Begegnungen (Tartor 14.598 d. A.) – Teil 2
Seit Tontas liefen die Hochzeitsfeierlichkeiten auf Hochtouren. Tausende von Gästen, Freunden und Familienangehörigen feierten die Hochzeit von Onythia und Ultral I. Fast alle Räumlichkeiten im Khasurn oberhalb des Khasurnfundamentes standen den Gästen zur Verfügung. Ein Drittel aller Anwesenden waren Diener und Dienerinnen, die unermüdlich Getränke und Speisen heranschafften und die Reste beseitigten. Seit Tontas hatte Charrut seinen Karan und seine ‚neue‘ Fama nicht mehr gesehen. Aber das war kein Wunder, denn schließlich waren mehr als 5600 geladene Hochzeitsgäste im Khasurn und das Khasurngebäude war groß.
„Charrut“ sprach ihn eine bekannte, lange nicht mehr gehörte weibliche Stimme von hinten an. Er drehte sich um und sah seine Schwester Chamah’ney, die ihn anlächelte. Nur kurz ging ihm durch den Kopf, was ihm sein Karan erzählt hatte, dass nämlich Chamah’ney ihn damals psychologisch bearbeitet hatte. Und dass er dann geglaubt hatte, dass es sein eigener Wunsch war, der Raumakademie Varynkor beizutreten. Aber er verwarf den Gedanken vorläufig. Zu lange hatte er seine Schwester nicht mehr gesehen. Er ging auf sie zu und umarmte sie. Nach kurzem Augenblick löste er die Umarmung, trat einen Schritt zurück und fasste sie an den Händen.
„Gut siehst du aus und hast dich überhaupt nicht verändert“.
Sie lachte kurz auf und erwiderte: „Das stimmt so nicht ganz“. Sie strich mit einer Hand über ihren leichten Bauch und meinte: „Wir werden bald nicht mehr allein sein!“
Charrut war überrascht. „Wirklich? Das sieht man dir aber überhaupt nicht an“.
„Ja. Zerl ist mächtig stolz darauf, dass es ein Junge sein wird!“ erwiderte Chamah’ney lächelnd. Sie löste ihre Hände von Charrut, der sie noch immer hielt, hakte sich bei ihm ein und führte ihn langsam in einen Bereich, in dem weniger Gäste waren, damit sie sich etwas privater unterhalten konnten.
„Erzähle. Wie läuft es auf der Militärakademie? Kommst du gut voran mit der Ausbildung? Und erzähle mir von deiner zukünftigen Frau, Merida de Ariga. Habt ihr euch schon näher kennengelernt?“
* * *
Merida fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Obwohl sie zusammen mit ihrer Fama und anderen Familienangehörigen, die mit nach Harkon gekommen waren, an den Hochzeitsfeierlichkeiten teilnahm, kannte sie niemanden. Dementsprechend fühlte sie sich einsam unter den vielen Hochzeitsgästen. Selbst Charrut del Harkon wäre eine erlösende Abwechslung gewesen, aber sie konnte ihn nirgendwo sehen. Die Gespräche, die sie am Rande mitbekam, drehten sich entweder ums Geschäft oder betrafen die politische Lage im Tai Ark’Tussan. Nichts, was sie interessierte. Und ihre Fama spielte bei ihr die Duenia. Von Zeit zu Zeit war sie von der einen oder anderen Person höflich angesprochen und indirekt gefragt worden, in welchem Verhältnis sie zu Charrut del Harkon stehen würde, nachdem man sie beide gemeinsam zusammen bei der Hochzeitszeremonie gesehen hatte. Und jedesmal hatte ihre Fama eingegriffen und die Fragen zurückhaltend beantwortet. Es war für sie so frustrierend. Aber sie konnte sich den Abend freundlicher gestalten und etwas trinken. Darüber würde sie zumindest für eine Weile die Gedanken an die geplante Hochzeit mit diesem Charrut ‚vergessen‘. Das konnte ihre Fama nicht verhindern, ohne eine Szene zu machen. Genügend Bedienstete mit vollen Sikkus-Gläsern liefen oft an ihr vorbei…
* * *
Charrut musterte sein Gegenüber: Vherdyn de Chihan, Onythias Neffe und Absolvent an der Faehrl von Largamenia. Er hatte bisher wenig Zeit gehabt, Vherdyn näher kennenzulernen. Er wusste, das Vherdyn de Chihan einer persönlichen Einladung seines Vaters gefolgt und zusammen mit Onythia nach Harkon gekommen war. In der wenigen Zeit, in der sie beide bisher zusammengetroffen waren, machte er auf Charrut bisher einen symphatischen Eindruck. Vherdyn hatte gerade mit ihm auf die Hochzeit seines Karans und Onythias angestoßen.
