Tomalak

Diese Story widme ich meinem Freund Jürgen Hermann, der am 5. Januar 1996 verstarb.

Harald Schäfer

„Ortung!“ gellte Chanvas Stimme durch die Zentrale. „Ein Raumschiff hat jenseits der Umlaufbahn Orukils den Hyperraum verlassen. Kurs: Va­ryn­kor.“ Er unterbrach sich für einen Moment, während er Kontakt zur Funk­zentrale aufnahm. „Iden­tifi­zie­rungs­code wurde bisher nicht gesendet!“ meldete er dann.

Tranthars Finger huschten über die Sensorfelder der Positronik. „Es ist kein Raum­schiff für diesen Zeitraum angemeldet“, dröhnte seine Mehandor-Stimme Augenblicke später auf, während er sich lächelnd zu Vynga del Norlaan umwandte. Sie war die Ranghöchste von den Ma’chors in der Zentrale. Ihr Gesicht verkrampfte sich, als sie Tranthars Blick begegnete. Ausgerechnet während ihrer Dienst­zeit mußte wieder ein Raumschiff außerhalb der Systemgrenzen unangemeldet auftauchen. Diesmal würde es Tranthar nicht gelingen, sie vor ihren Vorgesetzten bloßzustellen.

„Chanvas! Funkzentrale an die Ortung koppeln. Sie sollen das Raumschiff anfunken und Identifizierung verlangen.“ Mit einer hastigen Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres weißen Haares aus der Stirn. Jetzt nur keine Fehler machen, hallte es in ihren Gedanken. Bruchteile von Augenblicken fühlte sie eine innere Leere in sich, gegen die sie ankämpfen mußte. Dann waren ihr die nächsten Schritte klar. „Tranthar! Geschwindigkeit und Zeitpunkt ermitteln, wann das Raumschiff Varynkor erreichen wird!“

„Befehl verstanden, Erhabene!“ Sie zuck­­te unwillkürlich zusammen. Wollte dieser rotbärtige Mehandor sich über sie lustig machen. Es mußte doch jedemThos’athor klar sein, daß die Anrede Erhabener nur für Raumschiffskom­mandanten und höhere Ränge verwendet werden durfte. Sie schob den Gedanken beiseite, während Sie die Interkom-Verbindung aktivierte. Sie hatte einfach keine Zeit für Moralpredigten.

„Hier Vynga del Norlaan, Ortungszentrale. Ich rufe den Ausbilder Jewon da Carnat! Kommen Sie bitte umgehend in die Zentrale. Wir haben ein Problem!“

„Vynga!“ meldete sich Tranthar. „Ich habe die Berechnung. Das Raumschiff bewegt sich mit 0,6047facher Lichtgeschwindigkeit. Es wird Varynkor in genau 40 Zeit­ein­hei­ten erreichen.“

Tranthars Stimme klang sachlich ohne Hohn oder Ironie. Doch verzogen sich seine Lippen nicht zu einem spöttischen Lächeln? Manchmal verwünschte Vynga diesen verfilzt aussehenden roten Bart. Es war ihr unmöglich in seinen Gesichts­zügen zu lesen. Vermutlich war dies auch der Grund, warum Mehandor sich diese Bärte wachsen ließen. Bei Verhandlungen konnten die Geschäftspartner keine Gemütsbewegung aus ihren Mienenspiel heraus­lesen.

Sie zwang ihre Gedanken in eine andere wichtigere Richtung. Was konnte sie noch tun, um die gegenwärtige Situation mög­lichst ehrenvoll zu überstehen? Die Raum-Akademie war wegen der Präsentationstage der Raum-Akademien auf Arkon momentan von Raum­­­schiffen entblößt. Sie war ein leichtes Opfer für Fanatiker, die das arkonidische Imperium nur den reinblütigen Arkoniden zubilligten. Die Gleichberechtigung von Kolonial­arkoniden, Mehandor und Kah’lass hatte in ihrem Gedankengut keinen Platz. Ein einziges Schlachtschiff würde genü­gen, um den Traum eines friedlichen Zusammenlebens der wichtigsten Völker arko­ni­discher Abstammung nachhaltig zu zerstören.

„Raumschiff passiert die Umlaufbahn Oru­kils.“ Chanvas Blicke hingen konzentriert an den Ortungsschirmen. Er beobachtete die wechselnde Position des Raumschiffes zwischen dem 6. und dem 5. Planeten und die sich schnell ändernden Zahlenwerte. „Es sind keine Triebwerks­emissionen anmeßbar. Kein Schutzschirm aufgebaut.“

„Hier Honak! Funkzentrale!“ erklang es aus dem Interkom. „Das Raumschiff ant­wortet bisher nicht auf unsere Identifizierungsaufforderung!“ Im Hintergrund war das geschäftige Raunen mehrerer Stimmen zu hören.

Vynga seufzte innerlich. Sie hatte es fast schon erwartet. „Hier Vynga!“ meldete sie sich bei der Funkzentrale. „Versuchen Sie es weiter!“

Ihr Blick wanderte zum Zentraleschott. Doch nichts bewegte sich. Wo blieb nur Jewon da Carnat. Sie konnte nicht mehr länger warten. Sie mußte Alarm für die zwei Jäger-Rhagarns geben. Diese waren die einzige Möglichkeit der Verteidigung. Varynkors. Die Raum-Akademie verfügte über keine planetaren Geschützstellungen und über keine Raumforts. Sollte es sich nachträglich erweisen, daß sie voreilig gehandelt hatte, würde Ausbilder Jewon da Carnat sie sich persönlich vor den versam­melten Kadetten vornehmen. Und Sie würde noch monatelang spöttische Blicke in ihrem Rücken spüren. Andern­falls konnte die Raum-Aka­de­mie vernichtet werden.

„Raumschiff passiert die Umlaufbahn von Pallam!“ Canvas Meldung war das Stichwort zum Handeln. Sie gab Raum­­­alarm!

* * *

Tranthar zuckte zusammen, als das zyklische Auf und Ab des Raumalarms durch die Zentrale heulte. Vynga hatte mit keiner Silbe angedeutet, daß Sie auch diese Möglichkeit in Erwägung zog. Hoffentlich hatte sie sich nicht zu weit vorgewagt. Überall in der Raum-Akademie würden jetzt die Thoas’athor ihre Kampfanzüge überstreifen, die Schutz­schirmprojektoren anlegen und sich bewaff­nen. Diejenigen, die in Bereitschaft standen, würden zu den letzten zwei Jäger-Rhagarns hetzen, welche die Raum-Akademie noch aufbieten konnte, und in den Raum starten. Einerseits wünschte er Vynga, daß der Raumalarm gerechtfertigt war, andererseits fürchtete er das, was aus dem Raum auf sie zukam. All diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf während er sich selbst aus einem nahestehenden Schrank Kampfanzug, Schutz­schirm­generator und Waffen holte.

Als er sich den Kampfanzug eben übergestreift hatte, glitt das Zentraleschott auf, und Jewon da Carnat spurtete im Kampfanzug herein, einen schweren Desintegrator über der Schulter hängend. Er wirkte kraftvoll und energiegeladen. Sein für einen Arkoniden kantiges Gesicht wirkte hart und kompromißlos. Tran­thar wünschte ihn sich in diesem Augenblick nicht zum Feind.

Das Gesicht Vyngas wurde weiß wie ihr Haar, als sie ihren Ausbilder hereinstürmen sah. Tranthar beobachtete, wie sie Haltung annahm und zu einer Meldung ansetzte, den Schutzschirmprojektor noch in ihrer linken Hand. Doch Jewon da Carnat bedeutete ihr mit einer kurzen Handbewegung zu schweigen.

„Ich übernehme das Kommando!“ Es war eine Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Ich habe die Geschehnisse in der Zentrale mitgehört.“

„Raumschiff passiert die Umlaufbahn von Esdefer!“ Chanvas schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. Tranthar beschloß es ihm gleichzutun. Er nahm seine Position vor der Positronik wieder ein, während der letzte Ver­schluß des Kampfanzugs einrastete.

Aus dem Augenwinkel sah Tranthar, wie sich der große Panoramaschirm mit einem lauten Knistern aufblendete. Der Raumhafen war zu sehen. Eine gähnende Leere aus grauen Stahlkunst­stoffplatten, glit­zernd im Licht der morgendlichen Sonne. Am Rande des Raumhafens strebten win­zige Punkte auf zwei Jäger-Rhagarns der Naator-Klasse zu.

Dieses Bild erinnerte ihn an seine Aufgabe. Er mußte die Daten der Ortungsanlage in den Bordpositroniken der Jäger über­spielen. Um ein Haar hätte er dies verschlafen. Während er die Ver­bindung aufbaute, wurde es ihm noch nachträglich siedend heiß.

Im Hintergrund hörte er Jewon da Carnat mit der Funkzentrale sprechen. Noch immer war kein Identifizierungssignal hereingekommen. Das Raumschiff war funk­technisch tot.

Auf dem Panoramaschirm blendeten sich nacheinander die zwei von Raum­helmen umrahmten Gesichter der Rhagarn-Führer ein.

Die Konferenzschaltung sprach an. „Hier Cyron dom Vulgor. 2. Jäger-Rhagarn, der Basisverteidigung. Erbitte Starterlaubnis.“

Tranthar kannte Cyron. Er gehörte zu den Arkoniden, die arrogant auf Kolonialarkoniden herabsahen und Mehandor wie ihn keines Blickes würdigten. Trotzdem wün­schte er ihm viel Erfolg.

„Hier spricht Lormon Denorel, 4. Jäger-Rhagarn der Basisverteidigung. Erbitte ebenfalls Starterlaubnis.“

„Starterlaubnis gewährt! Fliegen Sie dem unbekannten Raumschiff entgegen und stoppen Sie es. Beschuß nur im Notfall! Lormon Denorel, Sie übernehmen das Kommando! Und denken Sie daran. Wir können Sie materiell in keinster Weise unterstützen.“

Tranthar konnte ein schadenfrohes Lächeln nicht unterdrücken. Lormon Denorel, war ein Kolonialarkonide. Cyron dom Vulgor würde innerlich glühen vor Wut, daß er das Kommando nicht erhalten hatte. Die Rhagarns starteten mit sengenden Triebwerksstrahlen und verschwanden aus der Bildfläche.

„Tranthar!“ Das Lächeln gefror auf Tran­thars Lippen, als er Jewon da Carnats energische Stimme erkannte. „Schalten Sie den Panoramaschirm auf die Außenbordkamera des kommandierenden Rha­garn­führers!“

Ti’Ghen, Erhabener!“ Wie ein Lichtblitz erschien das Bild in seinem Kopf, wie Jewon da Carnat ihn und seine Kameraden, die an der Tandaloh-Expedition teilgenommen hatten, moralisch zusammengeknüllt hatte, daß ihnen hören und sehen vergangen war. Er würde immer an die Worte Jewon da Carnats denken.

„Wenn diese Expedition nicht ein Simulator-Abenteuer gewesen wäre, hätte ich gute Lust, Euch durch ein Roboterkommando hinrichten zu lassen. Das was ihr getan habt, ist Verrat. Verrat an der Akademie und Verrat an dem arkonidischen Imperium. Wenn Ihr nur zu zwei Monaten Dienst auf einem Strafkreuzer der Akademie verurteilt werdet, so ist das eine an Leichtsinn grenzende Großzügigkeit. Eigentlich müßtet Ihr den Gründern der Akademie, Antor da Kolamir und Russark da Telkan, die Füße küssen“.

Tranthar hatten noch nie im Leben die Beine so gezittert, wie in diesem Moment und er hatte seine Leidensgenossen Kerasor nert Tamanar, Pereth del Deghar, Minart da Zoltral, Charrut del Harkon und Trimor del Terkas selten so bleich gesehen. Sogar Tomalak pas Meramar, als Kah’lass eine Kämpfernatur, hatte eine ungesunde hellgrüne Gesichtsfarbe bekommen.

Während er diesen Gedanken nachhing, hatte Tranthar die Verbindung zu dem Leit­­­­jäger aufgenommen. Das Raumhafen­gelände wurde von der Schwärze des Weltalls verdrängt. Erst nach dem sich die Augen an den plötzlichen Helligkeitsunterschied gewöhnt hatten, stellte sich nach und nach die Sternenpracht Thantur-Loks ein.

„Was sagt die Auswertung des Transitionsschocks, Chanvas.“ Jewon da Carnat trat zu den Ortungsgeräten.

 „Nichts, Erhabener!“

 Tranthars Kopf ruckte überrascht herum!“ Er sah, wie der Ausbilder die Augenbrauen leicht anhob. „Was soll das heißen: nichts!“ fragte er den Thos’athor vom Planeten Zalit mit auffallend leiser Stimme.

„Das soll heißen, daß ich bis jetzt nicht dazugekommen bin, den Transitionsschock zu analysieren.“

Bevor Jewon da Carnat lospoltern konn­te, schaltete sich Vynga del Norlaan dazwischen! „Bedenken Sie bitte, daß wir hier einen Notbetrieb fahren. An dem Ortungsgerät sitzen normalerweise drei bis 4 Ma’chors. Sie können nicht von Chanvas verlangen, daß er diese Aufgaben lückenlos übernimmt.“ Ihr Gesicht hatte sich mit einer sanften Röte überzogen. „Wenn Sie erlauben, Erhabener, würde ich gerne Chanvas zur Hand gehen.“

Jewon da Carnat stimmte brummend zu und Vynga del Norlaan nahm in dem Kontursessel neben Chanvas Platz.

