Während der Fahrt mit der Rohrbahn in Richtung Akademie überdachte Charrut die Situation, zu der er vorhin bei Onista nicht die Ruhe gefunden hatte. Wie war er in die Situation gekommen? Alles hing mit Auris zusammen, die ihm schon vom ersten Tag an der Akademie gefallen hatte. Daraus war dann im Laufe des ersten halben Jahres mehr geworden, er hatte sogar seinen ‚Konkurrenten‘ Pereth del Deghar ausgestochen.

Alles sah damals danach aus, als wenn ihre Beziehung den nächsten Schritt machen würde, aber daraus wurde nichts. Einsätze und Schulungen hatten ihnen wenig Zeit gelassen, sich auch um die eigene Beziehung zu kümmern. Und seit einigen Monaten, eigentlich schon seit Anfang diesen Jahres kühlte sich ihre Beziehung immer weiter ab. Sie fanden so gut wie keine Zeit mehr, sich zu treffen, und wenn er versuchte, sie zu erreichen, dann war sie entweder in einem separaten Einsatz oder sie antwortete nicht. Er hatte alles versucht, er brauchte sich nichts vorwerfen lassen.

Die Enttäuschung war riesengroß gewesen für ihn. Mit Kerasor und Tranthar hatte er einmal über Auris gesprochen, aber sie hatten ihm auch nicht helfen können. Sogar mit seiner Tante T’hina hatte er am Rande der Hochzeit seiner Schwester darüber gesprochen. Sie hatte ihm einige Punkte dargelegt, die er so nicht gesehen hatte. Nach vielen Votanii, in denen er immer wieder versucht hatte, die Beziehung zu Auris zu erneuern, hatte er sich eingestanden, dass es so nicht weitergehen konnte. Er hatte eine Entscheidung getroffen: Er wollte Auris, was auch immer sie vorhatte, nicht aufhalten, wollte sie ihren Weg gehen lassen. Er würde seinen gehen!

Es schmerzte natürlich, die Liebe, die er für sie empfunden hatte, nicht erwidert zu sehen. Aber da musste er durch, mit den Konsequenzen leben, die seine Entscheidung mit sich brachte. Ihm fiel ein, was sein Vater einmal zu ihm gesagt hatte: ‚Jeder Arkii geht seinen Weg. Die Wege mancher Arkii kreuzen sich, gehen eine Zeitlang gemeinsam und trennen sich wieder‘. So war es wohl…

Es war ihm nicht leicht gefallen, seinen Entschluss Auris mitzuteilen, zulange hatten sie eine Beziehung. Auris und er hatten sich wie immer, wenn sie sich verabredeten, in einem Restaurant in der Nähe der Stadtverwaltungen in Varynkor-Etset getroffen. So fielen sie nicht auf, wenn zur Mittagszeit Hochbetrieb herrschte. Auris schien etwas geahnt zu haben, denn sie war von Anfang an ziemlich reserviert gewesen. Er hatte Ihr seine Überlegungen und seinen daraus gezogenen Entschluss mitgeteilt. Anschließend war sie ohne ein Wort zu sagen aufgestanden und gegangen, etwas blasser als sonst und mit einem versteinerten Gesicht. ‚Vielleicht war er etwas zu brüsk gewesen‘ ging es ihm durch den Kopf. ‚Aber andererseits: sie waren keine Kinder oder Jugendliche mehr, sondern beim Militär, das härtet ab‘ sagte er sich.

Dass seine Beziehung, besser gesagt Ex-Beziehung zu Auris nicht unbemerkt blieb, war ihm von Anfang an klar. Aber erst gestern hatte eine Ma’chor dumme Sprüche von sich gelassen, dass er stinksauer geworden war, und nur seine aristokratische Erziehung hatte ihn davon abgehalten, sie übers Knie zu legen. Und um sich zu beruhigen, war er nach draußen gegangen und hatte sich von der Arkii-Menge treiben lassen.

