Begegnungen

Teil 1

 

Die Entscheidungen, die wir treffen, bestimmen, was für ein Leben wir führen.

 

 

31. Prago to Tartor 14.597 da Ark

Charruts Gesichtsfarbe verdunkelte sich etwas und auf seiner Stirn sah man eine Ader immer deutlicher. Er konnte und wollte jetzt keine Gesellschaft haben, einfach nur allein sein. Darum hatte er sich von den anderen Thos’athor getrennt. Seit einiger Zeit schon hatte er Probleme mit einigen von Ihnen.

'Hatte er sich verändert? Oder die anderen? Oder war es nur eine logische Entwicklung des Älterwerdens oder der Ausbildung auf der Raumakademie?' Er wusste es nicht.

Er betrat die belebte Straße und hielt kurz inne. 'Zurück zur Akademie?' fragte er sich. Nein, heute nicht. Heute wollte er sich zerstreuen, wollte etwas erleben und wenn er nur andere Gesichter sah.

Der Großteil der Arkii-Menge auf der Straße zog in Richtung Zentrum. 'Warum auch nicht', sagte er sich, entfernte sich vom Ausgang, reihte sich in die Menge ein und ließ sich  treiben. Vorbei an auftauchenden Trinkhallen, Restaurants, Glücksspielhallen, Etablissements für einsame Herzen…

Die Reklame wurde bunter und greller, vor diversen Etablissements standen Werber, um Kundschaft in ihr Lokal zu locken.

'Verdammt, was sollte das eben', ging es ihm durch den Kopf. Er ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Fingernägel anfingen, sich schmerzhaft in die Haut zu bohren. Er war noch immer wütend auf die anderen Thos’athor, besonders auf die eine, Ma’chor Sinica Chinar. Sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn und Auris vor einiger Zeit alleine zusammen gesehen hatte und ihm zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben, dass die Akademie-Leitung es nicht tolerieren würde, wenn ihre Schüler gegen den Paragrafen 5 Absatz 17 verstoßen sollten. 'Paragraf 5 Abs. 17 besagte nichts anderes, als dass sich die männlichen und weiblichen Thos'athor in ihrer Freizeit getrennt voneinander halten mussten und keine intime Verbindung eingingen', ging es ihm durch den Kopf. Natürlich war ihm das klar, aber alleine die Andeutung dieser Ma'chor hatte ihn wütend werden lassen. Was wusste diese Ma'chor schon von ihm oder Auris? Nichts!

Die Menge schob ihn in Richtung Vergnügungsviertel, unbewusst hatte er sich langsam an den Rand der Arkii-Menge bewegt.

"Zdhopan, kommt herein, gutaussehende und willige Mädchen werden Euch einen unvergesslichen Abend bereiten" wurde er von einem Werber angesprochen.

"Heute nicht" antwortete er im Vorbeigehen. Dass ihn dieser Unirhi nicht nochmals ansprach, lag an seinem Gesichtsausdruck, das immer noch den Hauch von Ärger zeigte.

'Frauen, nichts als Ärger mit Ihnen', sagte er sich ohne stehen zu bleiben.

Einige Geschäfte weiter tauchte an einer Kreuzung ein auffallend grell beleuchtetes Reklameschild auf, das den Weg zu einer Trinkhalle in der Seitenstraße wies. ’Der lachende Mehandor’ nannte sie sich.

'Passt zwar eher zu Tranthar, wäre aber einen Versuch wert! Hier kommt bestimmt niemand herein, den ich kenne', sagte er sich und steuerte auf die Trinkhalle zu. Als er dort ankam, kamen ihm Zweifel. Die Trinkhalle sah eher aus wie eine düstere Spelunke. 'Nur Mut', dachte sich Charrut und trat ein. Das Licht glich eher der Notversorgung an Bord eines Raumschiffes und es lag ein Geruch in der Luft, als wenn hier seit Jahrzehnten niemand mehr gelüftet hatte. Er rümpfte die Nase, ging aber zielstrebig auf einen freien Tisch zu und setzte sich.

Auf der am Tisch angebrachten Speise- und Getränkepositronik bestellte er sich gleich einen Raucasa-Schnaps, den ihm Tranthar empfohlen hatte, sollte er einmal Gelegenheit dazu haben. Tranthar hatte behauptet, kein Arki trinkt mehr als ein Glas davon, er soll sogar für Mehandor ein sehr starkes Getränk sein.

Kurze Zeit später kam ein älterer Mehandor mit einer verdreckten Schürze um seinen Wanst an seinen Tisch. Der Mehandor blickte kurz Charrut an, dann das Getränk, das er dabei hatte und wieder zurück, fragte auf die polternde Art der Mehandor.
"Zdhopan, wirklich für Euch?"

Charrut antwortete energisch: "Ja, stellen Sie es hin und bringen Sie mir etwas vom In'asech".

Der Mehandor grunzte irgendetwas in seinen schon gräulich durchwirkten roten Bart und trottete los und kam ein wenig später mit einer Portion In’asech zurück.

Charrut nahm einige Bissen vom In'asech – gebratene Fleischstreifen auf Salat – bevor er sich an das Getränk heranmachte. Es roch bitter. Er schickte ein kurzes Stoßgebet an die She'Huhanii und nahm zwei kräftige Schlucke. Es schmeckte nicht schlecht, irgendwie nach vergorener Milch und dass es besonders stark sein sollte, hatte er beim Trinken auch nicht bemerkt. So aß er weiter und trank den Racausa aus, er bestellte sich gleich ein zweites Glas davon.

Gut eine Palbertonta später spürte er, wie der Alkohol seinen Magen erwärmte und ihm in den Kopf stieg, so langsam bekam er einen glasigen Blick.

"Das hätte ich Euch nie zugetraut, Charrut del Harkon. Ich dachte schon, Ihr wäret ebenfalls ein Weichling, wie die meisten Thos'athor von der Akademie!", sprach ihn auf einmal eine dunkel klingende Frauenstimme von hinten an.

'An wen erinnert mich diese Stimme?' fragte sich Charrut, und bevor er sich umdrehen konnte, stand sie vor seinem Tisch. Überrascht sah Charrut auf: Es war die dunkelhaarige Schönheit der LEKA-Besatzung einer seiner letzten Einsätze. Er hatte schon damals ihr Aussehen bewundert. Ein markant geschnittenes Gesicht, kurzgeschnittenes schwarzgefärbtes Haar, das so gar nicht dem vorherrschenden Erscheinungsbild weiblicher Arkii passte, aber ihr Gesicht umso mehr betonte. Dazu blaue Augen, in denen er sich verlieren konnte – sie erinnerten ihn an den kristallklaren Gebirgssee Nenin auf Harkon – von der sportlichen, durchtrainierten Figur gar nicht zu reden.

Onista Ferinei

'Verdammt, wie hieß sie noch mal?' Doch Charrut fiel ihr Name nicht ein, sein altes Problem. Zahlen, Bezeichnungen und Gesichter waren für ihn kein Problem, aber Namen zu behalten…

"Was meint Ihr?" fragte er zurück, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, ihren Namen, der ihm einfach nicht einfallen wollte, sagen zu müssen.

"Normalerweise verirrt sich hierher nie ein Adliger und erst recht nicht solche, die Racausa trinken. Das ist eine Mehandor-Spezialität, extrem stark!" sagte sie und setzte sich ihm gegenüber. Sie deutete auf sein Glas. "Das wievielte ist es?"

"Jetzt das zweite in meinem Leben" erwiderte Charrut und merkte, wie ihm so langsam das Sprechen schwerer fiel.

Sie lachte glucksend auf, drehte sich in Richtung Bar und rief: "Tungha, für mich das Übliche."

"Das Übliche?" fragte Charrut. "Ihr seid also öfter hier?"

"Wenn ich gerade nicht im Einsatz oder mit Freunden unterwegs bin, komme ich ein- bis zweimal im Berlenprag hierher", sagte sie. Der Mehandor von vorhin brachte ihr ein Glas – mit Racausa! Sie prostete Charrut zu und bevor er einen Schluck genommen hatte, stellte sie ihr halbvolles Glas ab.