‘Was für eine Frau!’ dachte Tranthar. Es imponierte ihn, wie sie sich für Chanvas eingesetzt hatte. Seit er sie kurz nach seiner Ankunft in der Raum-Akademie das erste mal gesehen hatte, war er von ihr fasziniert. Warum mußte es ausgerechnet eine von Standesdünkeln durchsetzte Arkonidin sein, die ihn in ihren Bann schlug, warum nicht eine Tochter eines anderen Patriarchen. Doch wie er es auch wendete, er konnte sich nicht von ihr lösen.

Tranthar hörte nur im Unterbewußtsein Chanvas Stimme, daß das unbekannte Raumschiff bereits die Bahn von Esdefer, dem 4. Planeten erreicht hatte. Wie aus weiter Ferne bekam er mit, daß die Jäger-Rhagarns kurz davor waren, die Bahn Unials, des 3. Planeten des Harrekatam-System zu überschreiten. Doch seine Gedanken verloren sich für Augenblicke in einem zähen Nebel aus Wünschen und Hoffnungen, der jäh beendet wurde.

Etwas hatte sich verändert. Zahlenkolonnen rasten nun über den Bildschirm. Mit einem Blick erfaßte er, daß in dem Raumschiff Meiler hochliefen. „Vorsicht!“ rief er mit lauter Stimme. In dem Raumschiff werden größere Mengen von Energie erzeugt.“

Jewon da Carnat reagierte unglaublich schnell. „Zentrale an Jäger-Rhagarns! Energieerzeugende Anlagen sind im Raumschiff hochgelaufen. Sofort ausfächern! So wenig wie möglich Angriffsfläche bieten!“

„Lormon Denorel! Befehl verstanden. Energie angemessen. Das Raumschiff beginnt abzubremsen. Aber …. was ist das? Das Raumschiff bricht aus seiner Bahn aus, es fängt an zu schlingern. Irgend etwas stimmt hier nicht! Cyron dom Vulgor übernehmen Sie beide Rhagarns. Ich sehe mir das Raumschiff von der Nähe an!“

Tranthar sah zu Jewon da Carnat. Doch dieser zeigte mit keiner Mienenbewegung, ob er die Entscheidung von Lormon Denorel gut hieß oder nicht.

Auf den Panoramaschirm war inzwischen ein winziger grellgelber Fleck zu sehen, der immer größer wurde.

„Lormon Denorel! Meine Taster zeigen mir, daß es sich bei dem Raumschiff um ein 50-Quars-Beiboot arkonidischer Bauart handelt. Die Triebwerke der Backbordseite scheinen ausgefallen zu sein. Die Bordpositronik zoomt das Raumschiff auf maximale Größe auf Standbild. Achtung jetzt“.

Auf den Panoramaschirm schien eine feuerspeiende Kugel auf sie zuzufliegen. Beleuchtet von den Bremstriebwerken waren die folgenden großen Lettern auf der Schiffshülle zu lesen: ES’CO.

„Es ist die ES’COFEER!“ Tranthar löste seinen Blick vom Panoramaschirm und sah hinüber zu Vynga del Norlaan, die diesen Namen mit unheilsahnender Stimme ausgesprochen hatte.

Die ES’COFEER. Tranthar lief ein eiskalter Schauder den Rücken herab. Sie war ein Schiff der Raum-Akademie und sollte eigentlich in einem weit entfernten, entlegenen Sonnensystem sein. Die Besatzung bestand aus Ma’chors, die dieses Sonnensystem erkunden und die einzelnen Planeten kartographieren sollten. Dies war Teil einer Prüfung zum Ti’chor. Ein Ausbilder war mit an Bord und Tomalak pas Meramar. Er war für einen erkrankten Ma’chor eingesprungen.

Was, so fragte sich Tranthar sorgenvoll, machte die ES’COFEER zu diesem Zeitpunkt im Harrekatam-System? Und warum hatte niemand von den Ma’chors das Erkennungszeichen gegeben?

* * *

  „Tomalak!“ Der Ton in der Stimme seines Vaters ließ ihn nichts Gutes ahnen. Mit einer Handbewegung unterbrach er die schwermütige Musik eines arkonidischen Komponisten. Seine Lieblingsmusik, wenn er mit seinen Freunden wieder ein ausuferndes Gelage hinter sich gebracht hatte und sein Körper noch unter den eingenommenen Mengen diverser Rausch­mittel litt.

  Die Tür glitt auf und Gorak trat mit der finstersten Miene, die Tomalak je bei ihm gesehen hatte, in seinen Wohnraum. Tomalak wußte, in diesem Augenblick war Gorak nicht sein Vater, sondern der Patriarch der Meramar-Sippe.

  „Du Nichtsnutz von einem Sohn!“ fauchte er. „Wie oft habe ich dir gesagt, konzentriere dich auf deine Arbeit! Aber nein! Immer sind dir deine Freunde und verbotene Affären wichtiger. Jetzt bekommen wir die Quittung dafür. Die Hemal-Sippe hat dein neues Feuerleitsystem getestet und abgelehnt! Das kostet uns Millionen! Meine Geduld ist zu Ende!“

  Tomalak wischte sich über die Stirn, ein hoffnungsloser Versuch, seinen Verstand von den Folgen der letzten Nacht zu befreien. „Das Feuerleitsystem ist voll erprobt. Es gibt nichts besseres in den Schlachtflotten der Kah’lass. Wieso wurde es abgelehnt?“

  „Erprobt!“ Die Frage seines Sohnes schien die Wut des Patriarchen noch mehr anzustacheln. Eine dicke dunkelgrüne Ader trat an seiner Stirn hervor. „Wann hast du es erprobt, mit welchen Schiffen.“

  „Mit der KHE’SAN und der LHO’MEAH!“

  Tomalak spürte plötzlich den eisernen Griff seines Vater an beiden Schultern. Das Gesicht des Patriarchen war ihm ganz nah. Seine stahlgrauen Augen schienen ihn durchbohren zu wollen. „Du Narr!“ brüllte er und schüttelte Tomalak bei jedem Wort, daß diesem Hören und Sehen verging. Der Patriarch war mit seinen 1,85 Meter noch ein Stück größer als Tomalak und gut durchtrainiert.

  „Sowohl die KHE’SAN als auch die LHO’MEAH sind Erkundungsschiffe!“ schrie er. „Sie verfügen über eine völlig andere Positronik als Schlachtschiffe. Dein Feuerleitsystem mag bei den Erkundungsschiffen funktionieren. Für die ist aber ein so perfektes Feuerleitsystem weder sinnvoll noch zu bezahlen. Bei den Schlachtschiffen aber liefert das Feuerleitsystem die Werte mit einer Zeitverzögerung von zwei Petontas. Damit ist es Schrott! Nicht zu Gebrauchen! Hörst Du!“

  Die Worte seines Vaters schmerzten ihn stärker, als dessen eiserner Griff. Auf einmal überkam ihn ein Gefühl der Übelkeit und Schwäche. Immer mehr kam ihm zu Bewußtsein, daß er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte, der ihm nie hätte unterlaufen dürfen. „Aber die Umstellung auf die Schlachtschiffpositroniken kann doch nicht so schlimm sein!“ versuchte er den Fehler zu kaschieren, obwohl er selbst nicht daran glaubte!“

  Tomalak wurde von seinem Vater mit solcher Wucht weggestoßen, daß er rücklings zu Boden fiel. „Nicht schlimm, sagst du! Einen ganzen Tag haben wir investiert, um zu analysieren, wie schwerwiegend eine Anpassung auf die Schlachtschiffpositronik sein wird! An der Basis wurden bereits die falschen Signale gesetzt. Wir können wieder ganz von vorne anfangen! Und das nennst du nicht schlimm!“

  Etwas stimmte nicht! Auch wenn er diesen schwerwiegenden Fehler begangen hatte, sein Vater würde ihn nie mit solcher Wucht auf den Boden stoßen. Das war nicht seine Art. Und doch spürte er plötzlich einen stechenden Schmerz an der Seite, erst nur wenig, dann aber immer heftiger.

  „Nun rede schon, du Nichtsnutz von einem Sohn. Ist dir klar, daß du unsere Sippe an den Rand des Ruins gedrängt hast? Habe ich dir nicht immer gesagt, du sollst dich intensiv um deine Arbeit kümmern, statt mit deinen sauberen Freunden um die Wette zu trinken? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Tochter des Patriarchen Vrontol in Ruhe lassen? Und was hast du getan?

  Der Patriarch warf Tomalak eine Holo-Patrone zu. „Sieh sie dir an! Darin weist mich Vrontol darauf hin, daß trotz mehrmaliger Absprache, vor drei Tagen wieder ein Treffen zwischen dir und seiner Tochter stattgefunden hat. Er droht mir, die Schlachtraumer künftig von der Colopan-Sippe zu ordern, wenn diese Treffen nicht endgültig eingestellt werden! Was hast du dazu zu sagen?“

  Die Schmerzen wurden stärker, begannen durch seinen ganzen Körper zu pulsieren. Tomalak fragte sich, woher diese Schmerzen kamen. Der Sturz war doch nicht so schlimm gewesen. Dann sah er wieder das vor Zorn entstellte Antlitz seiner Vaters und besann sich auf eine Antwort: „Aber es ist doch nichts passiert“, sagte er beschwörend. „Wir sind gute Freunde. Das ist alles!“

  „Und das ich Vrontol mein Wort gegeben habe, das zählt für dich wohl gar nicht?“ Seine Augen schienen Blitze auf Tomalak zu verschleudern. In diesem Moment war er Tomalak so unfaßbar fremd. „Na warte, ich werde dir deine Disziplinlosigkeit schon austreiben. Morgen bringt dich eines unserer Raumschiffe nach Varynkor. In der dortigen Raum-Akademie werden sie dir deine Flausen schon austreiben. Du wirst jetzt gleich packen.“

  Der Schmerz brachte Tomalak fast um den Verstand. Trotzdem wollte er sich dagegen zur Wehr setzen, einfach in eine Raum-Akademie abgeschoben zu werden.

„Nein!“ sagte er bestimmt. „Ich habe einen Fehler gemacht. Laß’ ihn mich jetzt wieder ausbügeln. Keiner kennt sich mit diesem Feuerleitsystem so gut aus, wie ich. Aber auf eine Raumakademie, wie immer sie auch heißen mag, werde ich nicht gehen!“

  Tomalak sah sofort, daß es um die Beherrschung des Patriarchen geschehen war. „Was!“ schrie er. „Du widersprichst mir auch jetzt noch! Dich werde ich lehren, was es heißt meine Befehle zu ignorieren!“ Dann hob er seine kräftigen Fäuste, um auf seinen Sohn einzuprügeln.

  „Nein! Tu es nicht Vater! Bitte halte ein!“ Tomalak erkannte die Stimme seiner Schwester. Kalriud mußte schon die ganze Zeit die Szenerie beobachtet haben. Mit ihr verband ihn ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis. Es war schon immer so gewesen, daß er Probleme nicht mit seinen Eltern sondern mit seiner Schwester besprochen hatte. Sie war für Kah’lass-Verhältnisse sehr hübsch und hatte nur eine Schulterbreite von 1,50 m ohne zu zart zu wirken. Und Mut hatte sie, oh ja. Niemand anders hätte sich beim gegenwärtigen Zustand ihres Vaters schützend vor Tomalak gestellt.

  Doch der Patriarch nahm keine Rücksicht auf sie. Mit einem Schlag seiner eisernen Faust fegte er sie mit solcher Wucht durch den Wohnraum, daß sie den schweren Kontursessel umriß und wimmernd am Boden liegen blieb.

  Noch ehe sich Tomalak von der unglaublichen Brutalität seines Vaters erholt hat­te warf sich dieser auf ihn. Doch nicht von vorne, wo er eben noch gestanden hat­te, sondern von der Seite. Wie in Zeitlupe senkte er sich auf Tomalak herab. Seltsamer­­weise konnte er sein Gewicht schon spüren, und es wurde immer schwerer und unerträglicher je mehr sich der Patriarch auf ihn herabsenkte. Tomalak war nicht in der Lage sich zu rühren. Wie ein Kmarko hyp­notisiert auf den tödlichen Biß des Lorg­ech­e wartete, so sah er, wie sich der Patri­arch ihm immer mehr entgegensank. Dann wandelten sich dessen stahlgraue Augen plötzlich in rot irisierende Sehzellen. Sein Gesicht wurde zu einer Maske aus Arkonstahl. Mit einem Schrei, der nichts menschliches mehr an sich hatte, erwachte Tomalak und schlug die Augen auf.

* * *

  Zuerst überfiel ihn der Schmerz, er schien von überall zu kommen. Sein Blick fiel durch die verbogene Scheibe des Raumhelms auf ein düster glühendes Licht. Langsam schälten sich Erinnerungsreste aus dem Nebel des Verborgenen und setzten sich zu einem Bild zusammen.

  Der Name ES’COFEER tauchte auf, ein 50-Quars-Beiboot der Raum-Akademie Varyn­kor. Es war zu einer Prüfungsfahrt aufgebrochen. Als Besatzungsmitglieder waren langjährige Ma’chors an Bord, die nun die Chance erhielten, zum Ti’chor befördert zu werden. Die Aufgabe war, ein unbekanntes Sonnensystem anzufliegen, es zu erkunden und die Planeten zu kartografieren. Er war erst ein knappes Arkonjahr auf der Raum-Akademie und nur als Ersatz für ein erkranktes Besatzungsmitglied mitgeflogen. Sein Einsatzgebiet war der Maschinenleitstand. Vier Transitionen über eine Entfernung von insgesamt 196 Lichtjahre. Das war für den Hin- und Rückflug fast die maximale Reichweite des Überlichttriebwerks. Es durfte nichts schief gehen.