„Ihr seit also auch auf einer Raumakademie“ sagte Vherdyn, mehr als Feststellung als Frage. „Varynkor…“ sprach Vherdyn gedehnt aus. „Ich muss zugeben, nicht allzu viel über diese Akademie zu wissen. Das meiste sind wilde Gerüchte und es wird viel gemunkelt. Man sagt, was ich kaum glauben kann, die Ausbildung soll sogar noch härter sein als auf den bekannten Raumakademien!“ und sah Charrut fragend an.
Dieser nahm noch einen kleinen Schluck vom Sikkus und legte sich seine Worte zurecht. „Ja, Varynkor ist außergewöhnlich innerhalb des Imperiums. Obwohl wir dieselben Ausbildungsanforderungen erfüllen müssen, werden seitens der Akademieleitung höchste Ansprüche an uns gestellt. Der Imperator hat diese Akademie persönlich initiiert und darum ruht sein Auge auf der Akademie und uns. Nur wenn wir Höchstleistungen erbringen, können wir hoffen, zu bestehen.“ Vherdyn nickte zustimmend.
„Ist es wahr, was man sich so erzählt? Dass viele Angehörige der Akademie Breheb‘cooi sind?“
Charrut nickte und erwiderte: „Ja, richtig. Viele entstammen nicht dem Adel, sondern sind Essoya, Mehandor, Kaan’lass usw. Aber egal, woher sie kommen, eines haben sie alle gemein: sie wollen die Ausbildung erfolgreich beenden!“
Vherdyn schüttelte leicht den Kopf und erwiderte: „Ich weis nicht… Wenn jemals ein Mehandor mein Vorgesetzter wäre, wie ich damit umgehen sollte. Er wäre kein Arki.“
Charrut sah in direkt an und erwiderte vielleicht etwas zu betont: „Die Befehle befolgen! Wir haben beim Eintritt auf die Akademie einen Eid geleistet, an diesen sollten wir uns immer wieder erinnern: Mein Leben für Arkon und den Imperator!“
Vherdyn erwiderte seinen Blick und sagte: „Ja, Ihr habt Recht: Mein Leben für Arkon und den Imperator!“
Charrut nippte nochmals an seinem Glas und fragte Vherdyn: „Ihr seid einen Tai-Vothan weiter in der Ausbildung als ich. Ende dieses Tai-Vothan werden wir zur ARK SUMMIA zugelassen. Mich würde interessieren, wie die Ausbildung und Prüfungen…“ Weiter kam Charrut nicht, denn weiter hinten, trotz der Musik des Orchester und dem Stimmengewirr im Raum, waren laute, ärgerlich klingende Stimmen zu vernehmen und viele Hochzeitsgäste in ihrer Nähe unterbrachen ihre Unterhaltungen und wandten sich der Störung zu. Auch Vherdyn de Chihan und Charrut unterbrachen ihre Unterhaltung und gingen in die Richtung des Tumultes, währenddessen hörte das Orchesters auf zu spielen.