"Alle Achtung, das würde ich nicht schaffen" sagte Charrut erstaunt zu ihr.

Sie lachte und fragte: "Was habt Ihr so erlebt, seit wir vor einigen Votanii gemeinsam mit der LEKA im Einsatz waren?"
Während die Trinkhalle immer voller wurde, draußen sich die Sonne dem Horizont entgegen neigte und die Zeit bis Mitternacht immer kürzer wurde, erzählten sich beide gegenseitig Geschichten von Einsätzen, von Freunden und der Familie. Mitten drin waren sie beim Vornamen angekommen und der Alkohol tat seine Schuldigkeit. Das dritte Glas Racausa stand auf ihren Tisch.

* * *

Charrut wurde wach, weil die Sonne ihm ins Gesicht schien. Er blinzelte und fragte sich, seit wann die Sonne in sein Zimmer schien. Er drehte den Kopf und stellte fest, das es gar nicht sein Zimmer war. Eine unbekannte Einrichtung, wohl von Frauenhand drapiert: Hier etwas ausgesprochen weibliches, dort etwas Schmuck, an den Wänden Bilder von Arkii, die er nicht kannte.

'Wo bin ich?' fragte er sich. Er wollte wie immer aufstehen, doch da fing die Welt an sich zu drehen. Er stöhnte, weil ihn leichte Kopfschmerzen plagten. 'Verdammt, hätte ich nur nicht auf dich gehört, Tranthar', dachte er sich und versuchte erneut aufzustehen. Nun ging es, wenn auch nur langsam und mühselig. Er saß am Bettrand, hielt sich den Kopf, die Kopfschmerzen wurden stärker. Ihm war Übel und irgendetwas brannte in seinen Adern. Verschwommen sah er auf dem Boden umherliegende Kleidungsstücke und bemerkte, dass er nur mit der dünnen Bettdecke bedeckt war, sonst nichts an hatte. Charrut stand auf, mit der einen Hand hielt er die Bettdecke fest, um sich zumindest ab der Hüfte abwärts bedeckt zu halten, mit der anderen Hand stützte er sich beim Gehen ab und folgte dem Gang, der aus dem Schlafraum führte. Die Kopfschmerzen wurden stärker, so dass er nur mit halbgeschlossenen Augen mehr herum stolperte als ging.

Als er in den Aufenthaltsraum trat, sah er sie. Sie saß auf einem Barhocker, hatte die Stiefel von seiner Ausgeh-Uniform an, trug sein Hemd, was nicht zugeknöpft war und sonst nichts. Sie lächelte ihn an, stand auf und ging auf ihn zu, stellte sich auf ihre Fußspitzen und küsste ihn. Dabei drückte sie sich ganz fest an ihn und er spürte ihre harten Nippel auf seiner Haut.

"Guten Morgen, Du Langschläfer. Wie fühlst Du Dich?"

"Wie von den She’Huhanii ausgespuckt, ich habe grässliche Kopfschmerzen, die Welt dreht sich und mir ist Übel" erwiderte er. "Hast Du etwas gegen die Kopfschmerzen und …" brachte er gerade noch hervor, bevor er sich setzen musste. Sie lachte ihn an, verschwand kurz aus dem Aufenthaltsraum und kam mit einer Injektionspistole zurück. "Das wird helfen" sagte sie, während sie ihm die Injektionspistole an der Halsschlagader ansetze und ihm das Medikament verabreichte.

Gleich darauf verspürte er, wie das Brennen in den Adern, die Übelkeit und Kopfschmerzen nachließen.

"Was ist eigentlich geschehen?" fragte Charrut. "Was geschehen ist?" fragte sie. "Nun, nachdem wir einiges über unsere Familien, Freunde und uns ausgetauscht haben, sind wir uns näher gekommen. Und nach Deinem dritten Racausa wolltest Du unbedingt mit zu mir. Erinnerst Du Dich nicht mehr?" fragte sie zurück.

"Ich kann mich nur dunkel an das dritte Glas Racausa erinnern und daran, das die Mehandor untereinander anfingen zu wetten, wer als erstes aufgibt oder umfällt. An alles andere, was danach kam, habe ich keine Erinnerung mehr, tut mir leid", antwortete Charrut.

"Aber meinen Namen kennst Du noch?" überfiel sie Charrut.

"Ja, Onista!". Überrascht zuckte Charrut innerlich kurz zurück, doch sein Magen knurrte plötzlich so laut, dass er nicht weiter darüber nachdachte, dass er sich ihren Namen merken konnte.

"Können wir frühstücken? Ich habe Hunger wie ein Cu’heno" sagte Charrut.

"Das liegt am Racausa, eine typische Nebenwirkung." erwiderte sie lächelnd. "Ich werde Dir was zubereiten und die Hygienekabine ist rechts, neben dem Schlafzimmer!"

Charrut versuchte zu lächeln, stand auf und ging noch wackligen Schrittes zur Hygienekabine.

* * *

Als er nach einigen Palbertontas wieder in den Aufenthaltsraum kam, duftete es nach frischem Gebäck und heißem Kerisu. Onista hatte sich in der Zwischenzeit auch angezogen und trug jetzt einen hautengen Freizeitanzug nach der neuesten Mode. Der Anzug unterstrich ihre Proportionen, dass ihm fast die Luft weg blieb und er unbewusst ein 'Dala' aussprach. Onista stand mit dem Rücken zu ihm, goss Kerisu ein und drehte sich ihm lächelnd zu.

"Gefällt es Dir?"

"Gefallen? Mehr als das", sagte Charrut, setzte sich, zog seine Stiefel über und sein Hemd an. Anschließend frühstückten sie zusammen.

Nach dem Frühstück fragte Onista: "Sehen wir uns wieder? Oder bleibt es bei einer flüchtigen Begegnung?"

"Darüber habe ich schon während des Frühstückes nachgedacht", gestand Charrut.

"Und, zu welcher Entscheidung hast Du Dich durchgerungen?" fragte Onista ihn, während sie ihn beim Trinken über den Tassenrand ansah.

Charrut lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sah Onista direkt ins Gesicht, überlegte kurz und er widerte: "Gib mir etwas Zeit, Ich will nichts überstürzen. Außerdem waren vorgestern die Prüfungen zum Athor a.p., ich weiß nicht, ob ich sie bestanden habe."

Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: "Ein Vorschlag: wir treffen uns morgen wieder, dann hatten wir beide etwas Zeit, darüber nachzudenken. Was hältst Du davon?"

Sie zögerte einen Augenblick, bevor sie mit einer enttäuscht klingenden Stimme antwortete: "Einverstanden. Morgen zur 15. Tonta? Bei mir hier?"

"Ja, gerne!"

"Möchtest Du noch etwas vom Kerisu?" fragte sie.

"Nur etwas, ich muss gleich los".

Nachdem er den Kerisu mit vorsichtigen Schlucken ausgetrunken hatte, stand er auf, kontrollierte, ob alle seine Sachen vorhanden waren (Akademie-Ausweis, Kredit-Chip etc.), die hellblaue Uniform richtig saß. "Es ist soweit, ich muss mich auf der Akademie zurückmelden", sagte er dann zu Onista.

Onista stand auf und beide gingen in Richtung Wohnungstür. Vor dem Öffnen der Türe nahm Charrut Onista in die Arme und sie küssten sich. Dann schritt er hinaus in Richtung Antigrav-Schacht…

* * *

Charrut schwang sich auf Höhe der Rohrbahnstation aus dem Antigrav-Schacht und schaltete seinen Armbandkommunikator ein. Nach einigen Augenblicken teilte ihm das Gerät mit, dass Kerasor bereits mehrere Male versucht hatte, ihn anzurufen; der letzte Anruf war zur dritten Tonta gewesen, also erst vor kurzem. 'Was will denn Kerasor so früh?' fragte er sich. Kaum hatte er sich über Kerasors morgendliche Anrufe gewundert, rief dieser erneut an.

"Charrut? Verdammt! Ich habe versucht, dich den ganzen morgen über zu erreichen! Wir wollten doch noch einige Lerneinheiten gemeinsam durchgehen!"