  Die letzte Transition hatte sie dann an den Rand eines Sonnensystems, bestehend aus einer gelben Sonne, einem Planet mit einem Trabanten und einem Asteroidenfeld, gebracht. Der Planet lag in der Lebenszone.

  Schon vor der letzten Transition hatten sie aus Sicherheitsgründen leichte Raumanzüge angezogen. Als die ES’COFEER auf dem Weg zum einzigen Planeten dicht an dem Asteroidenfeld vorbeiflog, passierte es. Tomalaks Schicht war zu Ende. Er hatte den Maschinenleitstand verlassen und befand sich gerade auf dem Weg in die Mannschaftsquartiere. Als ein infernalisches Dröhnen durch die ES’COFEER raste. Sie wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Die Zellverbände ächzten und der Boden bebte so stark, daß Tomalak stürzte. Während das heftige Beben Tomalaks Körper malträtierte, sah er, wie sich die Wand an der rechten Seite zu verformen begann. Er sah auch den Kampfroboter, der in einer Wandnische stand und durch Halteklammern an Armen und Beinen an der Wand befestigt war. Und er sah, wie die Halteklammern unter dem Verformungsdruck der Wand abplatzten und der Kampfroboter nach vorne kippte, direkt auf ihn zu. Der Druck auf die Gürtelschnalle, der den Schutzschirmgenerator anlaufen ließ, war zu spät gekommen. Er sah glühende Sehzellen umhüllt von Arkonstahl auf sich zurasen, dann war nur noch Dunkelheit um ihn herum.

* * *

  Der Kampfroboter! Tomalak konnte ihn nicht sehen, doch der Druck auf seinem Brustkorb ließ ihn vermuten, daß er noch auf ihm lag. Das Einschalten des Schutzschirms mußte doch noch etwas bewirkt haben, sonst würde er jetzt nicht mehr leben. Trotzdem, die Schmerzen machten ihn fast wahnsinnig. Vorsichtig tastete er mit den Händen nach dem Roboter und versuchte ihn von sich zu stemmen. Mehrere Quarsocks, mehr schaffte er nicht und der Schmerz steigerte sich ins nicht mehr meßbare.

  Hilfe. Er brauchte Hilfe. Er schaltete den Funk seines Raumanzugs ein. Doch auf der Interkomfrequenz war absolutes Schwei­­gen. Auch seine mehrmaligen Rufe änderten daran nichts. Was war geschehen? Wieso meldete sich niemand? War eine Maschine explodiert oder hatte das Raumschiff einen Treffer erhalten? Aber es mußten doch noch Besatzungsmitglieder überlebt haben. Tomalak verstand das alles nicht. Er wußte nur, er konnte nicht hier liegen bleiben. Der Schmerz peinigte ihn zu sehr. Er mußte sich selbst helfen. Noch einmal versuchte er den Roboter anzuheben. Vergeblich.

  Und was war, wenn er ihn aktivierte? Nein! Bevor er ihm erklären konnte, wie er sich zu verhalten hatte, würde der Kampfroboter versuchen sich aufzurichten. Tomalak wollte nicht daran denken, welche Blessuren er dann noch hinzu bekam. Der Mikrogravitator! Wenn er ihn abschaltete, würde er statt mit den gewohnten 1,96 g nur mit 1g belastet. Das konnte ihm vielleicht helfen. Es bereitete ihm keine Probleme den Mikrogravitator abzuschalten.

  Wieder schob er seine Hände unter den Kampfroboter. Diesmal legte er alle Kraft in einen schnellen Aufwärtsstoß. Von seiner linken Seite durchfuhr ihn ein mörderischer Schmerz. Tomalak hätte nie gedacht, daß irgendein Lebewesen in der Lage war, Schmerz so intensiv zu empfinden ohne das Bewußtsein zu verlieren.

   Dann stieß er den Roboter seitlich von sich weg. Er knallte neben ihm auf den Boden. Tomalak richtete sich vorsichtig auf. Der Schmerz war geblieben. Das Atmen fiel ihm jedoch leichter. An seiner linken Seite war der Raumanzug aufgerissen und grünes Blut floß aus einer tiefen Wunde.

  Für Tomalak war das kein Grund in Panik zu verfallen. Kah’lass waren anderes gewohnt. Ein Blick auf sein Kombinationsgerät zeigte ihm, daß sowohl Zusammensetzung der Atmosphäre als auch Außendruck dem Gewohnten entsprach. Er entledigte sich zuerst des zerbeulten Raumhelms, der ihm nur hinderlich war, dann legte er mit einem kleinen Vibratormesser, daß zur Notausrüstung gehörte, die Wunde frei. Aus einer Außentasche des Raumanzugs entnahm er einige medizinische Gegenstände, um das Blut zu Stillen, die Wunde zu klammern und mit Biomolplast zu besprühen. Außerdem nahm er einige schmerzstillende Mittel. Danach ging es ihm sichtlich besser.

  Sein Versuch, den Kampfroboter zu aktivieren scheiterte daran, daß er den Code nicht wußte. So machte er sich zur Zentrale auf, leicht gebeugt und das linke Bein nachziehend. Der Antigravschacht von Deck 3 zu Deck 4 war genauso tot, wie alles hier an Bord. über die Notleiter hangelte Tomalak sich schwer atmend auf das nächste Deck. Danach mußte er sich kurz ausruhen, bevor er das Schott zur Zentrale im Handbetrieb öffnete. Völlig ausgepumpt betrat er die Zentrale. Es war still. Nicht einmal das leise Zischen der Lufterneuerung war zu vernehmen. Die Zentrale war tot. Von der Galerie aus hatte er einen guten Überblick. In der Düsternis der Notbeleuchtung, die durch den schwarzen Panoramabildschirm noch bedrückender wirkte, sah er einen Großteil der Ma’chors bewegungslos in den Kontursessel liegen.

  Für einen Augenblick überfiel ihn Schwäche, schwarze Schatten tanzten vor seinen Augen. Dann hatte er sich wieder im Griff. Als er die Stufen zur Zentrale hinabstieg, sah er das Grauen und das Entsetzen festgemeißelt in den Gesichtern hinter den Helmscheiben.

  Was, so fragte er sich, war mit Ihnen geschehen? War es eine neue Waffe, der sie zum Opfer gefallen waren. Und wenn dem so war, wieso war er dann nicht davon betroffen?

  „Kelorn, Jastros, Elira, Ryghan!“ Er nannte nacheinander ihre Namen, während er sich an ihnen vorbeischob, um zu den Hauptkontrollen zu gelangen. Er nahm sich die Zeit, sie für einen Augenblick genauer zu betrachten. Es war bei allen das gleiche: der pure Wahnsinn schien ihre Gesichtszüge verzerrt zu haben. Sie mußten durch die Hölle gegangen sein. Selbst die Bewußtlosigkeit schien für sie keine Befreiung gebracht zu haben. Aber die Überlebensanzeige in den Raumhelmen zeigte bei allen positive Werte.

  Kurz vor der Hauptkonsole begann die Umgebung vor seinen Augen zu verschwimmen. Tomalak taumelte. Seine Hän­de tasteten nach der Lehne eines Kontursessels, um sich daran festzuhalten. Vergebens. Die Schwäche übermannte ihn. Langsam kippte er nach vorne. Noch einmal konnte er sich an der Hauptkonsole abstützen. Für Augenblicke schälte sich die Kontur des Hauptenergieschalters aus dem wogenden Nebel. Seine Hand umklammerte den Multifunktionshebel, während er langsam nach unten rutschte.

  Tomalak hörte nicht mehr, wie die Generatoren des Raumschiffs zu rumoren anfingen. Er sah nicht mehr, wie die Bordbeleuchtung sich normalisierte. Als die Positronik den Kurs Richtung Varynkor korrigierte und die aufbrüllenden Triebwerke mit Maximalwerten auf Gegenschub gingen, war er bereits nicht mehr bei Bewußtsein.

* * *

  „Die Schlingerbewegungen hören auf! Die ES’COFEER hat wieder direkten Kurs auf Varynkor.“ Während Lormon Denorels Stimme verklang, verschwand das Raumschiff seitlich vom Panoramaschirm der Zentrale. Sternenbilder kristallisierten sich heraus, bewegten sich quer über den Schirm, um schließlich wieder einem grellflammenden Lichtpunkt Platz zu machen, der ES’COFEER. Diesmal wuchs der Punkt langsam heran. „Hier Lormon Denorel! Passe mei­ne Geschwindigkeit der des Raumschiffs an! Schlage vor, auf der Außenhülle zu landen und in das Schiff einzudringen. Seid Ihr damit einverstanden, Erhabener?“

  Tranthar sah, wie Jewon da Carnat die Stirn runzelte. „Canvas!“ bellte er dann. „Die genaue Position der ES’COFEER!“

  Bevor Canvas nur Luft holen konnte, um die gewünschte Position zu verkünden, war Jewon da Carnat schon hinter ihm und las die Werte vom Bildschirm ab. „Über­schreitet gerade Bahn des 3. Planeten, ca. 4 Zeiteinheiten bis zum Eindringen in die Atmosphäre von Varynkor.“

  Jewon da Carnat drehte sich dem großen Panoramaschirm zu. „Nicht auf der Außenhülle landen! Hören Sie, Lormon! Die Zeit ist zu knapp. Begleiten Sie mit Ihren zwei Geschwadern das Schiff! Und feuern Sie sofort, wenn Sie anmessen, daß die Geschütztürme aktiviert werden! Das ist ein Befehl!“

   „Ti’Ghen, Erhabener!“
Zahlreiche Lichtpunkte begannen sich um das Raumschiff zu formieren. Während alle gebannt auf den Panoramaschirm blickten, wagte sich Tranthar zu erheben.

„Erhabener!“ Stieß er hastig hervor. Er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. „Rechnen Sie damit, daß das Raumschiff eine feindliche Besatzung hat?“

  Jewon da Carnat wandte sich ihm mit einer schnellen Bewegung zu. Seine Hände hatte er hinter den Rücken gefaltet, die Schultern leicht nach vorne gebeugt. „Ich kann es nicht ausschließen!“ sagte er. Seine Stimme vibrierte unter der inneren Anspannung. „Aber es ist unwahrscheinlich! Bei der geringsten feindlichen Aktion würden wir das Raumschiff zerstören. Zwei Rhagarns der Naator-Klasse sind mehr als ausreichend!“

  „Und wenn es nun eine Arkon-Bombe an Bord hat?“ machte Tranthar seiner größten Sorge Luft.

  Plötzlich war es ganz still in der Zentrale. Canvas und Vynga hatten aufgehört zu arbeiten. Das bullige Gesicht Jewon da Carnats schien wie aus Stein gemeißelt zu sein. „Dann hofft“, raunte er mit gedämpfter Stimme, „daß uns die She-Huhan beistehen!“

  „Wieso schießen wir das Raumschiff nicht ab, bevor es landen kann?“ Canvas Stimme war von Nervosität geprägt. Tranthar hätte ihn für diese Frage ins Gesicht schlagen können. Tomalak war in dem Raumschiff und viele Bekannte aus den älteren Jahrgängen. Wollte er sie alle auf dem Gewissen haben? Nur der eigenen Sicherheit wegen?

  Doch noch ehe er etwas darauf sagen konnte, antwortete Jewon da Carnat. „Wir sind nicht im Krieg, Canvas! Wenn wir jetzt das Raumschiff zerstören und es war weder eine Arkon-Bombe noch eine feindliche Besatzung an Bord, sondern nur die Prüflinge unserer Raum-Akademie, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht melden konnten, würde uns der Imperator erschießen lassen. Und er hätte recht daran getan. Wir sind hier kein Vorposten der arkonidischen Flotte, der ständig auf der Hut sein muß, sondern eine Raum-Akademie!“

  „Erhabener!“ Tranthar runzelte die Stirn. Wollte Vynga wieder zugunsten von Canvas eingreifen?

  „Noch Einwände, Vynga?“

  „Nein, Erhabener! Die Auswertung des Hypersprungs liegt vor!“

  „Und?“

  „Demzufolge hätte das Raumschiff mit einem Hypersprung eine Entfernung von 196 Lichtjahren überbrückt! Die Positronik hat dieses Ergebnis mit einem Flottenstützpunkt, der etwa 40 Lichtjahre von uns entfernt ist, abgestimmt.“

  „196 Lichtjahre! Die ES’COFEER! Unmöglich!“ entfuhr es Tranthar. 50 Lichtjahre war für diesen Raumschiffstyp die Normalität. Maximal 100 Lichtjahre waren in Ausnahmefällen möglich.

