte vor einiger Zeit eine Mitteilung von Charrut durchgegeben.“ Onista nickte ihm freundlich zu und erwiderte: „Stimmt. Ich danke euch nochmals dafür!“. Auch Tranthar begrüßte sie, wenn auch etwas reservierter. Schließlich waren Charrut und Auris über viele Tai-Vothanii eng befreundet gewesen und kurz nach Charruts Trennung von Auris trat Onista auf den Plan. Tranthar konnte es eigentlich noch immer nicht begreifen, warum sich Charrut von Auris getrennt hatte. Für ihn waren sie das ideale Paar gewesen, beide hatten sich aus seiner Sicht hervorragend ergänzt. Aber vielleicht war er auch nur voreingenommen, denn er bewunderte Auris sehr und Charrut war ‚nur‘ ein Freund.
„Was macht ihr denn hier?“ fragte Charrut und blickte fragend zu Kerasor und Tranthar.
„Wir wussten ja, wann ihr wieder ankommen würdet und dachten uns, es wäre eine gute Gelegenheit, einmal in Varynkor-Etset gemeinsam Essen zu gehen. Aber wenn ihr bereits anderwertig beschäftigt seid…“ erklärte Kerasor mit einem süffisanten Gesichtsausdruck.
Bevor Charrut antworten konnte, erwiderte Onista: „Gerne. Dann lerne ich auch gleich Charruts beste Freunde kennen. Aber vorher müssen wir noch kurz zu meiner Schwester. Ich hoffe, es stellt für euch kein Problem dar?“
Tranthar schüttelte den Kopf und meinte: „Natürlich nicht!“
„Also gut, dann lasst uns aufbrechen. Lasst uns ein Gleitertaxi nehmen.“, erwiderte Charrut und gemeinsam setzte sich die Gruppe in Bewegung in Richtung Ausgang.