Begegnungen (Tartor 14.597 d. A.) – Teil 1
„Nur einer, Zdhopanda, und es scheint keine schwerwiegende Verletzung zu sein.“
„Also gut. Schicken Sie die Akademiesicherheit hin, damit diese ihn zurückbringen. Ich will ihn so schnell wie möglich sprechen, vorher soll sich aber nochmals ein Mediker seine Verletzung ansehen. Und stellen sie mir alle relevanten Informationen von diesem Thos’athor zusammen“ Jewon rieb sich vor Müdigkeit die Augen. Nach einem kurzen Augenblick hob er den Kopf und fragte: „Hat sich der Kampf wenigstens gelohnt? Hat er gewonnen?“
Anowi drehte sich kurz vom Monitor weg, und als sie ihn wieder ansah, meinte sie: „Ich würde es als unentschieden interpretieren, Zdhopanda“.
Jewons Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Sobald er da ist, schicken Sie ihn gleich zu mir“. Mit diesen Worten beendete Jewon de’len Carnat das Monitorgespräch mit Anowi.
Er warf einen Blick auf sein Vot. Wieder einmal würde sein Wunsch, pünktlich den Dienst zu beenden, unerfüllbar sein.
* * *
Als Charrut in das Büro von Jewon de’len Carnat trat, sah er diesen hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er spürte den fixierenden Blick Carnats, als er die Tür schloss, vor den Schreibtisch trat und die rituelle Begrüßungsformel aufsagte. Er fühlte, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Hatte er doch schon zweimal eine unliebsame Begegnung mit Jewon de’len Carnat hinter sich. Und jedes Mal fühlte er sich an seine Kindheit erinnert, ganz so, als hätte er die Prügelstrafe erhalten. Und jetzt sah ihn der Ausbildungsleiter wieder mit seinen eiskalten blauen Augen an und der grimmige Ausdruck seines kantigen Gesichts versprach Ärger.
„Mir liegt der Bericht des Sicherheitsdienstes von Varynkor-Etset vor. Was haben Sie dazu zu sagen, Ti’chor Charrut?“
„Ich habe das Leben einer Frau und mein eigenes verteidigt, Zdhopanda“ erwiderte Charrut.
„Das ist nicht der springende Punkt, Ti’chor. Wissen Sie, was der Bericht aussagt, Ti’chor? Er sagt aus, dass Ihre Ausbildung noch immer zu wünschen übrig lässt. Sie haben zugelassen, dass Ihnen ein Fremder mit einem Kampfmesser eine Wunde zugefügt hat. Wenn ihre Kampftechnik so miserabel ist, spricht das nicht für die Akademie. Wir sind besser als alle anderen, Sie sollten besser sein. Die Augen des Imperators sind auf uns gerichtet und wir müssen uns bewähren. Sowohl die Führung der Akademie als auch alle Thos’athor. Schließlich repräsentiert jeder von uns die Akademie 20 Tontas je Prago – offiziell wie im Privaten.“ Die letzten Worte bellte Jewon fast hervor, stand dabei auf und ging um seinen Schreibtisch herum, bis er vor Charrut stand.
„Sie erhalten eine Berlenprag lang Ausgangssperre und werden jede freie Tonta Dagor-Kampftechniken trainieren, haben Sie verstanden?“ In der Stimme von Jewon schwang etwas mit, das keinen Widerstand duldete.
„Ti’Ghen, Zdhopanda!“ erwiderte Charrut.
Etwas versöhnlicher gestimmt sagte Jewon: „Und was die Frau angeht, habe ich nichts anderes von Ihnen erwartet, als das Sie der Ehre genüge getan haben.“
Gleich daraufhin wurde seine Stimme wie immer, fest und kraftvoll: „Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen, Thos’athor“.
Während Charrut salutierte, sich umdrehte und ging, hatte er das unbestimmte Gefühl, dass Jewon de’len Carnat ihn von hinten mit seinen Augen sezieren würde. Vorbei an Jewons Assistentin, die ihn abschätzend musterte schloss sich schließlich die Tür zum Vorzimmer; er blieb am Gang stehen, holte tief Luft und wagte es wieder, frei durchzuatmen. ‚Eine Berlenprag Ausgangssperre. Und jede freie Tonta Dagor-Kampftechniken trainieren. Das ging glimpflicher ab, als erwartet‘ , sagte er sich. Er hatte schon befürchtet, das ihn Jewon de’len Carnat noch härter bestrafen würde. Während er in Richtung seines Quartieres lief, spürte er, wie sich der Knoten im Magen auflöste…
Nachdem Charrut den Raum verlassen hatte, überlegte Jewon kurz, sah sich den Ausbildungsplan von Charrut an und ließ dann eine Verbindung zu Dor ter‘len Gelin, Charruts Ausbilder in Nahkampftechniken, von seiner Positronik herstellen.