  „Warum nicht?“ Jewon da Carnats Stimme schwang vor Zynismus. „Wenn man lebensmüde ist und alle Energie im Schiff den Hypergenerator zuleitet, wäre das durchaus möglich! Die Chancen, daß der Hypergenerator explodiert und das Raumschiff zerreißt, sind mit 10% gar nicht so hoch!“ Jewon da Carnat stieß die rechte Faust in die linke offene Hand. Ein Zeichen, wie sehr er innerlich erregt war. „Stimmt die Entfernung mit der Position des ausgewählten Sonnensystem überein, Vynga?“

  „Ja! Das Paru-Atan-System ist exakt 196 Lichtjahre von Varynkor entfernt, Erhabener!“

  „Welches System?“

  „Das Paru-Atan-System, Erhabener!“

  „Niemals. Ich kenne das Paru-Atan-System. Es liegt 160 Lichtjahre von Varynkor entfernt!“

  „Seht selbst, Erhabener! Die Positronik gibt als Ziel der ES’COFEER das Paru-Atan-System an und die zugehörigen Koordinaten bedeuten, daß dieses System 196 Lichtjahre von uns entfernt ist!“

  Jewon da Carnats Antlitz verdüsterte sich zusehends, als er sich vom Wahrheitsgehalt der Aussage Vyngas überzeugen lassen mußte. „An dieser Sache ist irgend etwas faul“, fauchte er vor sich hin. „Die Koordinaten sind definitiv falsch. Irgend jemand muß sie falsch eingegeben haben, ob versehentlich oder absichtlich wird sich noch herausstellen, und zwar schon sehr bald!“

  „Erhabener! Die ES’COFEER! Sie tritt jeden Augenblick in die Atmosphäre ein!“ Canvas war sichtlich erregt. Anscheinend hatte die Diskussion um die Arkon-Bombe sein Nervenkostüm schwer belastet. Auch Tranthar bemerkte ein komisches Gefühl in der Magengegend.

  „Die voraussichtliche Eintauchgeschwin­digkeit ist viel zu hoch! Ich transferiere die Daten zu dir, Tranthar! Zwecks Wahrscheinlichkeitsberechnung!“

  „Daten erhalten!“ Irgendwie war Tranthar erleichtert, daß er wieder etwas zu tun bekam. Während er die Daten für die Positronik aufbereitete, befahl Jewon da Carnat den Befehlshabern der Jäger-Rhagarns mit verhaltener Geschwindigkeit in die Atmosphäre einzutauchen und die Landestelle abzuschirmen.

  Die Positronik zeigte Augenblicke später das Ergebnis. Tranthar jagte ein eiskalte Schauder den Rücken herab, als er die Zahlen sah. „Erhabener! Das wird eher ein Absturz als eine Landung. Die Positronik hat mit einer Wahrscheinlichkeit von über 70% errechnet, daß Überlebenschancen nur für diejenigen bestehen, die sich innerhalb der Hauptzentrale aufhalten!“

  Bei den letzten Worten hätte ihm beinahe die Stimme versagt. Jäh war ihm bewußt geworden, was diese Zahlen bedeuteten. Tomalak war für den Maschinenleitstand verantwortlich. Seine Chance zu überleben ging damit gegen Null. ‘Ihr Sternengötter, helft ihm!’ schrie er innerlich auf, dann breitete sich ein taubes Gefühl der Hilflosigkeit in ihm aus.

* * *

  Übergangslos wurde er wach. Der Schmerz pochte wieder an der linken Seite. Und ein infernalisches Dröhnen tobte durch seinen Kopf. Der Bodenbelag drückte sich kühlend an seine Stirn und übertrug das Vibrieren von Aggregaten, die auf Hochleistung liefen. Langsam richtete sich Tomalak auf! Bunte Lichter flirrten über die Kontrollpulte. Das Raumschiff war wieder zum Leben erwacht.

  Er fühlte sich so schwach, wie noch nie in seinem Leben. Jede Bewegung bereitete ihm ungeheure Mühe. Es war ihm, als würde er in einem fremden Körper stecken. Dann fiel sein Blick auf den großen Panoramaschirm. Er wurde fast vollständig von einem Planet ausgefüllt, auf welchen das Raumschiff zuraste. Viel zu schnell, wie Tomalak mit einem Blick auf die Instrumententafel feststellte. Die Form und Lage der Kontinente ließen nur einen Schluß zu. Die ES’COFEER stürzte auf Varynkor zu. Zu oft war Tomalak hier schon gelandet, als daß er dies nicht auf den ersten Blick erkannt hätte. Die Frage nach dem „Warum?“ verschob er auf später. Sein Leben und das der Besatzung stand auf des Messers Schneide.

  So schnell es ihm möglich war, aktivierte Tomalak die Verbindung zur Positronik. Wenige Atemzüge später war er über den Zustand des Raumschiffs informiert. Wie alle Raumschiffe der Raum-Akademie Varynkor, so war auch die ES’COFEER mit einer Notfallprogrammierung ausgestattet. Einmal aktiviert, würde sie mit Hilfe der Positronik das Raumschiff wieder nach Varynkor zurückbringen. Und genau das war geschehen. Doch durch den Energieausfall wurden die Triebwerke zu spät gezündet und der Ausfall der Backbordtriebwerke tat ein übriges. Die Geschwindigkeit war viel zu hoch. Es würde eine Bruchlandung geben. Die Positronik errechnete eine hauchdünne Chance, daß es Überlebende in der Zentrale geben könnte. Trotzdem würde die Landung stattfinden. Die einzigen, welche die Notfallprogrammierung abbrechen konnten, befanden sich in tiefer Bewußtlosigkeit. Und Zeit war keine mehr vorhanden, um sie daraus zu erwecken. Und doch … seine Hand schwebte bereits über der Ruftaste für medizinische Hilfe. Doch er zog sie wieder zurück. Vor seinem geistigen Auge sah er wie bei der Bruchlandung Medoroboter wie Raketen durch die Zentrale schossen und unglaubliche Zerstörungen anrichteten. Nein, medizinische Hilfe hatte momentan keinen Sinn.

  Für einen kurzen Augenblick waren auf dem Panoramaschirm die schattenhaften Konturen zweier Jäger zu sehen, die einen leuchtenden Kometenschweif hinter sich herziehend in die Atmosphäre eintauchten. Die ES’COFEER würde ihnen gleich folgen.

  Tomalak versuchte wider besseres Wissen in die Steuerung der ES’COFEER einzugreifen, um das Raumschiff ganz knapp an Varynkor vorbei in die Unendlichkeit des Alls zu fliegen. Vergebens. Die Steuerung war blockiert. Er wußte nicht, wie er sie wieder funktionsfähig machen konnte. Panik begann sich in ihm einzunisten. Was konnte er noch tun, um einen Absturz zu vermeiden. Er war anscheinend der einzige an Bord dieses Raumschiffes, der noch handlungsfähig war. Er trug die Verantwortung für die bewußtlose Besatzung und diese Verantwortung schien ihn schier erdrücken zu wollen. Doch er konnte die Situation nicht ändern. Er war dazu verdammt, dem Verderben ins Auge zu sehen.

  „Hilf mir, Vrolongrod, Gott des Krieges, der Dunkelwolken und der Energiestürme!“ kam es gepreßt über seine Lippen. Er wußte, daß ihm nur noch ein Wunder retten konnte. Der Kriegsgott der Kah’lass, Vrolongrod, war für solche Wunder bekannt. Tomalak glaubte an diesen Gott. Glaubte an diese Wunder, denn in seinem Weltbild gab es keine Zufälle. Eine seltsame Taubheit durchdrang ihn. Im Bruchteil eines Augenblicks zogen Erinnerungen an ihm vorbei. Das Bild eines Kindes tauchte vor seinem Augen auf. Eine junge Kolonialarkonidin, vielleicht 8 Jahre alt. Sie hatte ihn am Raumhafen eines unbedeutenden Planeten, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, angefleht, ihr zu helfen. Ihre Mutter würde an einem Leiden dahinsiechen, das nur auf Aralon geheilt werden könne. Die Behandlung sei teuer und überstieg die Möglichkeiten der Familie bei weitem. So mußte das Mädchen Geld von Raumfahrern anderer Welten erbetteln. Jetzt fehlte nur noch ein relativ kleiner Betrag. Doch Eile tat not, bald war der Mutter nicht mehr zu helfen.

  Trickbetrug! Das war damals sein erster Gedanke gewesen. Doch dann hatte Tomalak in den dunklen, großen Augen des Mädchens die Verzweiflung und die Hoffnung gesehen und er hatte ihr den Betrag gegeben.

  Gleichsam war es ihm erschienen, als hätte er noch nie in seinem Leben etwas wichtigeres getan, als in diesem Augenblick. Und er, der mit seinen Freunden des öfteren die Vergnügungsviertel seines Heimatmondes unsicher gemacht und sich hammerharte Schlägereien mit anderen Kah’lass geliefert hatte, ihm lief jetzt ein Schauder der Rührung um das Herz, als das Mädchen vor Freude weinend seine Hand küßte und dann eilig davonlief.

  Noch am selben Abend war Tomalak auf Archetz gelandet. In einem der berühmtesten Waffengeschäfte des Planeten hatte er einen wunderschönen Handstrahler mit Intarsienarbeiten am Griff erstanden. Völlig überraschend und ohne jeglichen Grund hat­te ihm der Geschäftsführer einen Nach­laß gewährt. Einen Nachlaß, der genauso groß war, wie der Betrag, den er dem Mädchen gegeben hatte.

  Seitdem war eines für Tomalak klar: Es gab keine Zufälle. Alles in diesem Universum hatte seinen Sinn. Und es gab diese Mächte, die hinter den Kulissen unbemerkt die Fäden zogen: Die She-Huhan!

  Die ES’COFEER raste durch die ersten Ausläufer der Atmosphäre. Ein Zittern durchlief das Schiff und ein helles durchdringendes Summen. Tomalak empfand dies, als wolle das Raumschiff bereits den Todesgesang anstimmen. Eiseskälte umklammerte sein Herz und ließ das Blut in seinen Adern stocken. Dann befreite er sich von seiner Angst und seine Hand krachte auf die Hauptkonsole. Knisternd legte sich der Schutzschirm um das Schiff.

* * *

  Vynga spürte eine quälende Unruhe in sich. In Gedanken verfluchte Sie Tranthar. Seit er eine Arkon-Bombe an Bord der ES’COFEER vermutet hatte, konnte sie an nichts anderes mehr denken. Sicher, Arkon-Bomben wurden von den imperialen Streitkräften unter Verschluß gehalten. Es war sehr unwahrscheinlich, daß eine abhanden kam. Und doch… ein wenig Einfluß an der richtigen Stelle und eine größere Summe in die richtigen Taschen gesteckt, mochten das Unmögliche möglich machen.

  Würde nicht andererseits ein geübter Attentäter es vorziehen, der ES’COFEER eine solche Bombe an Bord zu schmuggeln, anstatt das Risiko einzugehen, daß das auf keinen Funkanruf reagierende Raumschiff vor dem Ziel abgeschossen wurde?

  Verunsichert wischte sich Vynga einige Haarsträhnen aus der Stirn. Ein Blick zu Chanvas belehrte sie, daß der Zaliter noch schwerer unter der Ungewißheit litt, als sie. Er kaute nervös auf seinen Lippen und die Stirn war von Schweißperlen bedeckt. Ihr Blick wanderte zu Jewon da Carnat. Vielleicht konnte sie an seiner Reaktion sehen, ob Gefahr für die Raumakademie bestand. Gerade beugte er sich zu Tran­thar hinab, um etwas auf dessen Bildschirm abzulesen. Vynga sah, wie beide leise ein paar Worte miteinander wechselten. Dann drehte Tranthar seinen Kopf und ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Er lächelte.

  Hatte Tranthar bemerkt, daß sie verunsichert war? Instinktiv fühlte sie eine Woge der Abwehr in sich hochspülen. Sie durfte sich keine Blöße geben. Nicht vor ihm, der sie schon einmal vor ihrem Vorgesetzten blamiert hatte.

  Tranthar schien diese Abwehr zu spüren. Sein Lächeln verschwand. Auf seiner Stirn entstanden Falten, die Nachdenklichkeit ver­mittelten. Ja, Nachdenken hatte er bitter nötig. Vielleicht würde sich sein Verhalten anderen Ma’chors gegenüber ändern. Doch Vynga glaubte nicht so recht daran.

  Jewon da Carnat richtete sich auf. „Vynga!“ sagte er entschlossen. „Sie übernehmen jetzt das Kommando. Ich werde die Rettungsaktion leiten!“ Während er schnellen Schrittes die Zentrale verließ verständigte er bereits die in Bereitschaft stehenden Ma’chors des Rettungstrupps. Vyngas vor Überraschung gehauchtes „Ti’Ghen, Erhabener!“ erreichte ihn nicht mehr.

  Ihr war, als würde ihr jemand die Luft abschnüren. Sie verstand nicht, wie Jewon da Carnat im Augenblick höchster Gefahr die Zentrale verlassen konnte. Er hatte nun ihr die ganze Verantwortung aufgebürdet, und das in einem Moment, in welchem sie niemals damit gerechnet hatte. Was, so fragte sie sich, sollte sie jetzt tun?

  Die ES’COFEER befand sich kurz vor dem Eintritt in die Atmosphäre. War dieses Raum­schiff als Werkzeug eines Attentäters oder als Notfall einzustufen? Jede ihrer Entscheidungen konnte zu einer Katastrophe führen!

  Weshalb hatte Jewon da Carnat die Zentrale verlassen? Sie wußte, die Antwort auf diese Frage war für sie sehr wichtig. Zuletzt hatte er mit Tranthar gesprochen. Tran­thars letzte Berechnung galt der wahrscheinlichen Landegeschwindigkeit des Raum­schiffs und der Überlebens­chance der Besatzung. An den Werten zu dieser Berechnung hatte sich in der Zwischenzeit jedoch nichts geändert. Es mußte etwas anderes sein. Was war bei der Landung eines Raumschiffs noch von Bedeutung? Bei den Tempeln der Dryhanen, was?