"Tut mir leid, das habe ich komplett vergessen. Ich bin in Varynkor-Etset versumpft und war die Nacht über nicht in der Akademie."

"Das gibt Ärger, Charrut. Wo steckst du?"

"Ich bin gerade auf dem Weg zur nächstgelegenen Rohrbahn, um zur Akademie zu kommen. Ich bin hier…" er las die Beschreibung ab, die neben dem Antigrav-Schacht angebracht war, "12. Bezirk, bei der Garat-Station."

"In Ordnung, dann bist du ja spätestens in einer halben Tonta hier. Was war eigentlich los?"

"Am besten, wir treffen uns in meinem Wohnraum, sagen wir in einer Tonta? Dann können wir darüber reden."

"Na gut, Charrut, bis später in einer Tonta," sagte Kerasor und beendete die Verbindung.

* * *

Während der Fahrt mit der Rohrbahn in Richtung Akademie überdachte Charrut die Situation, zu der er vorhin bei Onista nicht die Ruhe gefunden hatte. Wie war er in die Situation gekommen? Alles hing mit Auris zusammen, die ihm schon vom ersten Prago an der Akademie gefallen hatte. Daraus war dann im Laufe des ersten halben Tai-Votan mehr geworden, er hatte sogar seinen 'Konkurrenten' Pereth del Deghar ausgestochen.

Alles sah damals danach aus, als wenn ihre Beziehung den nächsten Schritt machen würde, aber daraus wurde nichts. Einsätze und Schulungen hatten ihnen wenig Zeit gelassen, sich auch um die eigene Beziehung zu kümmern. Seit Anfang dieses Tai-Votan hatte sich ihre Beziehung langsam abgekühlt und seit dem Prikur 23, als Auris von Amat Palongs Totenfeier von Aralon zurückkehrte, fanden sie so gut wie keine Zeit mehr, sich zu treffen, und wenn er versuchte, sie zu erreichen, war sie entweder in einem separaten Einsatz oder sie antwortete nicht. Er hatte alles versucht, er brauchte sich nichts vorwerfen lassen.

Die Enttäuschung war riesengroß gewesen für ihn. Mit Kerasor und Tranthar hatte er einmal über Auris gesprochen, aber sie hatten ihm auch nicht helfen können. Sogar mit seiner Tante T'hina hatte er während der Ferien zuhause darüber gesprochen. Sie hatte ihm einige Punkte dargelegt, die er so nicht gesehen hatte. Nach vielen Votanii, in denen er immer wieder versucht hatte, die Beziehung zu Auris zu erneuern, hatte er sich eingestanden, dass es so nicht weitergehen konnte. Er hatte eine Entscheidung getroffen: Er wollte Auris, was auch immer sie vorhatte, nicht aufhalten, wollte sie ihren Weg gehen lassen. Er würde seinen gehen!

Es schmerzte natürlich, die Liebe, die sie füreinander empfunden hatten, nicht mehr erwidert zu sehen. Aber da musste er durch, mit den Konsequenzen leben, die seine Entscheidung mit sich brachte. Ihm fiel ein, was sein Vater einmal zu ihm gesagt hatte: 'Jeder Arkii geht seinen Weg. Die Wege mancher Arkii kreuzen sich, gehen eine Zeitlang gemeinsam und trennen sich wieder'. So war es wohl.

Es war ihm nicht leicht gefallen, seinen Entschluss Auris mitzuteilen, zulange hatten sie eine Beziehung. Auris und er hatten sich wie immer, wenn sie sich verabredeten, in einem Restaurant in der Nähe der Stadtverwaltungen in Varynkor-Etset getroffen. So fielen sie nicht auf, wenn zur Mittagszeit Hochbetrieb herrschte. Auris schien etwas geahnt zu haben, denn sie war von Anfang an ziemlich reserviert gewesen. Er hatte Ihr seine Überlegungen und seinen daraus gezogenen Entschluss mitgeteilt. Anschließend war sie ohne ein Wort zu sagen aufgestanden und gegangen, etwas blasser als sonst und mit einem versteinerten Gesicht. 'Vielleicht war er etwas zu brüsk gewesen' ging es ihm durch den Kopf. 'Aber andererseits: sie waren keine Kinder oder Jugendliche mehr, sondern beim Militär, das härtet ab' sagte er sich.

Dass seine Beziehung, besser gesagt Ex-Beziehung zu Auris nicht unbemerkt blieb, war ihm von Anfang an klar. Aber erst gestern hatte eine Ma'chor dumme Sprüche von sich gelassen, dass er stinksauer geworden war und nur seine aristokratische Erziehung hatte ihn davon abgehalten, sie übers Knie zu legen. Und um sich zu beruhigen, war er nach draußen gegangen und hatte sich von der Arkii-Menge treiben lassen.

Und dann war er Onista begegnet. Kennengelernt hatte er sie bei einem seiner letzten Einsätze, als er als Ma'chor eine LEKA führte. Sie gehörte zu seiner Besatzung, wie noch zwei Frauen und ein Mann. Sie hatte ihm im Laufe des Einsatzes immer mehr gefallen, vor allem, da sie gar nicht dem Arkiibild entsprach: Kurzgeschnittenes schwarzes Haar, hellblaue Augen, eine leicht rauhe Stimme. Aber so sehr sie ihn gefallen hatte, genauso vorsichtig würde er nach der Erfahrung mit Auris sein. Nur nichts überstürzen, keine voreiligen Entscheidungen treffen. Außerdem musste noch etwas Secinda-Moos über die Wunde wachsen, die er durch Auris erhalten hatte. Diesmal würde er nicht den ersten Schritt tun, sondern es auf sich zukommen lassen.

Eine Automatenstimme kündigte die Station 'Raumakademie' an, und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

* * *

Charrut kam ungefähr nach einer halben Tonta zurück in seinem Wohnraum. Nachdem er eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte er sich mit dem Rücken an die Tür und schloss für einen Moment die Augen: gleich würde Kerasor kommen und wissen wollen, warum er letzte Nacht in Varynkor-Etset versumpft und was vorgefallen war. Was sollte er ihm sagen? Die Wahrheit? Würde er dafür Verständnis aufbringen? Aber andererseits war er sein Freund, und Freunde hatten keine Geheimnisse voreinander. Er öffnete wieder seine Augen, stieß sich von der Tür ab und ging in Richtung Schrank, um sich eine neue Uniform anzuziehen. Er hatte seine Uniform schon zur Hälfte ausgezogen, als er an seinem Positronik-Terminal das Symbol für eine schriftliche Nachricht sah. Er setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und befahl der Positronik, die Nachricht darzustellen:

"Einladung zum Symposium – Thema: Beschleunigung im vierdimensionalen Raum. Zeitpunkt: 3. Katanii ta Capit. Ort: Ecando-Etset".

"Oh nein" murmelte er entsetzt vor sich hin und sackte ein Stück in sich zusammen. Das hatte er total vergessen. Das verabredete Kennwort. Nachdem er nur noch selten zuhause war und fast nicht mehr an einem Nat'tha-meh-Rennen teilnehmen konnte, hatte er durch Zufall im ersten Tai-Votan an der Akademie ein Gespräch mitbekommen, indem es um ein verbotenes illegales Raumrennen ging. Er hatte damals alles daran gesetzt, teilnehmen zu können und seine Hartnäckigkeit wurde belohnt. Er hatte dann die Bekanntschaft mit einem Se'chor in Varynkor-Etset gemacht, der ihn in die Teilnahme und den Ablauf einweihte. Selbstverständlich war es kein echter Se'chor und selbstverständlich war der Name, den der Se'chor ihm genannt hatte, falsch, aber er hatte sein Ziel erreicht. Zweimal im Tai-Votan gab es diese Raumrennen: im Ansoor und in den Katanii ta Capit. Wann, wusste kein Teilnehmer, nur dass sie kurz vorher eine Nachricht in ihren Positronik-Terminals vorfinden würden. Treffpunkt war immer der kleine Zivilraumhafen in Ecsando-Etset auf der anderen Seite von Varynkor. Er hatte in der Vergangenheit schon mehrere Versuche gestartet, den Absender zu lokalisieren, aber trotz seiner guten Positronik-Kenntnisse war er immer wieder gescheitert, er vermutete, dass jemand aus der Administration der Akademie selbst involviert war.