Sie erreichten den Bereich, um den sich bereits eine größere Gruppe versammelt hatte. Charrut sah, dass mehrere hochdekorierte Offiziere der imperialen Flotte auf der einen Seite standen, auf der anderen Seite ihnen gegenüber Adara und Merida de Ariga. Adara versuchte wohl gerade, Merida von den Offizieren fortzuziehen, während sich Merida sträubte. Merida musste einiges getrunken haben, denn sie stand nicht mehr fest auf ihren Beinen und schwankte öfters. Charrut hörte, wie Merida gerade zu den Offizieren lallend sagte „…bekommt ihr ja noch nicht einmal einen hoch“ und dabei kicherte. Charrut stöhnte innerlich auf. Das hatte gerade noch gefehlt, dass die Hochzeitsfeier in einem Eklat ausartete. Ausgerechnet Merida! Das konnte und durfte er nicht zulassen.
Charrut schlängelte sich durch die vor ihm stehenden Arkii, ging auf Merida und Adara zu. Merida sah ihn kommen, kicherte laut und fragte ihn schon von weitem: „Na, wieder stinkende Na‘thams geritten oder wie die Viecher heissen?“
Charrut hatte genug gehört. Als er Merida und Adara erreichte, sah er Adaras bittenden Blick, während Merida vor ihm hin und her schwankte und sich die Nase zuhielt.
Charrut nickte Adara zu, gab dem Orchester ein Zeichen, weiter zu spielen. Dann beugte er sich kurz vor Merida, packte sie an ihren Oberschenkeln und hob sie über seine Schultern, so dass sie kopfüber seinen Rücken ansah. Merida war von seiner Aktion so überrascht, dass sie kein Wort herausbrachte und mit ihren Armen auf seinen Rücken trommelte. Zielstrebig schritt Charrut, während ihnen Adara folgte mit der widerspenstigen Merida durch die Menge zum Zentralen Antigravschacht. Als sie die Menge hinter sich gelassen hatten und gemeinsam in den Antigravschacht aufwärts schwebten, sagte Adara: „Ich danke Euch, Charrut. Das ganze ist mir sehr peinlich“.
Bevor Charrut darauf etwas antworten konnte, lallte Merida: „Das muss dir nicht leid tun, Fam, das Charrut diese stinkenden Tiere reitet. Und Ihr, Charrut, lasst mich endlich los!“
Er dachte garnicht daran, Merida jetzt frei zulassen und mit unterdrückter, zorniger Stimme erwiderte er: „Das war bestimmt nicht das, was Eure Fama meinte“.
Während sie im Antigravschacht hinauf schwebten, verfluchte Charrut innerlich sein Schicksal. ‚Womit habe ich das verdient, Ihr Heroen. Erst nehmt Ihr mir Onista und jetzt muss ich eine Frau heiraten, die ich weder kenne noch liebe. Und die dem Alkohol so zuspricht, dass sie ihre Sinne nicht mehr unter Kontrolle hat. Warum???‘ Die letzte Frage hätte er fast laut hinausgeschrien, aber zum Glück wehrte sich Merida in diesen Moment etwas und brachte ihn wieder zurück in die Realität.
Mittlerweile hatten sie das Stockwerk erreicht, wo die beiden Frauen während ihres Besuchs wohnten. Gemeinsam schwangen sie sich aus dem Antigravschacht und gingen zum Eingang des Wohnbereiches; Adara ging voraus, während Charrut die sich wehrende Merida mit sich trug.
Adara öffnete den Eingang und gemeinsam betraten sie den Wohnbereich. Die schweren Türen schlossen sich hinter ihnen. Charrut legte Merida sanft in einen Sessel ab. Als diese wieder aufstand und in Richtung Ausgang schwankte, stellte Charrut sich ihr in den Weg und sagte mit einer Stimme, in der der unterdrückter Ärger mitschwang: „Heute nicht mehr!“
Merida starrte ihn mit glasigen Augen an, drehte sich um und verschwand in ihrem Schlafbereich.
Adara setzte sich auf die Couch im Aufenthaltsraum, verbarg das Gesicht in ihre Hände, bevor sie sagte: „Ich verstehe jetzt meinen Mann besser!“
Adara sah müde und abgespannt aus, als sie Charrut ansah und fragte. „Wollt Ihr Euch nicht setzen? Dann können wir uns darüber unterhalten“.