  Der voraussichtliche Aufschlagpunkt? Nein! Das war zweifellos der Raumhafen. Andernfalls hätte sie Jewon da Carnat informiert. Es wäre denn….. Ein ungeheurer Verdacht stieg in ihr auf und brachte ihre Gedanken ins Stocken. Sollte vielleicht Tran­­­thar ihr absichtlich die Information vorenthalten haben? Wenn der voraussichtliche Aufschlagpunkt des Raumschiffs nicht der Raumhafen war, dann wäre die Handlungsweise von Jewon da Carnat zumindest ansatzweise verständlich. Ein Attentäter würde natürlich versuchen, die Bombe mitten ins Zentrum zu plazieren, um so viel Schaden wie möglich anzurichten. Lag der voraussichtliche Aufschlagpunkt außerhalb des Zentrums, wäre die Notfall-Theorie die wahrscheinlichere.

  Ein Blick zu Tranthar schien ihren Verdacht zu bestätigen. Er hatte sie anscheinend schon die ganze Zeit beobachtet. Sein Lächeln war gelinde gesagt provozierend. „Tranthar!“ rief sie mit mühsam unterdrücktem Zorn. „Gibt es schon eine Wahrscheinlichkeitsberechnung über den Aufschlagpunkt?“

  „Ti’Ghen, Erhabene!“ Für Vynga waren diese Worte purer Hohn. „Das Raumschiff wird voraussichtlich 25 Tarkas vom Raumhafen der Akademie entfernt aufschlagen. Der Unsicherheitsradius beträgt 12 Tarkas.“

  Während Vynga an der Oberfläche ruhig blieb, wallte der Zorn in ihrem Innern. Tranthar hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Werte vom Bildschirm abzulesen. Für sie war es klar. Tranthar lagen die Werte schon länger vor. Er hatte sie absichtlich im Ungewissen gelassen. Vielleicht hatte er gehofft, daß sie einen Fehler begehen würde. Mehandor lebten in einem Patriarchat. Es mochte sein, daß es Tran­thar ein Dorn im Auge war, ausgerechnet einer Frau unterstellt zu sein. Welche Motivation auch immer für sein Handeln verantwortlich war, so konnte es nicht weitergehen. Nach seinem ersten Mißgriff, hatte sie sich begnügt, ihm aus dem Wege zu gehen und nur mit ihm zusammen zu arbeiten, wenn es unbedingt sein mußte. Jetzt aber war sie bereit, aktiv etwas gegen ihn zu unternehmen. Tranthar würde schon sehr bald merken, daß er sich an die ungeschriebenen Regeln der Akademie zu halten hatte, wenn er nicht untergehen wollte.

* * *

  Es war Tranthar etwas flau im Bauch gewesen, als Jewon da Carnat von ihm verlangt hatte, die Information über den voraussichtlichen Aufschlagpunkt nur dann weiterzugeben, wenn sich Vynga direkt danach erkundigte oder wenn es die Situation erforderte. Anscheinend wollte der Ausbilder testen, wie Vynga im Ernstfall agieren würde.

  Jewon da Carnat hatte selbstverständlich direkten Zugriff auf das Kommunikationsnetz in der Zentrale und war so über alles informiert, was nach seinem Weggang in der Zentrale gesprochen wurde. Er konnte jederzeit eingreifen. Deswegen verbot es sich von selbst, Vynga akustisch einen Hinweis zu geben. Und helfen wollte er ihr unbedingt. So beschränkte er sich darauf Blickkontakt mit ihr zu suchen und sie herausfordernd anzulächeln.

  Vynga war auf den richtigen Gedanken gekommen. Allerdings zeigte sie mit keiner Miene an, ob sie auch die richtigen Schlüsse daraus gezogen hatte. Sie wirkte kühl und verschlossen, so als wollte sie niemandem zeigen, wie es in ihrem Inneren aussah.

  „Die ES’COFEER tritt soeben in die Atmosphäre ein!“ Canvas hatte seine sprichwörtliche Ruhe wiedergefunden.

  Vynga wandte sich ihm zu. „Eintritts­ge­schwindigkeit?“

  „Unverändert zu hoch!“

  Wieder krampfte sich in Tranthar etwas zusammen. Tomalak, dachte er, das Verhängnis naht. Und ich kann nichts tun, um dir zu helfen.

  Der Panoramaschirm zeigte die ES’CO­FEER inzwischen nur noch schemenhaft, da sie von ionisierter Luft umgeben war, die sie als leuchtenden Schweif hinter sich her zog. Das Gesicht des kommandierenden Rhagarnführers wurde eingeblendet. „Hier Lormon Denorel. Die ES’CO­FEER hat soeben den Schutzschirm aktiviert! Bleibt der Nur-Beobachten-Befehl weiterhin gültig?“

  „Hier Vynga del Norlaan! Befehl bleibt unverändert. Wahrscheinlicher Aufschlagpunkt ist mindestens 12 Tarkas von Akademie und Raumhafen entfernt. Es spricht alles dafür, daß es sich um einen echten Notfall handelt. Jewon da Carnat ist bereits mit einem Rettungstrupp unterwegs. Schirmen sie wie besprochen das Gelände nach der Landung weiträumig ab!“

  „Ti’Ghen, Vynga del Norlaan!“

  Erstaunt sah Tranthar, daß Vynga mit überraschender Selbstsicherheit auftrat. Jewon da Carnat hätte vermutlich nicht anders reagiert. Eine starke innere Kraft schien sie plötzlich anzutreiben.

  Canvas unterbrach ihn in seinen Gedanken. „Sieh dir das an, Tranthar! Es gibt hier eine merkwürdige Abweichung zwischen der errechneten und der tatsächlichen Geschwindigkeit des Raumschiffs! Kannst du die Differenz hochrechnen?“

  Auf Tranthars Bildschirm erschienen die beiden Kurven. Die Abweichungen waren minimal jedoch vorhanden. Und… sie zeigten wachsende Tendenz. Tranthar machte sich mit Eifer an die Arbeit, während die ES’COFEER unaufhaltsam der Oberfläche Varynkors entgegenfiel.

  Schließ­­­lich erschien das Berechnungsergebnis. Es zerstörte die hochgesteckten Erwartungen, war aber trotzdem ein Grund zur Freude. „Die Geschwindigkeit ist immer noch zu hoch, für eine normale Landung,“ berichtete er den anderen, „aber die Überlebenschancen für die Besatzung sind jetzt beträchtlich gestiegen!“

  Vynga zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. „Woher kommt diese Abweichung, Tranthar? War die Hochrechnung zu ungenau?“

  Tranthars Blutdruck ging augenblicklich hoch. Doch bevor er noch auf die vermeintliche Unterstellung einer Fehlleistung reagieren konnte, hatte Canvas das Wort ergriffen.

  „Nein! Vynga! Die Hochrechnung ist in Ordnung. Aber, wer immer auch die ES’COFEER fliegt, er hat eine Möglichkeit gefunden, die Geschwindigkeit zusätzlich zu reduzieren. Meine Nahortungsgeräte zeigen, daß der Schutzschirm um das Sechsfache ‘aufgeblasen’ wurde. Er hat jetzt einen Durchmesser von 300 Quars. Entsprechend hat sich der Reibungswiderstand der Luft gesteigert und die Geschwindigkeitsdifferenz verursacht. Wer immer diese Kiste fliegt, er hat wenig Einflußmöglichkeit, sonst wäre er in einem Orbit gegangen oder an Varynkor vorbeigeflogen, bis die Geschwindigkeit auf den notwendigen Wert reduziert ist. Auf die Idee, den Schutzschirm ‘aufzublasen’ wäre ich aber nicht gekommen, die ist genial!“

  Tranthar stieß die Luft langsam und laut hörbar aus, um seine innere Erregung niederzukämpfen. So viele Worte auf einmal hatte Chanvas schon lange nicht mehr von sich gegeben. Der sonst so ruhige Zaliter mußte sehr beeindruckt sein, was man von Vynga nicht behaupten konnte. Es schien nichts zu geben, was sie zu einer Gefühls­äußerung bewegen konnte. War es die große Last der Verantwortung, die sie so verändert hatte?

  „Achtung!“ dröhnte Canvas Stimme durch den Raum. „Nur noch wenige Sekunden bis zum Aufschlag! Aufschlagpunkt ca. 32 Takas von der Raum-Akademie entfernt. Alle Blicke richteten sich auf den Panoramaschirm.

  Die ES’COFEER war wieder klar zu erkennen. Lormon Denorel filmte von schräg oben. Die Triebwerke arbeiteten immer noch mit voller Leistung und entfachten außerhalb des Schutzschirms einen Orkan. Der Boden, eine Hügellandschaft mit vereinzelten Baumbeständen, schien auf das Raumschiff zuzuspringen. Die Landestützen waren bereits ausgefahren.

  Ein letzter Impulsstoß aus den Triebwerkskammern, dann wurden die Triebwerke aus Sicherheitsgründen abgeschaltet. Der ‘aufgeblasene’’ Schutz­schirm berührte die Erde, versenkte einige hundert Quadrat-Quars Grasfläche und zerplatzte dann wie eine Seifenblase. Die Auflageteller durchstießen die Ascheschicht und gruben sich in die lockere Erde. Zu langsam für die 6 Teleskoplandestützen. Mit einem infernalischen Kreischen bogen sie sich durch, um anschließend zu brechen. Der Kugelkörper prallte auf den Boden, schleuderte Asche und Erde in die Luft. Bruchteile von Augenblicken später durchstieß er die Wolke wieder, überschlug sich und prallte etliche Quars später wiederum auf den Boden. Teile des Ringwulst lösten sich, sirrten als Trümmerstücke durch die Luft. Erneut wirbelte der Kugelkörper über den Boden und schlug in die steile Flanke eines Hügels ein. Arkonstahl stieß auf Granit, zerpulverte die ersten Schichten. Dann war die kinetische Energie verbraucht. Das Raumschiff rollte um ca. 250 Derv nach hinten und blieb liegen. Die Bodenschleuse zeigte schräg in den Himmel.

  Ein tiefer Riß zog sich vom zerfetzten Ringwulst bis zur Bodenschleuse. Flüssigkeit tropfte hervor. Die Übertragung von Lormon Denorels Jäger war hervorragend. Er schwebte mit Hilfe des Antigravtriebwerks direkt über der Unglücksstelle. Tranthar glaubte direkt am Ort des Geschehens zu sein. Automatisch hielt er einige Zeit die Luft an. Dann, als weder eine Explosion die ES’COFEER erschütterte noch irgendwo ein Brand ausbrach, atmete er erleichtert aus. „Das sieht gar nicht so schlecht aus“, rief er. „Ich glaube, sie haben es geschafft!“

  „Ja, das haben sie!“ bestätigte Canvas. „Aber ganz ohne Tote und Verletzte wird es nicht abgegangen sein. Ich bin froh, daß ich nicht an Bord bin!“

  Tranthar fluchte innerlich. Er wußte, daß Canvas recht hatte. Noch war nicht gesagt, daß Tomalak und all die anderen mit dem Leben davongekommen waren. Instinktiv erwartete er, daß eine der dem Erdboden naheliegenden Schleusen aufging und die Besatzung Mann für Mann ins Freie kletterte. Doch so intensiv er darauf hoffte, es blieb alles ruhig.

  „Tranthar!“ Vyngas Stimme hatte einen leicht ätzenden Unterton. „Sind die genauen Koordinaten der Aufschlagstelle dem Rettungstrupp schon bekannt?“

  Tranthar biß sich vor Ärger auf die Unterlippe. Daran hatte er nicht gedacht. „Nein!“ mußte er zugeben. Ich übermittle sie jetzt!“ Es war ihm besonders unangenehm, daß er sich von Vynga hatte ermahnen lassen müssen. Und dieser Unterton! Als Mehandor war er gewohnt, bei der Analyse des Gemütszustands seines Verhandlungspartners auch auf die Stimme zu achten. Irgend etwas schien Vynga zu bedrücken. Wenn er nur wüßte, was?

  Es dauerte nicht lange, da erschienen drei schwere Gleiter des Rettungstrupps auf dem Bildschirm. Einer der Gleiter war mit dem monströsen Aufbau einer Löschvorrichtung ausgestattet. Die Gleiter landeten. Männer in Fluganzügen drangen durch den Riss in die ES’COFEER ein. Die Funkzentrale hatte inzwischen auf die Frequenz des Rettungstrupps umgeschaltet, so daß die Zentralebesatzung die Gespräche zwischen den Mitgliedern des Rettungstrupps hören konnten.

  So war Tranthar bald informiert, daß Tomalak gefunden worden war. Er war als einziger der Besatzung bei Bewußtsein aber nicht vernehmungsfähig. Eine Verletzung in der Bauchgegend mit hohem Blutverlust, einige Prellungen und eine deftige Gehirnerschütterung, aber keine Lebensgefahr, so die Schnelldiagnose. Überhaupt hatte die 20köpfige Besatzung ausgesprochenes Glück gehabt. Sie hatten alle überlebt. Es gab drei Schwerverletzte, die in den Außenregionen gefunden wurden, und zwölf Leichtverletzte. Das Raumschiff war in den Innenbereichen stärker verwüstet, als es von außen ahnen ließ. Es würde wohl auf die Verlustliste der Raum-Akademie gesetzt werden.

