Ungefähr zur gleichen Zeit

Onythia und Charrut saßen zusammen. Trotz der noch frühen Tonta am Morgen lief die Hochzeitsfeier noch immer auf Hochtouren. Und es würde noch mindestens einen Prago so gehen; die Feierlichkeiten waren noch für zwei Pragos geplant. Charrut war es gelungen, die verärgerten Gäste zusammen mit seinem Karan zu beruhigen und sich im Namen des Khasurns zu entschuldigen. In einer unbemerkten Palsartonta hatte Onythia es geschafft, sich von den Gästen zu lösen und Charrut zu einem kurzen Gespräch zu bitten. Das Thema, wie konnte es auch anders sein, war Charruts künftige Frau, Merida.

„Ich weis nicht, was ich von ihr halten soll“ beantwortete Charrut gerade eine Frage von Onythia, und mit der Erinnerung an dem fast ausgelösten Eklat vergangener Nacht, als ein Summen von Charruts Armbandkommunikator ein Anruf ankündigte.

„Entschuldige bitte“ sagte Charrut zu Onythia und drückte ein Sensorfeld, um das Gespräch anzunehmen. Auf dem kleinen Display wurde Sicherheitschef Endar ter Sunoron sichtbar.

Zdhopandel, wir haben ein ernstes Problem“ sagte Endar ter Sunoron.

„Was ist geschehen?“

Zdhopandel, eben war Hangarleiter Gha‘at bei mir und meldete, das ihm ein Gleiter fehlt“

„Nun, das ist doch nichts ungewöhnliches“ antwortete Charrut irritiert.

„Nein, an und für sich nicht. Aber der Gleiter, der fehlt, ist in Wartung und kaum flugfähig. Ich habe mir gerade das Überwachungsprotokoll angesehen. Die Hochedle Merida de Ariga ist mit dem Gleiter gestartet!“

Charrut wurde blass und sprang von der Couch auf, auf der er mit Onythia gesessen hatte. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf: nicht schon wieder ein Gleiterproblem, wie damals, als er mit Onista und ihrer Schwester auf Varynkor mit einem Gleiter abgestürzt und beide Schwestern dabei gestorben waren. Wohin mochte Merida geflogen sein? Wie lange war sie schon unterwegs? War sie gelandet? Warum hatte sie die Warnhinweise missachtet? Und warum hatte sie keinen Kontakt aufgenommen? Wie ging es Ihr? Es war für ihn ein Déjà-vu-Erlebnis! Den Fluch, den er schon auf der Zunge hatte, schluckte er hinunter.

„Wie weit kann Sie geflogen sein und in welche Richtung? Können wir mit Ihr Kontakt aufnehmen?“ fragte Charrut zurück.

„Sie ist vor ca. drei Tontas gestartet. Auf Ortungsergebnisse warte ich noch. Nein, wegen der Wartung ist nur ein Notfallenergievorrat vorhanden. Das Kommunikationsmodul wurde ausgebaut und die Bordpositronik ist nur bedingt einsatzfähig“ erwiderte Sicherheitschef Endar ter Sunoron. „Die Suchaktion ist eingeleitet und im vollen Gange!“

„Ich werde gleich im Gleiterhangar sein. Es darf hiervon nichts nach außen gelangen, verstanden?“

„Thi Gen, Zdhopandel“ erwiderte Endar ter Sunoron und beendete das Gespräch.

Charrut sah zu Onythia, die während des Gespräches ebenfalls aufgestanden war und das Gespräch mitverfolgt hatte.

„Sprich bitte mit Adara de Ariga und Ultral. Ich muss los“ sagte Charrut zu Onythia, die ein genauso bestürztes Gesicht machte wie er und zustimmend nickte.

Charrut stürzte aus dem Raum…

* * *

Als Charrut im Gleiterhangar ankam, starteten weitere Gleiter des Suchtrupps. Sicherheitschef Endar ter Sunoron erwartete ihn am Einstieg des letzten Gleiters. Nachdem sie eingestiegen waren, setzte sich Endar an die Steuerkonsole und startete.

„Wir haben von der Ortungspositronik vom Raumhafen ein Ergebnis, wenn auch nur für einige zehnteltontas. Die Hochedle ist in Richtung Nordwesten geflogen, Flugvektor 332-188-017. Die Reichweite der Notfallenergie beträgt maximal 400 Dran, höchstens eine halbe Tonta. Wenn Sie die geortete Flugrichtung beibehalten hat, ist Sie in Richtung Darai-Meer unterwegs, also eine Gegend mit vielen Sümpfen“ sagte Endar ter Sunoron zu Charrut, der in der Zwischenzeit den Flugvektor angepasst hatte.