Er liebte diese Raumrennen, eingezwängt in einer kleinen Kabine, nur ein Raumanzug mit Notvorräten und einem Notfunksystem, ein Andruckabsorber und einem Ortungsgerät, und sonst nichts. Nur die pure, brachiale Gewalt des Triebwerks im Rücken hieß es, bestimmte Punkte in einem Raumsektor abzufliegen, und das in kürzester Zeit. Nur die fünf schnellsten qualifizierten sich automatisch für das nächste Rennen, und er hatte es in den letzten beiden Tai-Votanii geschafft, immer weiter zu kommen. Jeder Teilnehmer bekam die gleiche Ausstattung und es war jedem Teilnehmer überlassen, wie weit er seine Maschine 'modifizierte'.

Mittlerweile fragte er sich aber, ob er es noch riskieren konnte, an diesem illegale Raumrennen weiterhin teilzunehmen. Das Ende der Ausbildung war abzusehen und alles zu riskieren, nur weil er ein paar Tontas Spaß haben wollte? Sicher nicht. Außerdem hatten sich seine Prioritäten geändert, seine Sichtweise war jetzt eine andere als noch vor ein paar Votharii. Mit einem inneren Seufzer drückte er am Display des Positronik-Terminals auf die Schaltfläche 'Nein'.

Kaum hatte er der Teilnahme abgesagt, klopfte es an der Tür. Erschrocken sah er auf seinen Armbandkommunikator und musste feststellen, dass die Tonta vorbei war, die er sich vorhin bei Kerasor ausgebeten hatte. Charrut ging zur Tür und öffnete sie. Vor der Tür stand Kerasor. "Komm herein" sagte er zu ihm und ging wieder in den Raum hinein, wohin ihm Kerasor folgte. "Ich bin gleich soweit, ich muss mir nur eine neue Uniform anziehen". Kerasor setzte sich entspannt auf den Stuhl vor dem Arbeitstisch und fragte gleich drauf los: "Was war los? Warum bist du, um es mit deinen eigenen Worten zu sagen, in Varynkor-Etset 'versumpft'? Wo warst du überhaupt?"

Mittlerweile hatte sich Charrut eine neue hellblaue Akademie-Uniform angezogen und setzte sich Kerasor gegenüber auf sein Bett. "Ich hatte gestern versucht, dich und Tranthar zu erreichen, aber ihr habt nicht auf meinen Anruf reagiert. Also bin ich alleine nach Varynkor-Etset aufgebrochen. Unterwegs bin ich einigen anderen Thos’athor begegnet, die ich noch von anderen Einsätzen her kenne und so sind wir durch diverse Trinkhallen und anderen Etablissements gezogen. Eine weibliche Thos’athor hat sich über meine Beziehung zu Auris lustig gemacht und so bin ich alleine weiter gegangen. In einer Trinkhalle traf ich dann eine Frau, die ich vom letzten LEKA-Einsatz kannte. Nach reichlich viel Racausa-Schnaps bin ich dann vorhin bei ihr in der Wohnung aufgewacht."

Kerasor schaute Charrut mit großen Augen an. "Und Auris?". Charrut seufzte, fuhr sich mit der rechten Hand durch sein schulterlanges Haar und meinte dann nach einigen Palsartontas: "Ich habe mich entschieden. Ich lasse Sie den Weg gehen, den Sie gehen will. Ich sehe keine gemeinsame Zukunft für uns."

Kerasor lehnte sich im Stuhl zurück und antwortete dann: "Seit Anbeginn der Ausbildung, seit wir uns kennen, warst Du immer in Auris vernarrt und jetzt, so plötzlich, nicht mehr?"

"Nein, nicht plötzlich! Seit Anfang dieses Tai-Votan wurde unsere Beziehung immer einseitiger, immer distanzierter. Ich habe alles versucht, um mit Auris darüber zu reden, aber ich habe es nicht geschafft. Entweder habe ich Sie nicht erreicht, oder Sie wollte mit mir nicht reden. Wie dem auch sei, ich habe mich entschieden. Und außerdem habe ich Auris meine Entscheidung schon mitgeteilt!" Er unterstrich seinen letzten Satz mit einer energischen Handbewegung.

"Wann hast du ihr es gesagt?" fragte Kerasor überrascht.
„Vor zwei Pragos, direkt nach unserer Athor-Prüfung. Wir haben uns in dem Restaurant getroffen, das wir bisher immer genommen haben, wenn wir zusammen sein wollten. Dort habe ich ihr meine Entscheidung mitgeteilt.“

"Und wie hat sie reagiert?"

Charrut machte eine unbestimmte Handbewegung und erwiderte: "Na, wie wohl? Du kennst sie doch. Sie hat nichts gesagt und ist ohne ein Wort zu sagen gegangen."

Kerasor schüttelte den Kopf und erwiderte: "Ich verstehe es nicht. Nein, falsch: Ich verstehe dich nicht! Auf mich hat Auris immer einen patenten Eindruck gemacht. Ich nahm immer an, dass ihr zwei wie geschaffen für einander seit! Und jetzt hast du ihr den 'Laufpass' gegeben. Du hättest ihr noch eine Chance geben und abwarten können, wie es sich für euch entwickelt. Der eine Votan hätte auch nichts mehr geändert, oder?"

Charrut verzog unwillig sein Gesicht und erwiderte: "Noch ein Votan, oder vielleicht zwei Votanii, noch mehr Einsätze von ihr, die von ihrem Onkel beauftragt und beobachtet werden. Und wieder keine Entscheidung von ihr, für oder gegen mich. Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass es besser geworden wäre?"

Kerasor erkannte Charrut gar nicht wieder. Er überlegte kurz, bevor er fragte: "Und diese Frau, die du gestern wiedergetroffen hast? Willst du etwas über sie erzählen?"

Charrut überlegte kurz, was er Kerasor sagen sollte. "Nun, da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie war auf meiner LEKA-Disk als Positronik-Spezialistin und Navigatorin und heißt Onista Ferinei. Wie du dir sicherlich schon selbst überlegt hast, ist sie eine Essoya, und sie sieht ganz anders aus als die meisten Arkii: kurze, schwarze Haare und blaue Augen."

"Eine Essoya! Und deine Gefühle für sie?"

"Frage mich lieber etwas anderes, ich weis es selbst nicht. Auf der einen Seite gefällt sie mir vom Aussehen und an manchen Punkten habe ich eine gewisse Seelenverwandtschaft entdeckt, auf der anderen Seite kenne ich sie noch viel zu wenig." Mit diesen Worten stand Charrut auf und ging langsam auf und ab, bis er in Gedanken die richtigen Worte gefunden hatte.

"Aber jetzt etwas anderes: Ich muss dir ein kleines Geheimnis anvertrauen! Eigentlich wollte ich es niemand sagen, aber ich denke, du solltest es wissen."

Er blieb vor Kerasor stehen und sah in an. „Du weist, das ich das Risiko liebe.“ Charrut machte eine kurze Pause, um Kerasor Zeit zu geben, sich auf das neue Thema einzustellen.

"Darum hatte ich in den letzten beiden Tai-Votanii an einem noch nicht genehmigten Raumrennen teilgenommen."

Kerasor sah Charrut verblüfft an. „Was hast du?“

"Ich wollte wieder etwas machen, was mir Spaß macht! Etwas, was mich reizt, abseits der Ausbildung."

Kerasor fragte zurück: "Mir sind 'noch nicht genehmigte Raumrennen' nicht bekannt. Wo finden denn diese statt?"

"Na ja. 'Noch nicht genehmigte Raumrennen' ist vielleicht positiv umschrieben. In Wahrheit sind sie 'illegal'."

"Das dachte ich mir schon". Kerasor schüttelte den Kopf. "Du überraschst mich heute sehr: Erst gibst du Auris den Laufpass und dann erzählst du mir von illegalen Raumrennen. Das mit den Raumrennen kann ich noch nachvollziehen, aber deine Trennung von Auris… Sei froh, dass ich hier bin und nicht Tranthar, der hätte dir wegen Auris gewaltig den Kopf gewaschen. Du weist doch, wie sehr er Auris bewundert."