  Dann wurde die Besatzung auf Antigravbahren von Bord gebracht. Lormon Denorel hatte die Bordkamera auf den Riss eingestellt und gezoomt, so daß jedes Besatzungsmitglied in Großaufnahme auf dem Panoramaschirm zu sehen war. Als Tomalak von Bord gebracht wurde, und er verdrießlich die Augen zusammenkniff, weil ihm die Nachmittagssonne ins Gesicht schien, da war es für Tranthar der schönste Anblick, an den er sich je erinnern konnte.

* * *

  Es war kurz vor der Dämmerung. Tranthar hatte gerade die Schießstände verlassen und war auf dem Weg zu seinem Quartier. Er war mißgelaunt. Das hatte verschiedene Gründe. Seit zwei Tagen versuchte er vergeblich Tomalak zu sprechen oder in der Akademie-Klinik zu besuchen. Sein Ansinnen war wegen äußerster Geheimhaltung abgelehnt worden.

  Einer der Gründer der Raum-Akademie Varynkor, Antor del Kolamir, hatte am frühen Nachmittag eine Versammlung einberufen, in der die Vorkommnisse um die ES’COFEER erklärt werden sollten. Tranthar hatte sich viel von der Eröffnung versprochen. Doch er wurde enttäuscht. Die ES’COFEER war in dem Zielsystem aus einem Asteroidengürtel beschossen worden und hatte einen Treffer erhalten. Die Besatzung hatte schnell reagiert, den Schutzschirm aktiviert und die Triebwerke auf Maximalbeschleunigung geschaltet. Da sie mit einer Verfolgung rechnen mußten, hatten sie die Entfernung von ca. 200 Lichtjahren zum Harrekatam-System in einer Transition überwunden. Nachdem die ES’COFEER standardmäßig nur für Sprünge bis zu 50 Lichtjahren, maximal bis zu 100 Lichtjahren ausgelegt war, wußte die Besatzung, daß sie die Transition nicht überstehen würde, ohne das Bewußtsein zu verlieren. Also aktivierten sie das Notprogramm zur Rückführung des Raumschiffs auf seinen Heimathafen Varynkor. Was sie nicht bedacht hatten war, daß die Transition die gesamte Energie des Raumschiffs verbrauchte. Der Energiefluß war so gewaltig, daß Überlastsicherungen reagiert und die gesamte Energieerzeugung im Schiff lahmgelegt hatten. Die Transition war gelungen, die ES’COFEER aber energetisch tot.

  Tomalak, der aufgrund des Beschusses, unter einem Kampfroboter begraben worden war, hatte bereits vor der Transition das Bewußtsein verloren. Er hatte den Transitionsschock nicht mitbekommen und war kurz danach aus seiner Ohnmacht erwacht. Trotz erheblicher Verletzungen hatte er sich zur Zentrale geschleppt und die Energieversorgung eingeschaltet. Die Notprogrammierung hatte sofort reagiert, das Raumschiff abgebremst und auf Kurs gebracht. Da durch den Treffer ein Teil der Triebwerksdüsen ausgefallen und zudem das Bremsmanöver zu spät eingeleitet worden war, drohte das Raumschiff auf Varynkor zu zerschellen. Durch die Idee Tomalaks, den Schutzschirm bis auf den maximal möglichen Wert ‘aufzublasen’ und durch die Luftreibung die Geschwindigkeit der ES’CO­FEER weiter zu senken, wurde daraus ein gemäßigter Absturz. Alle Besatzungsmitglieder überlebten.

  Über den Feind, der hinter dem Beschuß steckte war nichts bekannt. Fragen waren nicht zugelassen.

  Danach ermahnte Antor del Kolamir die Versammelten, sich an Tomalak pas Meramar ein Beispiel zu nehmen. Durchhaltevermögen, Verantwortungsbewußtsein, Ideen­­­reichtum und Reaktionsschnelligkeit, das seien Eigenschaften, die ein Absolventen der Raum-Akademie unbedingt besitzen müsse.

  Es versöhnte Tranthar ein wenig, daß Tomalak öffentlich als positives Beispiel dargestellt worden war. Ein Rundblick in die Gesichter von Arkoniden mächtiger Familien zeigte ihm aber, daß kaum Bereitschaft vorhanden war, die Leistungen eines Kah’lass auch entsprechend anzuerkennen. Im Gegenteil, diejenigen, deren Familien sie nur nach Varynkor gesendet hatten, um den Imperator SARAN III. ein Zeichen des guten Willens zu geben, die aber selbst davon überzeugt waren, nur Arkoniden reinster Abstammung dürften auf einer arkonidischen Raum­akademie Zutritt erhalten, diejenigen schienen fester von ihrer vorgefaßten Meinung überzeugt als je zuvor.

  Selten hatte Tranthar so unbefriedigt eine Versammlung verlassen. Kein Wort, ob die ES’COFEER von einer Bodenstation oder von einem Raumschiff aus beschossen worden war. Aus den Schäden, die der Treffer angerichtet hatte, konnte man doch feststellen, welche Energieart verwendet worden war, welche Idensität sie gehabt haben mußte und welche Raumschiffstypen mit solchen Waffen bestückt waren. Bereits jetzt mußten Ergebnisse vorliegen.

  Der zweite Punkt war die Notprogrammierung. Warum hatte sie das Raumschiff nicht an Varynkor vorbeigeflogen oder es in einen Orbit um Varynkor gelenkt, bis die Geschwindigkeit für eine Landung niedrig genug war? Was hatte eine Notprogrammierung für einen Sinn, wenn Sie das Raumschiff samt Besatzung auf einen Planeten abstürzen ließ? Nein, irgend etwas stimmte da nicht. Irgend etwas wurde von der Leitung der Raum-Akademie verheimlicht.

  Weiter frustrierte Tranthar, daß die einzigen Ma’chors zu denen er neben Tomalak eine Art Kameradschaft aufgebaut hatte, für ihn momentan nicht erreichbar waren. Er konnte mit niemand über die letzten Ereignisse sprechen.

  Tranthar erreichte die Abzweigung, die vom Hauptgang zu den Quartieren der Ma’chors seines Jahrgangs führten. Als er um die Ecke bog, kam ihn Jelyn del Cronoth entgegen, eine Kolonialarkonidin von Gelorn II. Auf diesem Planet war die Macht der Familie gebrochen und die Verantwortung war auf das einzelne Individuum verteilt worden, so auch auf die Frauen. Ein beliebtes Thema von Jelyn, wenn sie ab und zu mit Tranthar an einem Tisch in der Kantine saß, war „Das Leben der Frauen im Patriarchat der Mehandor“. Jelyn wollte einfach nicht begreifen, daß die Frauen in den Sippen der Mehandor beschützt waren, sich in ihrer Aufgabenteilung mit den Männern wohlfühlten und sich nicht selbst verwirklichen wollten, von Ausnahmen natürlich abgesehen. Gegensätzlicher konnten die Meinungen nicht sein. Aber Jelyn und er respektierten sich gegenseitig. Schließlich verband sie eines: Weder er als Mehandor noch Jelyn als Frau bzw. Kolonialarkonidin hätten jemals eine Chance gehabt, eine arkonidische Raum-Akademie zu besuchen, wenn nicht SARAN III. Imperator geworden wäre und die Raum-Akademie auf Varynkor gegründet hätte.

  Jelyn war als Frau eine durchaus angenehme Erscheinung. In der blauen enganliegenden Uniform kam ihre Figur voll zu Geltung. Ein übriges tat ihr ausdrucksvolles Gesicht mit den vollen Lippen, umrahmt von braunen, schulterlangen gekräuselten Haar. Ein Grund vielleicht, daß er sich manchmal von ihr Theorien anhörte, für die ihn normalerweise die Zeit zu schade gewesen wäre.

  Jelyn schien in Gedanken versunken den Blick auf den Boden gerichtet. „Hallo, Jelyn!“ sprach Tranthar sie an, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. „Warst du heute auch auf der Versammlung?“

  Die Frage blieb unbeantwortet. Jelyn schritt ohne ihren Blick zu heben an Tranthar vorbei.

  Das konnte doch nicht sein, daß sie ihn nicht gehört hatte. Tranthar blieb völlig verwirrt stehen und drehte sich nach ihr um. „Heh! Jelyn!“ rief er. „Ich bin es, Tranthar! Kennst du mich plötzlich nicht mehr!“

  Jelyn zeigte keinerlei Reaktion und schritt weiter ihres Weges. Bei der Abzweigung verschwand sie aus Tranthars Gesichtsfeld. Tranthar war erschüttert. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Jelyn hatte ihn absichtlich ignoriert. Aber warum? Jetzt nach diesem Erlebnis erinnerte er sich, daß er vor zwei Tagen schon einmal in der Kantine einige Arkonidinnen gegrüßt hatte, ohne daß sie reagiert hatten. Er hatte vermutet, daß sie ihn vielleicht nicht gesehen hatten. Jetzt sah er dieses in einem anderen Licht.

  Er konnte sich nicht daran erinnern, daß er einer von ihnen etwas Böses angetan hatte. Von den arkonidischen Männern war er es ja gewohnt, daß sie ihn wie den letzten Dreck behandelten. Mit Arkonidinnen und Kolonialarkonidinnen konnte er dagegen bisher gut zusammenarbeiten. Weshalb ignorierten sie ihn plötzlich? Und Vynga? Würde sie ihn auch ignorieren? Dieser Gedanke war ihm unerträglich. Er hatte sie seit dem Absturz der ES’COFEER nicht mehr gesehen.

  Jemand bog in den Seitengang ein. Es war Kerasor, der Tamanari. „Heh! Tran­thar!“ rief er. Du siehst aus, als wäre dir ein leibhaftiger Methanathmer über die Füße gelaufen?“ Auf seinen Lippen spielte ein sympathisches Lächeln. Die kurzen braunen Haare waren allerdings gewöhnungsbedürftig und entsprachen nicht dem letzten Stand der Arkon-Mode.

  „Es war ein weiblicher Maahk namens Jelyn Cro-Oth“, seufzte Tranthar. Du müßtest ihr begegnet sein. Sie behandelt mich plötzlich als wäre ich Luft.“

  „Mach dir nichts daraus, Tranthar! Frauen haben so ihre Launen. Morgen kann das schon wieder ganz anders aussehen!“

Noch ehe Tranthar etwas darauf erwidern konnte, packte ihn Kerasor am Arm und zog ihn mit sich fort. „Es gibt Neuigkeiten, Tranthar!“ wisperte er. „Schnell in mein Quartier!“

  Tranthar war neugierig geworden. Er ließ es geschehen, daß Kerasor ihn durch die Tür des nahegelegenen Quartiers zog, vorbei an den hochgeklappten und in der Wand versenkten Antigrav-Liegen, vorbei an den versenkten Wandschränken, vorbei an der Sitzgruppe mit den Trivideo-Kubus bis hin zur vollrobotischen Naßzelle. Kerasor schaltete die Robotsteuerung aus und stellte im Handbetrieb die Körperdusche ein. Er schloß die Tür der Naßzelle nicht ganz, so daß das prasselnde Geräusch von zerstäubenden Wasserstrahlen den Wohnraum durchdrang.

  „Was soll der Blödsinn? fragte Tranthar.

  „Eine reine Sicherheitsmaßnahme gegen Abhörversuche. Du wirst gleich verstehen warum! Alles was ich dir jetzt erzähle, ist streng geheim! Aber ich muß sicher sein, daß du deinen Mund hältst. Wenn irgend jemand erfährt, daß ich dir geheime Informationen weitergegeben habe, fliege ich von der Raum-Akademie. Kann ich mich auf dich verlassen?“

  Tranthar nickte. „Die Frage war überflüssig“, meinte er. „Bei all dem, was wir schon zusammen erlebt haben, solltest du mich eigentlich kennen. Also fang’ schon an!“.

  Kerasor musterte Tranthar noch einmal mit einem prüfenden Blick. „Also gut!“ sagte er dann. „Wir waren heute bei Jewon da Carnat. Er hat uns auf einen Einsatz vorbereitet. Wir sollen das Paru-Atan-System nach dem Raumschiff absuchen, das auf die ES’COFEER geschossen hat.“

  „Wieso Raumschiff? In der Versammlung hat es geheißen, daß überhaupt nichts über den Feind bekannt sei.“

  „Sie wissen einiges, aber leider noch nicht genug! Es handelt sich um einen arkonidischen Kugelraumer mit 200 Quars Durchmesser. Herkunft unbekannt. Er trug keinerlei Kennzeichnung. Mit seinem Polgeschütz wurde auf die ES’COFEER geschossen. Aber das ist noch nicht alles.“

  „Was gibt es denn noch? Mach’ es nicht so spannend!“

  „Nun, das ganze war nicht etwa nur ein Überfall auf ein Raumschiff, sondern ein gezielter Anschlag auf die Raum-Akademie Varynkor. Auf der ES’COFEER sollte ursprüngliche Antor del Kolamir, einer der beiden Gründer der Raum-Akademie, mitfliegen. Die Koordinaten des Paru-Atan-Systems wurden in der Zentralpositronik gefälscht. Die ES’COFEER sprang in das falsche System und wurde dort schon erwartet. Die Notfallprogrammierung wurde übrigens ebenfalls verändert. Und das nicht nur auf der ES’COFEER.“

  „Aber das ist unmöglich! Niemand kann Daten in der Zentralpositronik ändern, ohne daß dies Alarm auslösen würde!“ Tranthar wußte, wovon er sprach. Schließlich hatte er auf der Raum-Akademie alle Fächer belegt, die mit dem Thema Positronik zu tun hatten.