Und dann war er Onista begegnet. Kennengelernt hatte er sie bei einem seiner letzten Einsätze, als er als Ma’chor eine LEKA führte. Sie gehörte zu seiner Besatzung, wie noch zwei Frauen und ein Mann. Sie hatte ihm im Laufe des Einsatzes immer mehr gefallen, vor allem, da sie gar nicht dem Arkiibild entsprach: Kurzgeschnittenes schwarzes Haar, hellblaue Augen, eine leicht raue Stimme. Aber so sehr sie ihn gefallen hatte, genauso vorsichtig würde er nach der Erfahrung mit Auris sein. Nur nichts überstürzen, keine voreiligen Entscheidungen treffen. Außerdem musste noch etwas Secinda-Moos über die Wunde wachsen, die er durch Auris erhalten hatte. Diesmal würde er nicht den ersten Schritt tun, sondern es auf sich zukommen lassen.

Eine Automatenstimme kündigte die Station ‚Raumakademie‘ an, und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

* * *

Charrut kam ungefähr nach einer halben Tonta zurück in seinem Wohnraum. Nachdem er eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür und schloss für einen Moment die Augen: gleich würde Kerasor kommen und wissen wollen, warum er letzte Nacht in Varynkor-Etset versumpft und was vorgefallen war. Was sollte er ihm sagen? Die Wahrheit? Würde er dafür Verständnis aufbringen? Aber andererseits war er sein Freund, und Freunde hatten keine Geheimnisse voreinander. Er öffnete wieder seine Augen, stieß sich von der Tür ab und ging in Richtung Schrank, um sich eine neue Uniform anzuziehen. Er hatte seine Uniform schon zur Hälfte ausgezogen, als er an seinem Positronik-Terminal das Symbol für eine schriftliche Nachricht sah. Er setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und befahl der Positronik, die Nachricht darzustellen:

„Einladung zum Symposium – Thema: Beschleunigung im vierdimensionalen Raum. Zeitpunkt: 3. Katanii ta Capit. Ort: Ecando-Etset“.

„Oh nein“ murmelte er entsetzt vor sich hin und sackte ein Stück in sich zusammen. Das hatte er total vergessen. Das verabredete Kennwort. Nachdem er nur noch selten zuhause war und fast nicht mehr an einem Nat’tha-meh-Rennen teilnehmen konnte, hatte er durch Zufall im zweiten Vothar an der Akademie ein Gespräch mitbekommen, indem es um ein verbotenes illegales Raumrennen ging. Er hatte damals alles daran gesetzt, teilnehmen zu können und seine Hartnäckigkeit wurde belohnt. Er hatte dann die Bekanntschaft mit einem Se’chor in Varynkor-Etset gemacht, der ihn in die Teilnahme und den Ablauf einweihte. Selbstverständlich war es kein echter Se’chor und selbstverständlich war der Name, den der Se’chor ihm genannt hatte, falsch, aber er hatte sein Ziel erreicht. Zweimal im Vothar gab es diese Raumrennen: im Ansoor und in den Katanii ta Capit. Wann wusste kein Teilnehmer, nur das sie kurz vorher eine Nachricht in ihren Positronik-Terminals vorfinden würden. Treffpunkt war immer der kleine Zivilraumhafen in Ecando-Etset auf der anderen Seite von Varynkor. Er hatte in der Vergangenheit schon mehrere Versuche gestartet, den Absender zu lokalisieren, aber trotz seiner guten Positronik-Kenntnisse war er immer wieder gescheitert, er vermutete, dass jemand aus der Administration der Akademie selbst involviert war.

Er liebte diese Raumrennen, eingezwängt in einer kleinen Kabine, nur ein Raumanzug mit Notvorräten und einem Notfunksystem, ein Andruckabsorber und einem Ortungsgerät, und sonst nichts. Nur die pure, brachiale Gewalt des Triebwerks im Rücken hieß es, bestimmte Punkte in einem Raumsektor abzufliegen, und das in kürzester Zeit. Nur die fünf schnellsten qualifizierten sich automatisch für das nächste Rennen, und er hatte es in den letzten beiden Tai-Votharii geschafft, immer weiter zu kommen. Jeder Teilnehmer bekam die gleiche Ausstattung und es war jedem Teilnehmer überlassen, wie weit er seine Maschine ‚modifizierte‘.