"Ich weis, wie Tranthar zu Auris steht. Mag sein, dass ich das etwas ungeschickt angestellt habe, aber ich stehe dazu. Und wenn Tranthar deswegen ein Problem mit mir hat, muss ich das akzeptieren".

Kerasor stand auf und sah Charrut nachdenklich an: "Es war deine Entscheidung, Charrut. Gehen wir jetzt noch die Lerneinheiten durch?"

"Ja, selbstverständlich"

"Dann lass uns gehen" erwiderte Kerasor und gemeinsam verließen sie Charruts Wohnraum.

* * *

Nach einigen Tontas kam Charrut zurück. Das Durcharbeiten der Lerneinheiten mit Kerasor hatte ihn ermüdet, da ihm immer wieder andere Gedanken versucht hatten, abzulenken. Er legte sich auf sein Bett und ließ die letzten Pragos nochmals Revue passieren. Was konnte er im nach hinein rechtfertigen? Wo hatte er Fehler gemacht? Wo hatte er richtig gehandelt?

* * *

33. Prago to Tartor 14.597 da Ark

Als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er sich entschieden. Die Bemerkung Kerasors, das Tranthar Auris stark bewunderte, hatte den Ausschlag gegeben. Er musste unbedingt mit Tranthar sprechen, bevor dieser aus anderer Quelle erfuhr, dass er sich von Auris getrennt hatte. So schnell er konnte, ganz ohne K'amana, stand er auf, duschte sich, zog sich an und machte sich auf den Weg in die Messe. Er suchte den Bereich auf, den ihre Gruppe im allgemeinen benutzte, um zu speisen. Als er dort hinkam, sah er Ellie, Etzor und Tranthar. Sie hatten bereits gegessen, da ihre Teller leer waren, und unterhielten sich angeregt. Charrut setzte sich zu ihnen und begrüßte sie.

"Guten Morgen Charrut, auch schon wach?" fragte Ellie.

"Was man so wach nennt" erwiderte er und bestellte sich eine große Tasse K'amana über das dem Tisch zugeordnete Eingabegerät. "Gestern Abend ist es spät geworden. Kerasor und ich sind noch etliche Lerneinheiten durchgegangen und als ich im Bett lag, gingen mir noch viele Gedanken durch den Kopf, bis ich einschlafen konnte". Dann trank er einen großen Schluck aus der Tasse, die ihn ein Servierroboter inzwischen gebracht hatte.

"Du solltest einmal anständig frühstücken, mein Freund! Du siehst sowieso recht hager aus, selbst für einen Arki", sagte Etzor mitfühlend, um gleich darauf lauthals loszulachen, als hätte er einen guten Witz gemacht. Andere Thos'athor an benachbarten Tischen blickten indigniert zu ihnen herüber ob der Lautstärke. Da erkannten sie Etzor und nahmen es mit Gelassenheit hin.

Charrut nahm den letzten Schluck aus der Tasse und bestellte sich gleich eine weitere, da seine Müdigkeit noch immer nicht verflogen war. Er wandte sich an Tranthar.

"Hättest du einen Augenblick Zeit für mich? Ich müsste unbedingt mit dir reden."

Tranthar sah ihn fragend an.

"Etwas privates!" ergänzte Charrut und sah dabei Ellie und Etzor an.

"Oh, ho!" sagte Ellie. "Komm Etzor, lassen wir die beiden alleine. Gehen wir in das Sportzentrum? Ich könnte noch etwas Dagor-Training gebrauchen, und du gibst einen hervorragenden Trainingspartner ab!"

"Ja, äh… machen wir" sagte Etzor und beide standen auf und gingen. Charrut kannte Etzor mittlerweile so gut, dass er an dessen Stimme erkannte, dass er liebend gerne geblieben wäre.

Nachdem beide außer Hörweite waren, fragte Tranthar leise: "Was gibt es so dringendes, dass du die beiden schon fast hinaus komplementiert hast?" Während er auf Charruts Antwort wartete, nahm er aus seiner Tasse einen Schluck.

Charrut hatte sich auf den Weg zur Messe überlegt, wie er Tranthar es beibringen sollte. Letztendlich hatte er sich entschieden, es ihm direkt zu sagen; er wollte nicht lange um den heißen Brei reden.

"Ich habe meine Beziehung zu Auris beendet!"

Tranthar verschluckte sich an seinem Schluck aus der Tasse und musste erst einmal kräftig husten, andere Thos'athor an benachbarten Tischen blickten neugierig zu ihnen herüber, bevor er Charrut mit heiserer, krächzender Stimme fragte: "Was hast du? Und wieso?"

"Ich habe mich in all den Tai-Votanii um Sie intensiv bemüht. Aber nie gab es eine Entscheidung für oder gegen mich. Und seit annähernd einem Votan wurde unsere Beziehung immer einseitiger. Ich habe Sie so gut wie überhaupt nicht mehr erreicht oder Sie wollte nicht mit mir reden."
Tranthar hatte sich mittlerweile soweit von seinem Verschlucken erholt, dass er wieder mit normaler Stimme reden konnte.

"Das sind deine ganzen Gründe?" fragte er und in seiner Stimme schwang Ärger mit. "Du weißt doch genau, wie es bei Ihr familiär steht. Ihr Onkel ist der Shekur, dem auch Varynkor untersteht. Glaubst du nicht auch, dass Sie bei allem, was sie tut, seine Position berücksichtigen muss?"

"Natürlich wird Sie das. Aber die Frage, die sich stellt, ist doch: Welche Entscheidungen Sie selbst jetzt und zukünftig fällen kann, ohne immer auf das Wohlwollen Ihres Onkels angewiesen zu sein."

Tranthars Gesicht und Körperhaltung drückten Ärger aus. Unbewusst fuhr er sich mit der Hand über sein Kinn, dort wo er einst einen Bart getragen hatte, den er, um auf der Akademie bleiben zu dürfen, abrasieren musste, genauso wie Etzor und die anderen Mehandor.

"Du bist dabei den größten Fehler Deines Lebens zu begehen!" sagte er im Brustton der Überzeugung. "Keine der hier anwesenden weiblichen Thos'athor kann es sich leisten, auf der Raumakademie einen Freund zu haben. Du kennst den Paragraph 17. Die Akademieleitung verweist jeden, gleich welchen Ansehens, ohne Gnade von der Raumakademie. Diese Schande könnte Auris ihrem Onkel niemals antun. Wenn sie dich auf Abstand hält, tut sie das aus diesem Grund. Und sie hat recht damit. Gerade du, Charrut, der du in letzter Zeit immer mehr durchblicken lässt, wie wichtig dir der Harkon-Khasurn ist, solltest das begreifen. Schließlich bis Du Nachfolger eines Khasurn-Oberhauptes und sie nur eine unter vielen in ihrem Khasurn! Vielleicht aber bist du einfach nur zu egoistisch, um sie zu verstehen."

Charruts Miene war mit jedem Wort Tranthars düsterer geworden.

"Nein!" sagte Tranthar, der durchaus in der Lage war, Charruts Gemütszustand richtig einschätzen zu können. "Versuche erst gar nicht, beleidigt zu sein! Was wäre ich für ein Freund, wenn ich dir nicht unverblümt meine Meinung sagen würde. An deiner Stelle würde ich nochmals mit Auris reden, und genau das zur Sprache bringen. Ich vermute, dass du mit diesem neuen Blickwinkel das letzte Tai-Votan auf der Raumakademie noch überstehen würdest. Wenn du dieses Gespräch nicht führen willst, hast du Auris ganz einfach nicht verdient. Das war mein letztes Wort zu diesem Thema, Charrut!"

"Auris und ich haben darüber geredet, vor fast einem Votan, falls du dich erinnerst. Und seitdem ist es nicht besser geworden."

Charrut stand auf und blickte zu Tranthar hinüber, der aber betrachtete das Thema tatsächlich als abgeschlossen und war nicht mehr gewillt, sich dazu zu äußern. Tranthar hatte wohl bemerkt, dass Charrut gar nicht die Absicht hatte, die Situation aus einem anderen Blickwinkel als seinem eigenen zu betrachten.