  „Nichts ist unmöglich!“ Kerasor stieß ein gequältes Lachen aus. „Irgend jemand hat auf unserer Raum-Akademie eine Spitzenkraft auf diesem Gebiet eingeschleust. Einen Saboteur, der das Geschwür Varynkor aus dem Imperium entfernen soll. Und zwar so, daß es niemand bemerkt.“

  „Hmh!“ Tranthar zwirbelte seinen linken Bartzopf zwischen den Fingern. „Und weil man den Saboteur in Sicherheit wiegen will, hat Antor da Kolamir während der Versammlung nur die halbe Wahrheit erzählt!“

  Kerasor nickte. „Du weißt das gestern die VAYLOR gelandet ist, ein 500-Quars-Trägerschiff der FUSUF-Klasse?“

  „Ja! Und ich bin froh darüber, daß die Zeit endlich vorbei ist, in der Varynkor von Raumschiffen entblößt war.“

  „Du freust dich zu früh, Tranthar!“ Kerasor schlug ihm freundschaftlich auf die Schultern. „Denn morgen wird sie mit den vier Beibooten und vier Jäger-Rhagarns der NAATOR-Klasse an Bord sehr früh in Richtung Paru-Atan-System starten. Wohlgemerkt in das falsche Paru-Atan-System.“

  Tranthars Gesicht reizte Kerasor zum Lachen. „Keine Angst, Tranthar! Wer einen Saboteur einschleust, wird Varynkor nicht in aller Öffentlichkeit angreifen.“

  Tranthar winkte seufzend ab. „Wer außer dir ist noch mit dabei?“ wollte er wissen.

  „Charrut, Pereth, Trimor, Auris, Areg­na­tha, Taneth und Roffa. Wir sind neben dem Kommandant der VAYLOR die einzigen die eingeweiht sind. Jewon da Carnat hat uns gesagt, daß jeder einzelne von uns einem Psychotest unterzogen worden ist.“

  Kerasor sah auf sein Multifunktionsarmband. „Charrut wird gleich hier sein“, sagte er hastig. „Es wäre mir lieb, wenn er dich nicht hier vorfinden würde. Er könnte sich einiges Zusammenreimen.“

  „Ist in Ordnung!“ Tranthar faßte Kerasor an beide Schultern, sah ihn in die Augen und sprach den traditionellen Abschiedsgruß der Mehandor: „Über Euch den Schutz der She-Huhan!“ Dann drehte er sich um und verließ den Raum. Kerasor sah ihm nachdenklich hinterher.

  Der Gang war leer. Während Tranthar die wenigen Schritte zu seinem Quartier hinter sich brachte, fragte er sich, wieso Kerasor dieses Risiko eingegangen war. Sicher, sie kannten sich schon fast ein Jahr und sie konnten auf viele gemeinsame Erlebnisse zurückschauen, die sie verband. Aber niemand würde deswegen seine Karriere aufs Spiel setzen. Kerasor hatte etwas damit bezweckt. Er war politisch aktiv und hatte sich viel vorgenommen. Er brauchte Leute, die ihn unterstützten, Freunde, Partner, denen er vertrauen konn­te. Vielleicht wollte Kerasor ihn für sich gewinnen und hatte heute in die Zukunft investiert. Tranthar fand nichts ehrenrühriges dabei, schließlich war Kerasor kein Mann, der jemand ausnutzte. Er gab mehr, als er nahm.

  Tranthar legte die Hand auf das Impulsschloß. Die Tür zu der Unterkunft, die er sich mit Tomalak teilte, glitt auf und der Raum wurde in helles Licht getaucht.

  Das erste, was Tranthar sah war, daß der Raum nicht mehr so war, wie er ihn heute morgen verlassen hatte. Tomalaks A-Grav-Liege war aus der Wand geklappt, die Decke darauf zerwühlt. Die Tür zu seinem Wandschrank stand offen, einige Taschen lagen davor am Boden. Die vollrobotische Naßzelle, die den Dimensionen eines Kah’lass Rechnung trug, stand offen, war aber leer. Auch sonst war niemand im Raum.

  „Den Sternengöttern sei Dank, Tomalak ist wieder hier!“ seufzte Tranthar erleichtert bevor er den Raum betrat und die Tür sich zischend hinter ihm schloß. Anscheinend war die Verletzung verheilt und die Geheimhaltung aufgehoben. Tranthar ging zum Trivideo-Kubus und schaltete ihn ein. Vielleicht hatte Tomalak eine Nachricht hinterlassen, wo er sich momentan befand.

  Richtig, Tomalaks Kopf erschien in dem Kubus. „Hallo, Tranthar!“ sagte er. „Ich bin heute morgen aus der Klinik entlassen worden. Ich sollte mich noch zwei Tage ausruhen. Aber gegen abend ging es mir furchtbar schlecht. Ich habe Blut gebrochen. Das war mir so unheimlich, daß ich die Klinik verständigt habe. Sie holen mich jeden Moment ab. Schade, daß wir uns heute nicht mehr sehen werden.

  Der Trivideo-Kubus erlosch. Tranthar war wie vor dem Kopf geschlagen. Das klang mehr als besorgniserregend. Wenn ein Kah’lass sagte, daß es ihm schlecht ging, waren andere schon gestorben.

  Er war um Tomalak so besorgt, daß er in der Klinik anrief. Dort hörte er nur, der Patient dürfe nicht gestört werden. Er wurde auf morgen vertröstet.

  Der Abend war ihm gründlich verdorben. Eigentlich wollte er heute in die nahegelegene Hauptstadt Varynkors, um sich wieder einmal mit Mehandor zu treffen, die es auf Varynkor verschlagen hatte. Aber die innere Unruhe war so groß, daß er darauf verzichtete. Er hörte noch einige Zeit anspruchsvolle arkonidische Musik, dann legte er sich schlafen.

* * *

  Tranthars Träume waren wirr und nicht rekonstruierbar. Als er erwachte war er schweißgebadet. Kaum hatte er seine Morgentoilette hinter sich gebracht und die Uniform angezogen, als es an der Tür klopfte. Er öffnete.

  Zwei arkonidische Ma’chors standen auf dem Gang. Einer war so groß wie Tranthar und hatte ein kantiges Gesicht, der andere war kleiner, hager mit sich flink bewegenden Augen.

  „Jewlin Goshuran!“ sagte der Größere und deutete auf sich. „Und Tarnak Amaraf!“ dabei deutete er auf den Kleineren. „Wir haben die Aufgabe Tomalaks Habseligkeiten abzuholen!“

  Mit Tarnak hatte er schon einen unliebsamen Zusammenstoß gehabt. Kurz nach seiner Ankunft auf Varynkor war er von ihm bis aufs Blut gereizt worden, und als er ihn schließlich mit den Fäusten zur Rechenschaft hatte ziehen wollen, hatte er feststellen müssen, daß sein Kontrahent Dagor beherrschte. Er wäre damals fürchterlich verprügelt worden, hätte Tomalak nicht ein­gegriffen.

  Tranthar trat zur Seite um die beiden eintreten zu lassen. „Die Taschen stehen vor dem Schrank!“ sagte Tranthar!“ Sie sind noch nicht ausgepackt. Ich hätte sie auch in die Klinik bringen können.“

  „Wer redet denn von der Klinik, Tran­thar!“ wies ihn Tarnak gehässig zurecht. „Dein Freund ist tot! So tot wie man nur sein kann! Heute nacht in der Klinik krepiert! Dir kann er jetzt nicht mehr helfen!“

  Der Schlag kam so überraschend, daß Tarnak keine Zeit mehr hatte zu reagieren. Tranthar war kein Schwächling und er hatte die ganze Wucht seines Körpers hineingelegt. Der Arkonide wurde durch die Luft gewirbelt, krachte außerhalb des Raums auf den Boden des Ganges und rutschte bis zur anderen Wandseite. „Leute, die keinen Anstand haben bleiben draußen!“, meinte Tranthar trocken, noch die ganze Tragweite des Gesagten nicht begreifend.

  Tarnak blieb einige Augenblicke benommen liegen, bevor er mit der Hand sein Kinn betastete und sich langsam aufzurichten begann.

  „Er hat recht, Tarnak!“ rief ihm Jewlin zu. „Er ist zwar ein verdammter Mehandor, der hier auf dieser Akademie rein gar nichts verloren hat, aber sein Freund ist tot, und er hat ein Anrecht darauf, daß wir diesen mit Respekt behandeln.“

  Erst jetzt dämmerte es Tranthar, daß Tomalak wirklich tot war. Er bewahrte mühsam Haltung, wartete bis Jewlin mit den Taschen und einigen 3-D-Bildern, die er von der Innenseite des Wandschrankes abgezogen hatte, den Raum verließ. Nahm noch mit ausdruckslosem Gesicht Tarnaks Drohung: „Wir sehen uns wieder!“ entgegen, bevor er zum Trivideo-Kubus eilte und von dort die Klinik anrief. Er erhielt die lapidare Nachricht, Tomalak wäre an Herzversagen gestorben. Ein winziger Knochensplitter, der sich von der Brustplatte gelöst hatte, hätte dies verursacht.

  Tomalak tot! Ein Verlust ohne gleichen. Nicht ersetzbar. Auf immer verloren. Erinnerungen stürmten auf Tranthar ein, Erlebnisse mit Tomalak und Gespräche, Gedankenaustausch über verschiedene Themen. Niemehr würde es das geben. Niemehr würde er ihn sehen. Und dann kamen die Tränen. Nicht ein Schwall, nicht eine Flut von Tränen, welche die Anspannung, die Verkrampfung lösten. Nein, denn Mehandor weinten nicht, ebensowenig wie Kah’lass weinten. Jede einzelne Träne mußte sich den Weg freikämpfen, Stück für Stück. Und Tranthar mußte die Erfahrung machen, daß er sie nicht aufhalten konnte.

* * *

   Drei Tage waren seit dem Tod Tomalaks verstrichen. Kerasor und die anderen waren noch nicht wieder zurückgekehrt. Es gab aber Gerüchte, daß Antor del Kolamir mit einer Privatjacht ins Paru-Atan-System gesprungen war. Was er dort wollte, war nicht in Erfahrung zu bringen.

  Tranthar hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, daß Tomalak urplötzlich aus seinem Leben verschwunden war. Gegenwärtig schien es ihm, als würde alles andere hinter einem Vorhang der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Sei es der alltägliche Lebensrhythmus auf der Raum-Akademie, seien es die psychologischen Nadelstiche seiner rein arkonidisch eingestellten Kameraden oder sei es die zur Schau getragene Ignoranz seiner Person durch ihm mehr oder weniger bekannte Arkonidinnen und Kolonialarkonidinnen.

  Tomalaks Familie weilte momentan auf Varynkor. Heute abend würde sie den Leichnam heimführen, um dort die Toten- und Gedenkfeier im familiären Rahmen abzuhalten.

  Heute war noch einmal Gelegenheit für Tomalaks Kameraden auf der Raum-Akademie, von ihm Abschied zu nehmen. Tranthar wollte allein sein mit Tomalak, deswegen versuchte er so früh wie möglich die Verabschiedungsstätte zu erreichen.

  Aber er war nicht allein. Ein Kah’lass stand vor einem Vollzylinder aus einem hellgrüntransparenten Material, in welchem Tomalak konserviert war. Den Namen des Materials kannte Tranthar nicht, zu selten wurde es verwendet. Aber er wußte, daß es sehr schwierig war, es herzustellen und dementsprechend horrend war auch der Preis. Dafür trotzte es nahezu allen Umwelteinflüssen und überdauerte Ewigkeiten ohne zu altern.

  „Ein Kamerad von Tomalak?“ Tranthar musterte den Kah’lass. Er war genauso groß, aber nicht ganz so breit wie Tomalak. Seine Gesichtszüge waren etwas feiner und er hatte Lachfältchen an den Augen. Er trug eine schwarze Uniform.

  „Nein! Ein Freund!“ sagte Tranthar schließ­lich. „Ich heiße Tranthar pas Trameth­lar!“

  „Es freut mich dich kennenzulernen, Tranthar! Tomalak hat mir viel über dich erzählt. Ich habe oft Hyperkom-Gespräche mit ihm geführt. Mein Name ist übrigens Ekim. Ekim pas Rauteron.“

  „Tomalaks bester Freund!“ entfuhr es Tranthar. Von Tomalak wußte er, daß Ekim das ausschweifende Leben genauso liebte wie Tomalak selbst. Er war sogar während einer großen Feierlichkeit völlig betrunken und nur mit einer Unterhose bekleidet von einem Pulk johlender Kah’lass-Mädchen auf den Schultern durch die Menge getragen worden.

  „Ja, ich war sein bester Freund!“ sagte Ekim im Brustton der Überzeugung! „Und ich bin stolz darauf!“

  „Dann wird dich sein überraschender Tod noch schwerer getroffen haben als mich!“ meinte Tranthar.