„Wieviele Gleiter sind im Einsatz?“ wollte Charrut wissen.

„Einige hundert Gleiter, Zhopaldel. Alle erhielten die Daten und den letzten bekannten Flugvektor“

Charrut nickte verstehend und sah aus dem Gleiterfenster in Flugrichtung, während er überlegte, was sie erwarteten mochte.

* * *

Als sie die Unglücksstelle erreichten, sahen sie bereits von weitem Gleiter um die Absturzstelle kreisen, während andere gelandet waren und mit der Bergung begonnen hatten. Endar landete ihren Gleiter in Nähe der Absturzstelle. Nach der Landung öffnete Charrut den Einstieg und eilte so schnell wie es der sumpfige Boden zuließ in Richtung Absturzstelle. Beim abgestürzten Gleiter waren bereits einige Rettungsroboter dabei, die Außenhülle aufzuschneiden. Als er zum Gleiterwrack kam, war gerade eine Öffnung in die Hülle geschnitten worden, und ein Arbtan mit medizinischer Ausbildung begann, das Gleiterinnere zu inspizieren. Charrut folgte ihm kurz danach hinein, sah den Arbtan bei Merida knien und sie mit Diagnosegeräten untersuchen. Einige Zehnteltontas später sagte der Arbtan:

Zdhopandel, die She’Huhans haben Ihre Hände schützend über sie gehalten: Der linke Unterarm ist angebrochen, leichtes Schädeltrauma, einige stärkere Prellungen durch die Sicherheitsgurte, nur bei den Messwerten über Ihre innere Verletzungen kann ich mir kein genaues Bild machen. Auf alle Fälle sollte sich ein erfahrener Bauchaufschneider die Untersuchungsergebnisse nochmals ansehen. Wir brauchen eine stabile Trage, um sie zum nächsten Gleiter zu transportieren und schnellstens ins Medikcenter zu bringen.“

Charrut nickte, drehte sich um und verließ das Wrack. Draußen ordnete er an, dass vier Arbtans Merida vorsichtig herausholen sollten.

Anschließend funkte er seinen Karan an, der bereits ungeduldig auf seinen Anruf gewartet hatte: „Ich lasse Merida zur Krankenstation unseres Khasurns bringen. Wir brauchen unsere besten Bauchaufschneider, damit Merida gründlich untersucht und behandelt werden kann. Bisher ist nur bekannt, daß sie einen angebrochenen Arm, ein Schädeltrauma und starke Prellungen hat. Nur die inneren Verletzungen sind nicht eindeutig. Wir werden ungefähr in einer viertel Tonta beim Khasurn eintreffen.“

* * *

Charrut kam später zu den Bauchaufschneidern, da er zuvor sich mit Sicherheitschef Endar ter Sunoron und dem zuständigem Hangarleiter wegen des Zwischenfalls besprechen musste. Mittlerweile war herausgekommen, wie es dazu kommen konnte, dass ein in Wartung befindlicher Gleiter gestartet werden konnte. Die Wartungsmannschaft hatte unprofessionell gearbeitet und nicht die Positronik im Gleiter deaktiviert, so wie es Vorschrift war. Er hatte Sicherheitschef ter Sunoron angewiesen, die entsprechenden Prozesse zu überarbeiten und verstärkt auf die Einhaltung der Vorschriften zu achten. Und er hatte Sicherheitschef Endar ter Sunoron zusammen gestaucht und von ihm eine lückenlose Aufklärung gefordert, wie es sein konnte, das hochrangige Gäste des Khasurns, die von khasurneigenem Sicherheitspersonal diskret beobachtet werden, unbemerkt den Khasurn verlassen konnten.

Der Oberste Bauchaufschneider stand vor dem Zimmer, in der Merida lag und erklärte gerade ihrer Mutter Adara sowie seinem Karan und Onytia, wie es um Merida stand. Charrut hörte nur mit einem Ohr hin, während er durch die Glasscheibe Merida betrachtete. Sie wirkte, gerade jetzt, so empfindlich und verletzlich. In dem weißen Krankenbett, in dem sie gerade lag, bildete ihre blasse helle Haut und das weiße Haar fast keinen Kontrast zur weißen Bettwäsche. Charrut seufzte. Was sollte er von dem Vorfall und insbesondere von Meridas nächtlichem Ausflug halten? Auf der einen Seite wirkte sie ziemlich berechnend auf ihn, und auf der anderen Seite hatte sie ziemlich unvernünftig, emotional gehandelt. Hätte er ihre Verfassung besser eingeschätzt, ihre Situation richtig beurteilt, dann wäre es nicht zu diesem Unfall gekommen. Er hätte da bleiben sollen, mit ihrer Mutter sprechen müssen, dann hätte Merida nicht die Chance gehabt, unter Alkoholeinfluss heimlich aus dem Wohnbereich zu entweichen und einen Gleiter zu besteigen. Es war seine Schuld!

