Begegnungen (Tartor 14.597 d. A.) – Teil 1
Charrut und Anowi nahmen wieder Aufstellung und verneigten sich. Und wieder griff sie überraschend schnell an. Die Schläge der Dagor-Stöcke hallten laut durch den Trainingsraum, als sie aufeinanderprallten. Wieder und wieder stürmte Anowi heran, ließ ihren Dagor-Stock wie ein Trommelwirbel auf Charrut einschlagen. Charrut fand keine Zeit, selbst aktiv zu werden. Seine Handgelenke schmerzten schon von den heftigen Treffern auf seinem Dagor-Stock, die seinen ganzen Körper erschütterten, während er dabei versuchte, keinen Körpertreffer zu erhalten; das würde vermutlich sein Ende sein. Nach einigen Palbertontas legte Anowi zum Glück eine kurze Pause ein und fixierte ihn. Er vermutete, dass sie ihre Taktik ändern wollte, um ihn endgültig auszuschalten. Aber sie überraschte ihn. „Es ist genug“, sagte sie. Und in Richtung Dor ter’len Gelin rief sie mit Anerkennung in der Stimme: „Sie haben gute Arbeit geleistet, Dor! Nicht viele halten diese Stockangriffe stand!“ Dann drehte sie sich abrupt um und verschwand durch die Tür.
Charrut stand überrascht da, noch immer den Dagor-Stock in Abwehrhaltung gehoben und blickte Dor etwas hilflos an. ‚War es das schon?‘ ging es ihm durch den Kopf. ‚Einfach so vorbei?‘.
Dor ter’len Gelin kam auf ihn zu und nahm den Dagor-Stock von Charrut in Empfang.
„Sie können Stolz auf sich sein, Charrut del Harkon. Das war ein ausgesprochenes Kompliment von Anowi Vrey!“
Mittlerweile hatte Charrut seine Überraschung überwunden.
Er verneigte sich gegenüber Dor und sagte: „Ich danke Ihnen, Ausbilder Dor ter’len Gelin, dass Sie mir die Gelegenheit boten, meine Dagor-Kampftechnik zu verbessern!“
Dor nickte leicht und erwiderte: „Damit ist das ‚Sondertraining‘ abgeschlossen. Sie dürfen wieder Ihren normalen Tagesablauf nachgehen!“.
Charrut bedankte sich nochmals und verließ den Trainingsraum in Richtung seines Wohnraums. Nachdem er sich frisch geduscht und angekleidet hatte, setzte er sich vor das Positronik-Terminal und ließ seinen Status überprüfen. Nach wenigen Augenblicken wusste er: seine Ausgangs- und Kommunikationssperre war aufgehoben. Er wählte gleich die Nummer von Onistas Wohnung, aber nach zwei Palbertontas meldete sich nur die Wohnungs-KSOL, die ihm mitteilte, das Onista nicht anwesend war. Nachdem ihn die Wohnungs-KSOL gefragt hatte, ob er eine Nachricht hinterlassen wollte und er zugestimmt hatte, sagte er: „Hallo Oni, schade, dass du nicht zu erreichen bist. Meine Ausgangssperre ist vorbei und wir können uns endlich wieder treffen. Allerdings…“, er warf einen Blick auf seine Votta, „…heute leider nicht mehr, dafür ist es bereits zu spät. Aber wenn du dich morgen meldest, könnte ich zu dir kommen. Bis dann. Ich liebe dich!“. Nachdem die Verbindung getrennt war, überlegte er, dass er seine Freunde in letzter Zeit nur noch kurz beim gemeinsamen Frühstück und während der Schulungstontas gesehen hatte. Da blieb nicht viel Zeit, um über privates zu reden. Er stand auf und ging aus seinem Wohnraum hinüber in ihren gemeinsamen Wohnbereich. Vielleicht traf er ja den einen oder anderen aus seiner Gruppe…
* * *
Charrut wurde übergangslos wach. Was hatte ihn geweckt? Während er im Bett lag und darüber nachdachte, erklang das Rufsignal seines Positronik-Terminals. Er warf einen Blick auf seine Vottan, die direkt neben seinem Bett lag und stellte fest, das er eigentlich noch eine Tonta hätte schlafen können. ‚Wer konnte das sein, der ihn so früh aufweckte?. Eigentlich nur eine Person‘ ging es ihm durch den Kopf. Er wollte mit einem Ruck aufstehen, wie er es sonst immer tat, wenn er sich ausgeruht fühlte, musste sich dann aber wegen der Schmerzen, die er noch vom ‚Sondertraining‘ überall am Körper spürte, mühsam vom Bett erheben. Mit schmerzverzogenem Gesicht schleppte er sich, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, langsam zu seinem Positronik-Terminal. Noch bevor er sich in den Stuhl davor setzte, sagte er: „Positronik, Gespräch annehmen!“.