"Ich wollte dir es sagen, bevor du es von anderer Seite erfährst, da du mein Freund bist", merkte Charrut noch an. Als Tranthar auch dazu schwieg, sagte er mit einer etwas kräftigeren Stimme: "Und außerdem: meine Entscheidungen treffe ich selbst! Ob sie richtig oder falsch sind, wird die Zukunft zeigen."

Mit diesen Worten stand er auf und ging in Richtung Ausgang.

* * *

Onista warf zum wiederholten Male einen Blick auf ihr Vot. In wenigen Paltortontas würde Charrut kommen, so wie er es gestern beim Frühstück angekündigt hatte. Sie hatte, nachdem Charrut gestern gegangen war, sich selbst eine 'Närrin' geschimpft. Hatte sie wirklich annehmen können, dass er gleich 'Ja' zu einer Beziehung mit ihr sagen würde? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hätte sie genauso wie er reagiert: Erst einmal in Ruhe darüber nachdenken! Sie selbst sah ihre beider Herkunft als die größte Bedrohung für eine Beziehung an: Sie, die Tochter 'gewöhnlicher' Arkii, er ein Sohn aristokratischer Abstammung. Sie seufzte und blickte wieder auf das Vot. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Sie schaute nochmals durch den Aufenthaltsraum ihrer Wohnung und fand ihn perfekt vorbereitet für einen gemeinsamen Abend. Sie ging in Gedanken nochmals den heutigen Prago durch. Nach ihrer Einsatzbesprechung für den morgigen Flug war sie vor annähernd vier Tontas in ihre Wohnung gekommen. Sie hatte ihre Schwester angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie den Freizeitanzug unbedingt behalten wolle, den sie gestern getragen hatte und der Charrut so gefiel. Am Morgen hatte sie ihre Wohnungs-KSOL beauftragt, das Tai Ark'Tussan-Netz nach allen Informationen über Harkon, angefangen von regionalen Speisen und Gerichten bis hin zu ausgefallenem Brauchtum, auszufiltern. So sah sie sich die gefundenen und gefilterten Datenpaketen an und entschied sie sich für ein Menü, dass ihr zusagte. Kurzentschlossen hatte sie die KSOL beauftragt, die notwendigen Zutaten zu bestellen und die Mahlzeit für 15-50 Vot herzustellen. Anschließend entfärbte sie sich spontan ihre erst vor kurzem schwarz gefärbten Haare und betrachtete zufrieden ihre silberweißen Haare im Spiegel.

Unbewusst sah sie wieder auf ihr Vot. "Verdammt" schalt sie sich. "Du bist kein junges Mädchen mehr, dass ihre erste Liebe gefunden hat!". Sie hatte schon viele Beziehungen gehabt, meistens mit irgendwelchen Mannschaftsmitgliedern unterschiedlicher Raumschiffen , auf welchen sie im Laufe der Zeit eingesetzt worden war. Doch sie konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob es an ihr oder an den anderen lag, dass daraus nie etwas ernsthaftes wurde. Meist dauerten die Beziehungen nur wenige Votanii bevor sie wieder zerbrachen. Irgendwann wurde sie als Ksol-Spezialistin und Funktechnikerin in einer LEKA eingesetzt, auf welcher Charrut das Kommando inne hatte. Damals war ihr nie der Gedanke gekommen, dass da möglicherweise mehr daraus werden könnte, als ein normales 'Vorgesetzten-Untergebenen'-Verhältnis. Damals fiel ihr angenehm auf, dass Charrut mehr der ruhige Typ eines Offiziers war, der seinen Status als Adeliger nicht hervorkehrte. Wenn sie da an andere Athor dachte…

Gewaltsam riss sie sich aus ihren Gedankengängen. Sie ging noch einmal in das Schlafzimmer und betrachtete sich im Feldspiegel. 'Gut siehst Du aus' sagte sie sich, 'Schlank und trotzdem Proportionen an den richtigen Stellen'. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht; sie wusste schon, wie man Männer becircen konnte.

Das Besuchersignal meldete sich von der Eingangstür. Onista blickte auf ihr Vot und stellte fest, das es 15-12 Vot war. 'Das muss er sein', sagte sie sich. "Unpünktlich wie ein Adeliger", sagte sie laut zu sich. Sie ging zum Eingang und betätigte den Öffnungsmechanismus. Charrut stand vor ihr und sah sie überrascht an, schließlich kannte er Onista bisher nur mit schwarzen Haaren. Sie konnte in seinem Gesicht seine Gedanken lesen, musste lachen und zog in an seiner Hand in die Wohnung.

"Schau nicht so überrascht, ich wechsle von Zeit zu Zeit meine Haarfarbe"

In einem überrascht wirkendem Tonfall fragte Charrut: "Und welches ist deine richtige?"

"Die, die ich gerade trage: Silberweiß".

Sie wollte schon in Richtung Aufenthaltsraum gehen, als Charrut sie an der Hand festhielt, langsam zu sich zog und sie mit seinem Körper an die Wand drückte. Ihr Herz fing an, schneller zu schlagen und sie hatte das Gefühl, jeder konnte es hören. Langsam näherte sich sein Gesicht ihrem Gesicht und sie küssten sich leidenschaftlich. Als sie nach einiger Zeit voneinander abließen, spürte sie, das sie leicht ins Schwitzen gekommen war und ohne das sie es sah, fühlte sie eine gewisse Röte im Gesicht.

Gemeinsam Arm in Arm, gingen sie zum Aufenthaltsraum. Dort angekommen, fragte Sie: "Was möchtest Du trinken?"

"Etwas kaltes, erfrischendes."

Während Sie sich um die Getränke kümmerte, sagte sie: "Ich habe mir erlaubt und ein Mahl zusammengestellt, was du vermutlich kennst: As'buru.

Charrut, der noch im Aufenthaltsraum stand, blickte Onista überrascht an: "Sehr gute Idee. Das habe ich schon lange nicht mehr gegessen! Wie bist du auf dieses Gericht gekommen?"

"Ich habe die Ksol nach harkonischen Menüs suchen lassen und dieses Fisch-Gericht hat mir von der Zusammenstellung zugesagt."

Onista brachte für Charrut und sich jeweils ein Glas kaltes Wasser und beide setzten sich gegenüber an den Tisch.

"Du hast dich also entschieden" sagte Onista zu Charrut lächelnd, mehr eine Feststellung als eine Frage. "Aber irgendwie siehst du nicht gerade sehr glücklich aus".

Charrut lehnte sich im Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand durch seine Haare, bevor er antwortete: "Das hat nichts mit dir zu tun. Ich hatte heute morgen mit einem Freund einen unangenehmen Meinungsaustausch und er hat mir Dinge erzählt, die ich erst einmal in Ruhe überdenken muss."

"Willst du mir nicht davon erzählen? Vielleicht kann ich dir helfen."

Charrut schüttelte den Kopf. "Nein, nicht heute, ein anderes mal. Hier und jetzt ist nur unsere Beziehung wichtig!" Er machte eine kurze Pause, beugte sich wieder nach vorne und fuhr fort: "Aber wir müssen einige Punkte klären, die wichtig sind und uns betreffen". Er nahm ihre Hände und sah sie an. Onista spürte, wie sich ein Knoten in ihrem Magen bildete und ihr der Gedanke 'Oje, was kommt jetzt!' durch den Kopf schoss.
"Du weißt, dass ich hier auf der Faehrl bin und wenn die Sternengötter es zulassen, bin ich ungefähr in einem Tai-Votan mit der Ausbildung fertig. Diese Ausbildung ist mir sehr wichtig. Mit anderen Worten: Wir werden in dem folgenden Tai-Votan nicht so viel Zeit miteinander verbringen können, wie wir wollen. Einsätze und Ausbildung werden uns wenig Zeit lassen. Außerdem möchte ich nicht, dass ich das Gesprächsthema bei deinen Freunden oder deiner Familie bin – jedenfalls vorerst nicht. Ich hoffe, du kannst das akzeptieren".