Charrut schüttelte den Kopf und erwiderte: „Morgen! Jetzt muss ich zurück und mit den Gästen reden, die Wogen glätten. Wir reden Morgen, dann sollte Merida auch wieder nüchtern sein. Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Adara“, drehte sich um und verließ den Wohnbereich, um sich der äußerst unangenehmen Situation zu stellen.
* * *
Merida wachte auf. Die Welt drehte sich vor ihren Augen. Stöhnend richtete sie sich auf und erhob sich langsam. Wankend blieb sie kurz stehen, sah, dass sie ihr Abendkleid noch immer trug und darin geschlafen haben musste. Langsam und taumelnd verließ sie ihren Schlafbereich. Als sie niemanden im Aufenthaltsraum sah, kicherte sie vor sich hin und verließ den Wohnbereich. Draußen musste sie sich an der Wand abstützen, während sie langsam zum Antrigravschacht trottete. Als sie ihn erreichte, ließ sie sich in den aufwärtsgepolten Antigravschacht hineinfallen und schloss die Augen. Ihr wurde langsam schlecht und die Welt drehte sich bei geschlossenen Augen schneller. Mühsam öffnete sie wieder ihre Augen und als sie an einem beleuchteten Ausgang des Antigravschachtes vorbeikam, hielt sie sich an einem Griff fest und wurde so aus dem Antigravschacht hinausgeschoben.
Ziellos irrte sie herum, bis sie irgendwann in einem Gleiterhangar landete. Beschwerlich stieg sie in einen Gleiter ein, ohne auf die Warnhinweise zu achten, die am Boden vor dem Gleitereingang aufleuchteten. Später konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie es geschafft hatte, den Gleiter zu starten und ohne Probleme aus dem Gleiterhangar hinaus zusteuern. Sie flog in keine bestimmte Richtung, schaltete den Autopiloten ein und kauerte sich in ihren Sitz zusammen; ihr war so schlecht.
Ungefähr eine viertel Tonta später ertönte ein Warnsignal, das Merida aus ihrem tranceähnlichen Zustand riss. Sie blickte die Steuerkonsole an und sah ein rotes Licht blinken.
„Was ist geschehen?“ fragte sie die Bordpositronik.
„Zdhopan, es liegt ein Energieabfall im Triebwerk vor und folgedessen verlieren wir an Flughöhe. Ich leite bereits eine Notlandung ein.“
„Setze einen Notruf ab“
„Zdhopan, das entsprechende Systemmodul befindet sich nicht an Bord“
„Was? Wie kann das sein?“ fragte Merida verstört, während sie schlagartig wach und nüchtern wurde.
„Zdhopan, der Gleiter war in Wartung, als Ihr ihn gestartet habt. Es war nur eine Energienotfallreserve vorhanden“ antwortete die Bordpositronik.
„Dann lande den Gleiter so schnell wie möglich“ erwiderte Merida, die sich wieder etwas gefangen hatte.
„Zdhopan, die Notlandung ist bereits…“ verstummte die Bordpositronik und Merida sah, wie die Kontrolllichter der Steuerkonsole dunkel wurde.
Sie warf einen Blick aus dem Sichtfenster vor der Steuerkonsole und sah, dass sich der Gleiter über eine ausgedehnte urwaldähnliche Landschaft befand. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit steuerte der Gleiter den Bäumen entgegen.
„Bei den She’Huhans, das ist das Ende“ flüsterte Merida mit aufgerissenen Augen noch zu sich, als sich Sicherheitsgurte automatisch um ihren Körper wickelten und der Gleiter sich durch die Kronen von dichten Urwaldbäumen einen Weg bahnte. Dabei wurde der Gleiter stark abgebremst und stürzte danach noch aus einigen Quars Höhe ab und prallte mehrmals auf den sumpfigen Boden, um anschließend bis zur Hälfte darin zu versinken. Von alledem hatte Merida schon nichts mehr mitbekommen, nachdem sie bei den ersten schweren Erschütterungen des abstürzendes Gleiters ihr Bewusstsein verlor, da ein im Fahrgastraum umherschleuderndes Werkzeug ihre linke Schläfe getroffen hatte.
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