Das Trivid-Feld erhellte sich und wie er vermutet hatte, war Onista zu sehen. „Hallo, mein Schatz, so früh schon wach?“ fragte Charrut und gähnte kurz hinter vorgehaltener Hand.
„Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Aber ich komme gerade vom Einsatz nachhause und wollte nicht länger warten, bis wir uns wiedersehen“, sagte Onista, während sie verschmitzt in die Aufnahmeoptik lächelte.
„Kein Problem“ sagte Charrut noch müde.
„Können wir uns wieder treffen? Ist dein ‚Sondertraining‘ vorbei?“
Nickend bestätigte Charrut. „Ja, das ‚Sondertraining‘ habe ich erfolgreich absolviert, wenn mir auch noch alle Muskeln und Knochen wehtun. Aber dafür habe ich heute nach der Schulung, sozusagen als Belobigung für das erfolgreich absolvierte Sondertraining, eine Sonderausgangserlaubnis erhalten. Du weißt ja selbst, dass es diese sonst nur zu jedem zweiten Berlenpragende gibt. Hast du heute Nachmittag Zeit? Gegen 14 Vot ist der Unterricht vorbei und dann könnte ich zu dir kommen.“ Onistas Lächeln wurde breiter. „Ich freue mich schon lange darauf, wieder mit dir zusammen zu sein. Ich bin zuhause und den Zugangscode kennst du ja noch, oder?“
Auch Charrut grinste, während er antwortete: „Wie könnte ich ihn vergessen? Dann sehen wir uns später, Neentin.
„Bis später“ erwiderte sie lächelnd und winkte kurz in die Aufnahmeoptik, bevor sie die Verbindung unterbrach.
Als die Verbindung beendet wurde, erlosch das Positronik-Terminal. Trotz seiner Müdigkeit stand er auf und und sah sich selbst als Spiegelbild in der Zimmertür und stellte fest, dass sein Gesichtsausdruck genauso fröhlich wirkte wie der von Onista eben. Er schüttelte den Kopf und sagte sich selbst, dass er ein verliebter Narr sei.
An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Er beschloss, sich schon jetzt fertig zu machen und etwas früher als sonst in die Messe zu gehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er heute mehr K‘amana benötigen würde als sonst…
* * *
Als Charrut am Nachmittag an Onistas Wohnung den Zugangscode eingab und die Tür sich öffnete, musste sie es gehört haben. Er schloss gerade die Eingangstür hinter sich, als sie aus dem Aufenthaltsraum gelaufen kam und ihm stürmisch in die Arme fiel. Leidenschaftlich küssten sie sich Palbertontalang und als sie von einander abließen, war Charruts Uniform-Jacke geöffnet und Onista zog Charrut mit einem verlockendem Blick und der Hand am Gürtel hinter sich her in Richtung Schlafzimmer…
* * *
Ungefähr eine halbe Tonta später saßen sie im Aufenthaltsraum und aßen gemeinsam zu Abend. Während des Essens sprachen sie über ihre Erlebnisse der letzten Berlenprags; von Charruts ‚Sondertraining‘ und die Prüfung durch Anowi Vrey und Onistas Einsatz in der Systemflotte. Onista erzählte, dass ihr Einsatz sie gerade einmal an die äußere Grenze des Harrekatam-Systems gebracht hatte und dessen Höhepunkt ein Trainingseinsatz war, bei dem es darum ging, ein auftauchendes feindliches Raumschiff zu verfolgen und zu stellen. Am Ende ihrer gegenseitigen Erzählungen sah Charrut Onista an und sagte: „Ich hatte im letzten Berlenprag zwischen den Trainingseinheiten etwas Zeit gehabt, über uns nachzudenken. Was hältst du davon, mit mir einmal nach Harkon, also zu mir nach Hause zu fliegen?“
Onista blickte Charrut erst überrascht an, dann stahl sich ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.