Mittlerweile fragte er sich aber, ob er es noch riskieren konnte, an diesem illegale Raumrennen weiterhin teilzunehmen. Das Ende der Ausbildung war abzusehen und alles zu riskieren, nur weil er ein paar Tontas Spaß haben wollte? Sicher nicht. Außerdem hatten sich seine Prioritäten geändert, seine Sichtweise war jetzt eine andere als noch vor ein paar Votharii. Mit einem inneren Seufzer drückte er am Display des Positronik-Terminals auf die Schaltfläche ‚Nein‘.

Kaum hatte er der Teilnahme abgesagt, als es an der Tür klopfte. Erschrocken sah er auf seinen Armbandkommunikator und musste feststellen, dass die Tonta vorbei war, die er sich vorhin bei Kerasor ausgebeten hatte. Charrut ging zur Tür und öffnete sie. Vor der Tür stand Kerasor. „Komm herein“ sagte er zu ihm und ging wieder in den Raum hinein, wohin ihm Kerasor folgte. „Ich bin gleich soweit, ich muss mir nur eine neue Uniform anziehen“. Kerasor setzte sich entspannt auf den Stuhl vor dem Arbeitstisch und fragte: „Was war los? Warum bist du, um es mit deinen eigenen Worten zu sagen, in Varynkor-Etset ‚versumpft‘? Wo warst du überhaupt?“

Mittlerweile hatte sich Charrut eine neue hellblaue Uniform angezogen und setzte sich Kerasor gegenüber auf sein Bett. „Ich hatte gestern versucht, dich und Tranthar zu erreichen, aber ihr habt nicht auf meinen Anruf reagiert. Also bin ich alleine nach Varynkor-Etset aufgebrochen. Unterwegs bin ich einigen anderen Thos’athor begegnet, die ich noch von anderen Einsätzen her kenne und so sind wir durch diverse Trinkhallen und anderen Etablissements gezogen. Eine von den weiblichen Thos’athor hat sich über meine Beziehung zu Auris lustig gemacht und so bin ich alleine weiter gegangen. In einer Trinkhalle traf ich dann eine Frau, die ich vom letzten LEKA-Einsatz kannte. Nach reichlich viel Racausa-Schnaps bin ich dann vorhin bei ihr in der Wohnung aufgewacht.“

Kerasor schaute Charrut mit großen Augen an. „Und Auris?“. Charrut seufzte, fuhr sich mit der rechten Hand durch sein schulterlanges Haar und meinte dann nach einigen Palsartontas: „Ich habe mich entschieden. Ich lasse Sie den Weg gehen, den Sie gehen will. Ich sehe keine gemeinsame Zukunft für uns.“

Kerasor lehnte sich im Stuhl zurück und antwortete dann: „Seit Anbeginn der Ausbildung, seit wir uns kennen, warst Du immer in Auris vernarrt und jetzt, so plötzlich, nicht mehr?“

„Nein, nicht plötzlich! Seit Anfang diesen Vothar wurde unsere Beziehung immer einseitiger, immer distanzierter. Ich habe alles versucht, um mit Auris darüber zu reden, aber ich habe es nicht geschafft. Entweder habe ich Sie nicht erreicht, oder Sie wollte mit mir nicht reden. Wie dem auch sei, ich habe mich entschieden. Und außerdem habe ich Auris meine Entscheidung schon mitgeteilt!“ Er unterstrich seinen letzten Satz mit einer energischen Handbewegung.

„Wann hast du ihr es gesagt?“ fragte Kerasor überrascht.
„Vor zwei Pragos, direkt nach unserer letzten Prüfung. Wir haben uns in dem Restaurant getroffen, das wir bisher immer genommen haben, wenn wir zusammen sein wollten. Dort habe ich ihr meine Entscheidung mitgeteilt.“