Charrut drehte sich wieder zu den anderen um, um noch einige Informationen vom Bauchaufschneider zu erhalten, und musste feststellen, das ihn alle anblickten.

„Entschuldigt bitte, ich war in Gedanken“

* * *

Adara fiel ein Stein vom Herzen, als der Bauchaufschneider mitteilte, dass ihre inneren Verletzungen doch nicht so schwerwiegend waren, wie sie zuerst befürchtet hatte. Abgesehen von dem angebrochenem Arm und dem leichten Schädeltrauma, hatte Merida nur einige wenige innere Verletzungen davongetragen: ein Riß in der Leber war das schlimmste, aber der Bauchaufschneider hatte gesagt, das diese Verletzung in zwei bis drei Pragos durch die Medikamente verheilt sein werde; der angebrochene linke Arm würde wohl eine Berlenprag zum Verheilen benötigen.

Ihr fiel auf, das Charrut gar nicht darauf achtete, was der Bauchaufschneider zu sagen hatte. Er hatte die ganze Zeit nur Merida durch die Glasscheibe beobachtet, sein Gesicht wirkte angespannt, von Zeit zu Zeit zuckte ein Muskel im Gesicht. ‚Ihm scheint der Unfall und die Verletzungen ziemlich nahe zu gehen‘ ging es ihr durch den Kopf. ‚Vielleicht nimmt die geplante Ehe ja doch noch eine Wendung zum Guten trotz der negativen Ereignisse‘.

* * *

Nachdem Bachaufschneider Aleed nert Ghad mit seinen Ausführungen fertig war, zogen sich Onythia, Adara und sein Karan zurück. Sein Karan hatte ihm noch einen Blick zugeworfen, der Bände sprach und letztlich nur eines hieß: Kümmere dich darum!

Jetzt, nachdem keiner mehr anwesend war und er alleine vor der Glasscheibe stand, schloss er kurz die Augen und versuchte, sich zu sammeln. Zu vieles war in den letzten Tontas auf ihn eingestürmt und übermüdet war er auch. Er ging gedanklich nochmals durch, was sich seit der Hochzeitszeremonie bis jetzt ereignet hatte: Meridas übermäßigen Zuspruch zum Alkohol und der damit fast ausgelöste Eklat, das Gespräch mit seinem Karan und den von Merida beleidigten Offizieren, die Hiobsbotschaft von Meridas ‚Flucht‘ und der Such- und Rettungsaktion nach ihr bis hierhin. Irgendetwas passte nicht ins Gesamtbild, das er von Merida hatte. Und dann fiel es ihm ein: Merida hatte zuviel getrunken und später sagte Adara in Meridas Wohnbereich, das sie jetzt ihren Mann besser verstehen würde. Er versuchte, sich an die Infos zu erinnern, die er von seinem Karan über Merida erhalten hatte. Da war kein Hinweis gewesen, dass diese Aussage von Adara untermauern würde! Er öffnete wieder seine Augen, warf nochmals einen Blick auf Merida, die sich in einem Regenerationsschlaf befand und aktivierte dann sein Armbandkommunikator, um Sicherheitschef Endar ter Sunoron anzuwählen.

Als auf dem kleinen Display Endar sichtbar wurde, erklärte dieser sofort schuldbewusst: „Zdhopandel, ich bin mit meinen Untersuchungen noch nicht fertig. Die…“

Charrut schnitt ihm das Wort ab: „Das ist mir klar. Aber darum rufe ich nicht an. Was für mich genauso wichtig ist, ist folgendes: ich benötige kurzfristig weitreichende Informationen zum Khasurn der ‚de Ariga‘, insbesondere zu Merida de Ariga. Und wenn ich weitreichende Informationen sage meine ich das auch!“

 „Und was das andere Thema von vorhin angeht, Endar. Halten Sie sich vor Augen, was es für den Khasurn bedeuten würde, wäre die Hochedle Merida de Ariga beim Gleiterabsturz gestorben. Von möglichen Schadensansprüche abgesehen!“

Mit verkniffenen Gesicht nickte Endar ter Sunoron leicht und erwiderte: „Thi Gen, Zdhopandel

Charrut beendete das Gespräch und fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht. Er drehte sich um und verließ den Medikbereich des Khasurns, um sich einige Tontas schlafen zu legen.

* * *