Als nach einiger Zeit sich das verschlafene und überraschte Gesicht auf den Monitor manifestierte, ließ Jewon dem Ausbilder Dor ter’len Gelin keine Zeit, sich zu orientieren. Mit seiner ihm eigenen Schroffheit kam er gleich zur Sache.
„Ich hatte eben einen Ihrer Schützlinge hier, Dor! Charrut del Harkon wurde in Varynkor-Etset bei einem Kampf mit einem Messer verletzt. Mir scheint, als wenn Ihre Dagor-Ausbildung zu wünschen übrig lässt. Er hat eine Berlenprag Ausgangssperre. In den nächsten zwei Pragos soll er sich noch etwas von seiner Verletzung erholen, aber dann wünsche ich, dass er jede freie Tonta Dagor-Kampfübungen trainiert. Schleifen Sie ihn! Nehmen Sie keine Rücksicht. Am letzten Prago der Berlenprag wird sich meine Assistentin Vrey davon überzeugen, dass er Dagor beherrscht. Ansonsten…“. Jewon ließ absichtlich kurz eine Pause einfließen, „müssen wir uns um Ihre Bewertung Gedanken machen. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt!“
„Ti’Ghen, Zdhopanda“, erwiderte Dor ter’len Gelin, und an seinem Gesicht konnte Jewon erkennen, dass die Drohung auf fruchtbaren Boden gefallen war. Ohne ein weiteres Wort beendete Jewon die Verbindung.
Jewon rief Anowi Vrey über die Positronik in seinem Raum. Nachdem Anowi herein gekommen war und sich in einem Sessel vor Jewons Schreibtisch gesetzt hatte, blickte Jewon sie mit einem müden Blick an und sagte: „Erzählen Sie mir etwas über diesen Charrut del Harkon. Vom Kampf vorhin, Hintergrundwissen, Psychogramm…“
Anowi warf einen Blick auf ihre KSOL, die sie mitgebracht hatte, und führte aus: „Nach dem Bericht des zuständigen Sicherheitsbeamten von Varynkor-Etset ging es beim Kampf um eine Frau, eine Essoya. Sein Gegner, ein Angehöriger der Systemflotte von Varynkor, hatte ein Kampfmesser, ein K’onom, er selbst war unbewaffnet. Übrigens, mittlerweile wurde der Bericht des Sicherheitsbeamten, ein gewisser Cren Otona, ergänzt. Darin erläutert er, dass Charrut del Harkon am Zwischenfall unschuldig war.“ Anowi machte eine kurze Pause und sah ihren Vorgesetzten an. Jewons Gesichtsausdruck ließ aber keine Regung erkennen und so fuhr sie fort. „Der Harkon-Khasurn ist im Elimor-Sektor beheimatet. Charrut del Harkon ist der einzige Sohn von Ultral I. del’moas Harkon, die Mutter ist einige Zeit nach seiner Geburt gestorben. Familienhistorisch ist zu bemerken, dass einer seiner direkten Vorfahren einmal Imperator war: Serlan I. Seine Ausbildung verlief bisher den Anforderungen entsprechend. Und jetzt wird es interessant: Vor zwei Vothanii war er vom She’ianta Antor Agh’len Kolamir von der Ausbildung auf Wunsch des Sicherheitschefs des Harkon-Systems befreit. Sein Vater und dessen Verati waren entführt worden. Er als designierter Nachfolger hat es geschafft, innerhalb weniger Pragos seinen Vater zu befreien und, wie sich später herausstellte, den Tato eines dem Harkon-Khasurn zugehörigen System als TDA-Mitglied zu entlarven und zu liquidieren“, beendete Anowi ihre kurze Ausführung, weil sie wusste, das Jewon langatmige Vorträge hasste; er kam lieber gleich zum Ziel.