Onistas Gesicht entspannte sich und sie fühlte sich erleichtert: "Ja, das kann ich", und nach einer kurzen Pause: "Dann lass uns jetzt Essen. Das Menü müsste gleich fertig sein" sagte sie und stand auf, um nach der Essenszubereitungseinheit zu sehen. Auf den Weg dorthin stahl sich ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.

"Wie sieht deine Terminplanung für die nächsten Pragos aus?" fragte Charrut vom Tisch aus.

Onista seufzte, bevor sie antwortete: "Die LEKA, auf der ich momentan stationiert bin, startet morgen früh. Und wir werden erst vor den Feiertagen zurück kommen. Und du?"

"Zwei Pragos haben wir noch Ausbildung, bevor wir am Tartor 36 unsere Prüfungsergebnisse erhalten. Da bin ich schon sehr gespannt, wie ich abschneide, obwohl ich mir sicher bin, die Ausbildungsstufe Ti'chor erreicht zu haben."

Charrut machte eine kurze Pause, bevor er fort fuhr: "Also werden wir uns in den nächsten Pragos nicht sehen, so wie ich es mir schon fast gedacht hatte".

Wenige Paltortontas später kam sie mit dem Essen und Besteck auf einem Tablett zurück, stellte jedem einen Teller hin, setzte sich und sagte dann mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen: "Dann essen wir jetzt und machen uns einen angenehmen Abend, solange du bleiben kannst."

Charrut sah sie vergnügt an: "Einverstanden."

* * *

Tarman 19 to 14.598 da Ark

Viele Berlenprags waren vergangen, seit Charrut Onista in der düsteren Trinkhalle in Varynkor-Etset wiedergetroffen hatte. Ihre unterschiedlichen Aufgaben und Einsätze, sie in der Systemflotte von Varynkor, er in der Ausbildung auf der Raumakademie, ließen ihnen wenig Raum, gemeinsam Zeit zu verbringen. Oft blieben nur Nachmittage und Abende, die sie zusammen sein konnten.

Charrut hatte sich mit Onista in ihrer Wohnung verabredet. 'Bringe bitte Zeit mit und ziehe dir etwas offizielles an', hatte sie ihm gesagt. 'Wir werden heute Abend nicht zu zweit sein, sondern ausgehen'. Mehr wollte oder konnte sie nicht sagen. Also hatte er sich umgezogen und sich eine seiner Ausgehuniformen der Akademie angezogen. Während er sich im Spiegel betrachtete und den Sitz der Ausgehuniform überprüfte, fühlte er wieder diesen Stolz; den Stolz, auf einer Militär-Akademie des Imperiums zu sein. Nicht nur, dass es schon eine Auszeichnung war, überhaupt auf der Faehrl von Varynkor aufgenommen worden zu sein, sondern auch, dass er der erste 'del Harkon' seit fast 1000 Tai-Votanii war, der wieder auf eine Faehrl von Arkon gehen durfte. Wenn damals nur nicht diese unsäglich degoutante Geschichte geschehen wäre. Immer wenn er daran dachte, musste er sich innerlich aufregen, weil es wie ein Fluch war, der auf dem Harkon-Khasurn lag.

'Denke jetzt nicht daran, sondern an den angenehmen Abend, den du mit Onista verbringen wirst', rief er sich selbst zur Ordnung. Er hatte gegenüber Onista ein schlechtes Gewissen. 'Verliebte sollten sich öfters etwas schenken' war ihm schon vor langer Zeit durch den Kopf gegangen, und das hatte er bisher sträflich vernachlässigt. Darum hatte er, als er von Harkon zurück nach Varynkor kam, ein Geschenk für sie mitgebracht, etwas, dass er sehr schätzte und dass er auf einer seiner Reisen gekauft hatte. Nachdem er das Geschenk verpackt hatte, machte er sich mit einem vergnügten Lächeln im Gesicht auf den Weg zu Onista.

Im 63. Stock sprang er aus dem Antigrav-Schacht und ging zu Onistas Wohnung, zu der er mittlerweile den Zugangscode erhalten hatte. Jetzt benutzte er ihn, um in die Wohnung zu gelangen. Als er den Aufenthaltsraum betrat, wartete sie bereits auf ihn.

Charrut blieb überrascht stehen. Der Anblick von Onista in einem Kleid war für ihn absolut neu. Onista erhob sich und ging Charrut ein Stück entgegen. Zwei Schritte vor ihm blieb sie stehen, blickte an sich herunter und fragte: „Gefällt es dir?“

„Ja, sehr. Es ist für mich nur ein absolut ungewohnter Anblick, dich in einem Kleid zu sehen. Laß dich ansehen…“

Onista drehte sich einmal um ihre Achse. Dann sah sie Charrut erwartungsvoll an. Charrut ließ ihren Anblick auf sich einwirken. Das hellgelbe, eng geschnittene Kleid betonte ihre Formen in vollendeter Weise. Es reichte fast bis zu den Knien und war mit fließenden bräunlich-silbernen Linien bedeckt, die Symbole darstellten. Charrut nickte anerkennend und erwiderte: " Das Kleid passt hervorragend zu deinem Haar und deinen Augen. Du hast einen ausgezeichneten Geschmack. Einfach perfekt!"

Er sah, wie sie sich in einem Kleid drehte, das hellgelb und leicht bedeckt war mit fließenden, bräunlich-silbernen Linien, die Symbole darstellten. Charrut nickte anerkennend und erwiderte: " Das Kleid schmeichelt dir und passt hervorragend zu deinem Haar und deinen Augen. Du hast einen ausgezeichneten Geschmack. Einfach perfekt!"

Onista schenkte ihm ein verliebtes Lächeln und wollte etwas sagen, aber Charrut kam ihr zuvor: "Warte!" Er holte aus einer Tasche seiner Ausgehuniform das etwa 12 x 9 und 1 Paltorquar dicke Geschenk hervor und sagte, während er es Onista gab: "Ich weiß, dass ich dir schon vor langer Zeit hätte etwas schenken sollen, was meine Liebe zu dir ausdrückt, aber ich hatte nichts Vernünftiges gefunden. Und irgend etwas sollte es nicht sein, sondern etwas einmaliges. Aber als ich im letzten Vothan auf Harkon war, konnte ich es endlich mitbringen. Ich hoffe, dass es dir gefällt!"

Onista sah überrascht das Geschenk an und nahm es entgegen. Voller Vorfreude riss sie die Verpackung auf und hielt dann ein kleines Buch in den Händen.

"Ein richtiges Buch, aus echten Faraid. So etwas wird heute nur auf Bestellung hergestellt, man hat bis zu drei Tai-Votanii Wartezeit und dann sind diese Bücher unbezahlbar!" erwiderte sie erstaunt.

Sie warf einen Blick auf den Titel: 'Das unbeschwerte Herz und der lächelnde Himmel – Liebesgedichte und Reime' von Ash'nal de'tiga Etyphe (11.347 da Ark). Vorsichtig öffnete sie das alte Buch und fand auf der ersten Seite eine handgeschriebene Widmung von Charrut: ‘Atome werden von der schwächsten Kraft zusammengehalten, das Universum von der stärksten – der Liebe‘.

"Ich weis gar nicht, was ich sagen soll. Das ist das schönste Geschenk, das ich jemals erhalten habe". Bevor Charrut darauf antworten konnte, küsste ihn Onista leidenschaftlich.

"Wie kommt man an ein so kostbares Buch heran?" fragte Onista.

"Vor ungefähr sieben Tai-Votanii, als ich wegen dem Tod meines Bruders überhaupt nichts mehr von unserem Khasurn wissen wollte, suchte ich Trost auf verschiedenen Welten im Elimor-Sektor. Irgendwann landete ich in einer kleinen Hafenstadt auf Selekenan, deren Name mir nicht mehr einfällt, in einer Seitenstraße bei einem kauzigen Händler. In dessen Geschäft, unter allerlei Trödel, habe ich es gefunden. Ich wollte es schon achtlos zur Seite legen, als mir damals auffiel, dass es aus Faraid hergestellt war. Erst dadurch habe ich einen Blick hinein geworfen und war erstaunt, wie vor einigen tausend Tai-Votanii gesprochen und geschrieben worden war, heute schon fast vergessen. Es hat mir sehr gefallen und darum wollte ich es unbedingt besitzen, erst nach hartem Feilschen mit dem Händler war das Geschäft perfekt gewesen. So bin ich zu diesem Buch gekommen", beendete Charrut seine Geschichte.