  „Er fehlt mir, das ist wahr! Aber es wäre egoistisch, nur an mich zu denken. Er hat die letzte Hürde übersprungen. Er ist an einer Verletzung gestorben, die er im Kampfeinsatz erhalten hat und er hat Mut bewiesen und damit viele Leben gerettet. Die She’Huhan werden ihn aufnehmen und eine neue Aufgabe zuweisen!“

  „Ja!“ sagte Tranthar. „Du hast recht!“ Aber es war nicht seine Überzeugung. Kah’lass waren zum überwiegenden Teil Söldner, die nicht wußten, ob sie den nächsten Tag überleben würden. Für sie war es wichtig, an ein Leben nach dem Tod zu glauben, wenn sie nur mutig genug gekämpft hatten. Tranthar war Mehandor. Er glaubte auch an She’Huhan. An Götter, die den Lebenden halfen, aber nicht an solche, welche die Toten wieder auferstehen ließen.

  „Sein letzter Wunsch war es, in einem Methan-Ozean auf Morgaz IV bestattet zu werden“, unterbrach Ekim Tranthars Gedanken. „Ein Tauchgang auf Morgaz IV ist sogar für Kah’lass ein lebensgefährliches Abenteuer. Die Ozeane bergen vielfältiges Leben und atemberaubende Farbspiele. Nach der Gedenkfeier, werde ich Tomalak dort hingeleiten. Ich weiß einen Platz, wo es ihm gefallen würde.“

  Nach diesen Worten legte Ekim die Hand auf Tranthars Schulter. „Ich werde dich jetzt mit ihm allein lassen. Verabschiede dich von ihm. Und denke daran, Tomalaks Freunde sind auch meine Freunde!“ Dann wandte er sich um und verließ die Abschiedsstätte.

  Tranthar trat vor Tomalak. Prägte sich noch einmal das Bild von ihm ein. Tomalak trug die gleiche schwarze Uniform wie Ekim. An seiner Hand trug er einen Ring mit dem Wappen der Kah’lass-Sippe Meramar. Sein Gesicht war ernst, konnte jedoch jeden Moment in ein Lächeln umschlagen. „Lebe wohl, Tomalak“, sagte Tranthar mit getragener Stimme, ergriffen von der Bedeutung dieses Augenblicks. Er ignorierte die Geräusche, die vom Eingang her an sein Ohr drangen. „Wo immer du jetzt sein magst, ich werde dich nie vergessen!“

  „Wir werden dich nie vergessen!“ kam es fast wie ein Echo zurück.

  Tranthar drehte sich verblüfft um, und sah Kerasor, Charrut, Minart, Pereth und Trimor am Eingang stehen. Auf Tranthars Gesicht stahl sich ein erleichtertes Lächeln, denn Leid war leichter zu ertragen, wenn es auf mehrere Schultern verteilt war. So wandte er sich nochmals zu Tomalak um und sagte: „Wir werden dich nie vergessen!“

– E N D E –

Jürgen Hermann

Ein Nachruf von Harald Schäfer

  Wir sind es im Perry-Rhodan-Fandom schon gewohnt, zu trauern. Viele Mitarbeiter der Perry-Rhodan-Serie sind in den letzten Jahren gestorben. Sie haben schmerz­hafte Lücken hinterlassen. Für die Leserschaft konnten diese Lücken wieder aufgefüllt werden. Für die Angehörigen und Freunde blieben nur noch Erinnerungen.

  Eine äußerst schmerzhafte Lücke riß nun auch Jürgen Hermann, Gremiums- und Gründungsmitglied des PRC ARGE FESTAK, der für uns alle überraschend am 5. Januar 1996 im Alter von 39 Jahren verstarb, nicht nur bei seiner Mutter und seinen Freunden.

  Ich lernte Jürgen vor etwa 15 Jahren kennen. Ich war erst kurz zuvor in Follow eingetreten und am Sylvester-Con 80/81 in Passau auf Bernard Stössel (bekannt als Rißzeichner früherer Tage) und Thomas Kugler getroffen. Beide waren auch Mitglieder im Nürnberger Perry-Rhodan-Club Last Hope. Und in eben diesen PRC war auch Jürgen, ich glaube er hat damals den Club noch geleitet. Ob Jürgen bereits damals in Follow war oder erst danach eingetreten ist, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls trafen wir uns öfters in Sachen Follow in Bernards Atelier und gingen danach zum Pizza-Essen oder ähnlichem.

  In dieser Zeit hatte ich nur eine sehr oberflächlichen Kontakt zu Jürgen. Irgendwie lagen wir nicht auf der gleichen Welle. Aber soweit ich weiß, war sein Fabel für Modellbau schon damals sehr ausgeprägt.

  Irgendwann gab es Knatsch im PRC Last Hope. Jürgen trat dort und aus Follow aus. Sein neues Betätigungsfeld war das Startrek-Fandom, für das er sich begeisterte und dem er bis zum Schluß treu geblieben ist.

  Danach traf ich Jürgen nur noch sporadisch bei einer Fantasy-Rollenspiel-Kam­pag­ne, die Thomas veranstaltete, bei Geburtstagsfeiern etc. Mit der Zeit verloren wir uns ganz aus den Augen. Mehrere Jahre, lang gingen wir unsere eigenen Wege, bis sich im Oktober 1990 Jürgen wieder bei mir meldete. Er suchte noch Mitspieler für ein Rollenspiel, das im Startrek-Universum an­ge­siedelt war. Ich sagte zu, doch das Rollenspiel fand nie statt. Der Kontakt aber war wieder hergestellt.

  Ich suchte ebenfalls jemand als Mitspieler für die PR-Raumkampfsimulation und Jürgen war interessiert. Zusammen mit Thomas spielten wir regelmäßig Szenarien durch und waren begeistert.

  Bereits zu dieser Zeit bemerkte ich, daß sich das Startrek-Fandom äußerst positiv auf Jürgen ausgewirkt hatte. Ich konnte mich mit ihm plötzlich stundenlang über alle möglichen Themen unterhalten, ohne mich zu langweilen. Er war offen und ehrlich, haßte Intrigenspielchen jeder Art. Er hatte in vielen Dingen ein enormes Hintergrundwissen, z.B. über den Tauschsport, den er als Schritt zu einer anderen Welt interpretierte und den er sich mit Leib und Seele verschrieben hatte, oder über Kriegsschiffe im ersten und zweiten Weltkrieg. Ich erinnere mich immer wieder gern an den Anblick, wenn er vor der Spielplatte stand, mit beiden Fäusten am Rand abgestützt, und die gegenwärtige Situation betrachtete. Ich nannte es die Admiralspose. Wenn er seine Raumschiffe aufstellte, dann stellte er Vergleiche mit der deutschen und der englischen Marine an, und so manche Aufstellung zu einer Seeschlacht und deren Verlauf bekam ich gratis mitgeliefert.

  Thomas fiel dann wegen Zeitmangels aus. Jürgen und ich trafen uns trotzdem regelmäßig. Das Spiel war nur ein Teil der Treffen. Meistens entwickelte sich ein interessanter Gedankenaustausch. Wenn uns die Wartezeit zwischen den Spieletreffen zu lang wurde, griffen wir zum Telefon. Das gipfelte darin, daß wir zu PRC ARGE FESTAK-Zeiten mindestens zweimal die Woche telefonierten und zwar sehr ausdauernd. Ich denke damals wurde der Keim zu einer sehr intensiven aber leider relativ kurzen Freundschaft gelegt.

  Im Herbst 1993 erfuhr ich von Harald Großhauser, daß ein gewisser Dieter Reich einen Perry-Rhodan-Treff veranstaltete. Treffpunkt war die Behausung von Manuel Schenkluhn. Ich informierte auch Jürgen darüber, eigentlich ohne Hoffnung, daß er mitfahren würde. Denn seit seinem Austritt aus dem PRC Last Hope lehnte er Kontakte zum PR-Fandom kategorisch ab. Doch eine Äußerung von Harald Großhauser, daß Dieter Reich einen PR-Club gründen wolle, der alle Facetten des PR-Univer­sums beleuchten sollte, vorallem aber den Simulationsgedanken, war für Jürgen ein Signal, daß an der Sache was dran sein könnte.

  So fuhren wir beide nach Velburg. Wir lernten dort neben Dieter und Manuel auch Thomas Meier und Christian Scheidt kennen. Der Abend erbrachte, daß wir uns prima ergänzten. Jürgens Erfahrung im Startrek-Fandom, seine Modellbau-Erfah­rung und unsere Erfahrung im Umgang mit der PR-Raumkampfsimulation, Dieters Kennt­­nisse des Perry-Rhodan-Universums, seine Kontakte zum Fandom, seine künstlerischen, literarischen und organisatorischen Fähigkeiten, Manuel und Thomas mit ihren Programmierkenntnissen (PRU stand damals schon), Harald G. mit seinen literarischen Fähigkeiten und spontanen Anfällen von Arbeitswut und Christian als professioneller Kassier, das gab uns Hoffnung, daß wir zusammen etwas aufbauen konnten.

  Nach einigen Treffen und dem Beitritt von Dietmar Stark, den ich als Spezialist in Sachen Geselligkeit bezeichnen möchte, wurde die ARGE-FESTAK gegründet. Der Weg von der Arbeitsgemeinschaft zu einem Perry-Rhodan-Club wurde von vielen Richtungsgesprächen begleitet. Wohin woll­ten wir eigentlich? Es war Jürgen, der immer wieder Pflöcke einrammte und die Richtung mitbestimmte. Eine seiner liebsten Thesen lautete: „Weg vom Papier!“

  Gemeint war damit, der Perry-Rhodan-Fan hat mehr als genug Lesestoff, bieten wir ihm etwas anderes. Jürgen bekam das Ressort Modellbau zugeteilt, und begann zusammen mit Dieter einen arkonidischen 50-m-Ku­gel­raumer zu bauen. Auf seine Initiative hin begannen wir Lieder umzutexten, um auch an geselligen Abenden ein PR-Feeling zu bekommen. Er war es auch, der uns drängte, endlich unseren ersten Con zu veranstalten. Wer ihn besucht hat wird wissen, daß dies kein Con war mit der Zweiteilung: Hier die Vortragenden, dort das Publikum. Es war ein Con zum Anfassen, mit Workshops und vielen Möglichkeiten zum Kennenlernen, ganz im Sinne von Jürgen.

  Außer am Modellbau hing Jürgens Herz noch im Besonderen an der Simulation der Raum-Akademie Varynkor. Diese Simulation ist im Jahre 14.595 nach Arkon (ca. 3000 v. Chr.) angesiedelt. Es handelt sich um eine arkonidische Raum-Akademie, die kurz zuvor unter dem neuen Imperator SARAN III. gegründet wurde und erstmals auch Kolonialarkoniden, Mehandor (Sprin­ger) und Kah’lass (Überschwere) Zutritt ge­währte, eine Reaktion auf die zunehmende Degeneration der Arkoniden.

  Jürgen hatte sich bei der Erschaffung seiner Spielfigur eine Menge von seiner eigenen Persönlichkeit und seinen Wünschen mit hineingepackt. Schließlich entstand Tomalak, der Kah’lass. Kah’lass als Zeichen von körperlicher Stärke, die auch Jürgen im ausreichenden Maß besaß, schließlich arbeitete er in einer Spedition und mußte dort hart zulangen.

  Die Vorgeschichte: Tomalak konstru­­­­­­­­­iert in der väterlichen Werft Feuerleitsysteme für Kah’lass-Schlacht­raumer. Statt sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, sucht er Zerstreuung mit seinen Freunden, was zu einem schwerwiegenden Fehler führt, so daß ihn sein Vater nach Varynkor schickt.

  Wenn schon Kah’lass, dann einer, der etwas konstruieren kann. Hier schlug Jürgens Liebe zum Modellbau durch und die Tatsache, daß auch in seinem Leben Freunde und Hobby die erste Priorität genossen. Seine „Karriere“ im Arbeitsleben war ihm ziemlich egal.

  Er schreibt über Tomalak: Nur ganz wenigen ist bekannt, daß man mit dem sonst so cholerischen und exzentrischen Tomalak in ruhigen, melancholischen Momenten auch tiefschürfende und philosophische Gespräche führen kann. Eine derer, die auch diese Seite seines Wesens kennen, ist Kalriud, seine Schwester. Mit ihr verbindet ihn ein besonderes Vertrauensverhältnis.

  Diese Beschreibung ist Jürgen wie aus dem Gesicht geschnitten. Exzentriker? Ja! Er lehnte unsere gängige Weltsicht komplett ab und trat zum Buddhismus über. Wenn man ihn nur oberflächlich kannte, und ihn seine Sprüche klopfen hörte, konnte man sich nicht so recht vorstellen, daß man tiefschürfende und philosophische Gespräche mit ihm führen konnte. Das hob er sich für Personen auf, die er mochte und denen er vertrauen konnte. Geschwister hatte er keine, eine Schwester hätte er jedoch gerne gehabt. Tomalak hatte er Kalriud zur Seite gestellt. Als Vorlage diente eine Taucherkollegin mit dem Vornamen Helga, die er oft erwähnte und die er als Schwester akzeptiert hätte. Ich habe sie leider nie kennengelernt.

  Tomalak war Jürgens Spielfigur. Wenn er aber ein Rollenspiel leitete, dann war er der gefürchtete Ausbilder Jewon da Carnat. Tomalak ist in der Simulation ebenfalls gestorben, denn niemand anderes als Jürgen hätte Tomalak spielen können. Doch Jewon da Carnat wird in unserem Spiel und in den Stories weiterleben, als ein Teil von Jürgen.