‚Das scheint einer mit Mumm zu sein. Viel zu wenige Arkii gibt es heut zu Tage, die noch persönliche Risiken eingehen wollen, anstatt ein luxuriöses Leben zu leben und andere die Arbeit machen zu lassen‘, ging es Jewon durch den Kopf. Laut fragte er: „Wie steht es mit der Loyalität zum Imperator?“
Anowi wiegte den Kopf hin und her, bevor sie antwortete: „Genaue Erkenntnisse liegen nicht vor. Momentan können wir nur aus den bisherigen Einsätzen, den regelmäßigen Psychotests und aus dem Khasurnverhalten Rückschlüsse ziehen. Danach ist Charrut del Harkon und der Khasurn dem Imperium und dem Imperator treu ergeben.“
„Also gut“, sagte Jewon nach einigen Augenblicken. Sein Gefühl bei Charrut del Harkon hatte ihn wohl nicht getäuscht. „Charrut del Harkon hat eine Berlenprag Ausgangssperre von mir erhalten. Seinen Ausbilder Dor ter’len Gelin habe ich angewiesen, dass dieser Charrut jede freie Tonta Dagor-Kampfübungen trainiert. Sie, Anowi, werden am letzten Prago der Ausgangssperre seine Dagor-Kampftechnik prüfen. Danach sehen wir weiter.“ Jewon gähnte hinter vorgehaltener Hand und sagte: “ Machen wir für heute Schluss.“
„Ti’Ghen, Zdhopanda!“ erwiderte Anowi, stand auf und verließ den Raum.
* * *
Nachdem sich der Sicherheitsbeamte vor ihrer Wohnungstür verabschiedet hatte und sie in ihre Wohnung gegangen war, ließ sich Onista im Aufenthaltsraum auf eine Sitzgelegenheit nieder. Sie fühlte sich ausgelaugt, zerschlagen und müde. Es hätte ein besonderer Abend für sie zwei werden sollen, stattdessen waren sie alle gerade noch an einer Katastrophe vorbeigeschrammt.
‚Und ich selbst habe Schuld daran‘, ging es ihr durch den Kopf. ‚Hätte ich nur Pergar gesagt, dass es zwischen uns aus ist‘. Aber nein, sie hatte es zu lange vor sich her geschoben. ‚Ich hätte Charrut helfen können, schließlich bin ich militärisch ausgebildet und bei der Systemflotte. Aber stattdessen habe ich zugelassen, dass mich die Angst übermannt hat und ich von Panik ergriffen worden bin‘ , schalt sie sich, wütend auf sich selbst. Ein müder Blick von ihr durchstreifte den Aufenthaltsraum und blieb an dem Büchlein, das ihr Charrut geschenkt hatte, hängen. Ein warmes, wohliges Gefühl durchströmte sie. Hatte er ihr nicht gesagt, dass er sie liebte? Vielleicht konnte er ihr verzeihen, für das, was vorgefallen war. Sie hatte sein Zögern gespürt, vorhin im Medik-Center, bevor er sie doch umarmt hatte. Sie konnte es verstehen; wahrscheinlich war er einen Augenblick unsicher gewesen, ob die Liebe, die er für sie empfand, ehrlich erwidert wurde. ‚Morgen werde ich zuerst Pergar mitteilen, das wir ab sofort getrennte Wege gehen und dann muss ich mit Sidona sprechen. Und ich hoffe, dass sich Charrut meldet, bevor ich am Nachmittag zu einem mehrere Pragos dauernden Einsatz aufbrechen muss‘. Langsam stand sie auf, nahm das Büchlein aus echtem Faraid an sich und ging in Richtung Schlafzimmer…
Nachdem sie am nächsten Morgen aufgestanden war, ging sie in die Hygienekabine und duschte sich ausgiebig. Anschließend zog sie sich ihre Uniform an und frühstückte in Ruhe. Sie bedauerte nur, das Charrut nicht bei ihr war, er fehlte ihr. Nach dem Frühstück packte sie gleich die Sachen für den bevorstehenden Einsatz, auch das Büchlein von Charrut war dabei. Danach ging sie entschlossen zu ihrem Kommunikationsterminal und ließ die Nummer von Pergar wählen. Am Monitor blinkte das Zeichen, dass die Verbindung hergestellt und dass der Teilnehmer informiert werden würde. Nach zwei Palbartontas meldete sich die Wohnungs-KSOL von Pergar und teilte mit, dass Pergar nicht anwesend war.