„Ich hätte nicht geglaubt, dass du mich das jetzt schon fragst, aber ja, ich würde mich riesig freuen. Und hast du dir schon überlegt, wann?“
„Wir haben immer einige Pragos am Ende des Vothans frei, bevor es im Rahmen der Ausbildung in einen neuen Einsatz geht. Also müssten wir jetzt die kommenden Pragos freibekommen“
„Hmm, ich kann jetzt noch nicht fest zusagen. Ich muss erst mit meinem Vorgesetzten sprechen, ob er mir einige Pragos Urlaub gewährt! Wie viele Pragos müsste ich denn beantragen?“
Charrut überlegte kurz bevor er antwortete: „Nun, jeweils ein Prago hin und zurück und vielleicht drei Pragos Aufenthalt auf Harkon, also fünf Pragos.
Onista sah Charrut an und erwiderte: „Fünf Pragos! Ich glaube nicht, das ich fünf Pragos Urlaub erhalte. Aber ich werde es versuchen.“
Onista machte eine Pause und fragte dann: „Was wird dein Vater sagen? Ich bin nur eine Essoya, nur eine aus dem einfachen Volk. Wird er nicht dagegen sein?“
Charrut nickte leicht und erwiderte: „Vermutlich. Er wird einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ich muss den richtigen Augenblick abpassen, es ihm sagen, wenn er in guter Stimmung ist“.
„Und wenn er trotzdem gegen unsere Beziehung ist?“
Charrut dachte nach, bevor er antwortete: „Er wird sich damit abfinden müssen! Ich bin nicht mehr der unerfahrene junge Mann von früher. Ich weiß, dass ich in meiner Jugend vieles Falsch gemacht habe, oft über die Stränge geschlagen habe. Aber die letzten Vothars hier auf der Faehrl haben mich verändert. Heute weiß ich, wo mein Platz ist, wo ich hin will, was ich erreichen will.“
Onista sah Charrut interessiert an und fragte: „Und was willst du erreichen?“
Charrut rang mit sich, ob er Onista es bereits jetzt sagen sollte. Es war sein Wunsch, sein Ziel, was er sich gesteckt hatte, dass er in seinem Leben erreichen wollte. Nach einigen Augenblicken sagte er: „Dafür ist es noch zu früh. Es muss dir momentan reichen, wenn ich sage, dass es was mit dem Thi Than zu tun hat. Aber was ich will…“ Charrut beugte sich vor, um seine linke Hand an Onistas rechte Wange zu legen, „…bist du, Neentin . Ich liebe dich!“
Onista stand auf, ging um den Tisch herum und setzte sich auf Charruts Knie.
„Ich liebe dich auch!“ flüsterte Onista dicht vor Charruts Gesicht. Langsam küssten sie sich, bis daraus Leidenschaft wurde…
* * *
Onistas Gesuch um fünf Pragos Urlaub war, um einen Prago reduziert, genehmigt worden. Sie hatten vereinbart, dass beide ihr Reisegepäck vom Gepäckservice des Raumhafens abholen lassen würden, während sich Charrut um die Flugbuchungen kümmern würde. Ihr Flug, mit Zwischenstopp auf Harkon, fand am 26. Prago to Tarman statt.
* * *