"Dala!" stieß Onista erstaunt hervor. "Du musst mir unbedingt versprechen, mir mehr von deinem Khasurn und deinen Abenteuern zu erzählen"

"Das verspreche ich dir", sagte Charrut.

"Jetzt müssen wir aber los, sonst wird es zu spät" sagte Onista, nachdem sie einen Blick auf ihr Vot geworfen hatte. Behutsam legte sie das kostbare Geschenk auf den Tisch im Aufenthaltsraum.

"Zu spät für was?" fragte Charrut zurück, aber er erhielt nur ein verschwörerisches Lächeln als Antwort. Gemeinsam verließen sie Onistas Wohnung und schwebten hinunter zur Rohrbahn, die sie in Richtung Varynkor-Etset Zentrum bestiegen. Sie verließen die Rohrbahn im 7. Bezirk an der Station Valbaret und nahmen das Laufband nach oben. Der 7. Bezirk gehörte zum äußeren Stadtkern, war ein erhöhtes, eingebettetes Zentrum am Rande von Varynkor-Etset, ein Anlaufzentrum nobler Restaurants, elitärer Geschäfte und einiger wichtiger Stadtverwaltungsbereiche.

Während sie vom Ende des Laufbandes auf die Kreuzung wechselten und auf ein weiteres Laufband zusteuerten, das sie in eine breite Einkaufsstraße führte, fragte Charrut: "Wo wollen wir denn eigentlich hin?" Charrut sah nur ein vergnügten Ausdruck in Onistas Gesicht und sagte kein Wort. Nach wenigen Paltortontas wechselten sie rechts auf das äußere Laufband, was kurz danach abbog, und vor einem Glasbau verließen beide das Laufband. Dort hatte sich, vor einem Eingang, eine kleine Traube von Arkii gebildet. Sie gesellten sich dazu. Charrut hatte Zeit, während sie nur langsam dem Eingang näher kamen, sich die Arkii anzusehen. Alle waren festlich gekleidet und aus den Gesprächsfetzen, die er mitbekam, kristallisierte sich heraus, dass sie sich eine Modenschau ansehen würden. 'Vermutlich werde ich heute ihre Schwester kennenlernen, also kein Abend zu zweit', seufzte er innerlich. Als sie endlich den Eingang erreicht hatten, standen sie einem männlichen Arki gegenüber, der sie freundlich anlächelte und sagte: "Ihre Einladung, bitte!"

Onista holte aus einer versteckten Tasche ihres Kleides zwei Einladungskarten hervor, übergab sie dem Arki und sagte: „Für uns beide“ und deutete dabei auf Charrut und sich. Der Arki blickte Charrut an und als er das Symbol der Raumakademie Varynkor an der Uniform erkannte, wurde sein Gesichtsausdruck noch freundlicher. 'Vermutlich kommt nicht sehr oft ein Thos'athor hierher', ging es Charrut durch den Kopf. Der Arki nahm die Karten an sich, fuhr mit einem fingergroßen Handscanner über die Karten und nachdem dieser zweimal grün aufleuchtete, gab er die Karten mit einem „Herzlich willkommen zu unserer Präsentation“ zurück.

Onista und Charrut durchschritten den Eingang und kamen nach wenigen Schritten in einen großen Empfangsraum, in der sich schon viele Arkii aufhielten. Stimmengewirr, untermalt von leiser Musik im Hintergrund, beherrschte die Atmosphäre. Charrut sah einige Roboter, die mit Getränken auf Tabletts umherschwebten und diese den anwesenden Gästen anboten.

Kurze Zeit später kam eine Frau auf sie zu: genauso schlank wie Onista, die selben Gesichtsmerkmale, nur dass ihre Augen ein sehr helles rot hatten und sie ihre Haare lang trug. Onista und die Frau begrüßten sich familiär.

Charrut verneigte sich leicht und sah dann Onista fragend an.

"Charrut, darf ich vorstellen, das ist meine Schwester Sidona".

„Das ist also derjenige, der nun das Herz meiner Schwester erobert hat“, sagte Sidona freundlich und musterte ihn dabei.

"Ich hoffe es. Wir kannten uns bereits von einem früheren Einsatz und als wir uns dann einmal zufällig getroffen hatten, war es um uns geschehen. Ein gemeinsamer Abend hat ausgereicht", erwiderte Charrut und sah Onista lächelnd an.

"Onista hat so etwas angedeutet", sagte Sidona.

"Ja, manchmal sind die Wege der She’Huhanii unergründlich.“
"Gleich beginnt die Modenschau. Ich muss mich noch um einige Kleinigkeiten kümmern. Wir sehen uns dann zum Bankett!" sagte Sidona, nickte nochmals Charrut zu, drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

"Ich hole uns etwas zu trinken", sagte Charrut und ging zu einer Bar, hinter der ein Roboter stand und ließ sich zwei Gläser agorianischen Sekts geben. Als er sich umdrehte, während er auf die Getränke wartete, beobachtete er, wie ein anderer Mann bei Onista stand und mit Gesten auf sie einredete. Den Gesten und Gesichtsausdrücken nach war es eher ein Streit als ein Gespräch. Charrut sah sich den Mann genauer an. Es musste ein Bras'cooi sein, denn seine Haare waren hellbraun und schulterlang. Er war athletisch und kräftig gebaut, größer als er selbst. Charrut schätzte die Größe auf zwei Quars und sein Alter auf ungefähr fünfundzwanzig Tai-Votanii. Plötzlich konnte er verstehen, warum manche Frauen von bestimmten Männer schwärmten. So einen athletisch gebauten Mann mit einem gleichmäßig, ästhetisch geformten Gesicht hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Und er war beim Militär, denn er trug die Uniform der Systemflotte von Varynkor.

"Zdhopan, Ihre Erfrischungen" sagte der Roboter hinter der Bar.

* * *

Onista freute sich riesig. ‚Das scheint ein interessanter Abend zu werden‘, ging es ihr durch den Kopf, 'erst Charruts exklusives Geschenk, dann das Aufeinandertreffen zwischen ihrer Schwester Sidona mit Charrut, gleich anschließend die Modenschau und später vielleicht…'. Ein Glücksgefühl breitete sich in ihr aus. Sie blickte kurz hinter Charrut hinterher, wie er sich einen Weg durch die anderen Gäste ihrer Schwester bahnte, die mittlerweile den Empfangsraum bevölkerten.

„Hallo Onista!“ sprach sie auf einmal eine wohlbekannte Stimme an.

Sie drehte sich abrupt um und sah sich Pergar gegenüber. Ihr Herz schien auszusetzen. Sie hatte das Gefühl, abwechselnd rot anzulaufen und weiß zu werden.

„Was machst du denn hier?“ stieß sie überrascht hervor.

Pergar sah sie argwöhnisch an. „Was soll die Frage? Auch wenn ich gerade von einem 4-Berlenprag-langen Außeneinsatz der Systemflotte komme, solltest du immer noch wissen, dass wir zusammen sind! Und ich habe eine Einladung zu dieser Modenschau. Darum dachte ich, nachdem wir uns solange nicht mehr gesehen haben, wir sehen uns die Präsentation gemeinsam an!“

Onista fiel fast in Ohnmacht. ‚Wenn Charrut mitbekommt, dass es noch jemand in meinem Leben gibt, mit dem ich mangels Gelegenheit noch nicht habe Schluss machen können… Nicht auszudenken. Das wäre eine Katastrophe!‘ Händeringend suchte sie nach einer Möglichkeit, eine Begegnung zwischen Pergar und Charrut zu verhindern.

„Ich bin bereits mit jemand hier, der wichtig für Sidona und mich ist. Siehst du den Arki dort an der Bar?" und deutete mit dem Kopf in Richtung Charrut.

Pergar blickte kurz hinüber und dann wieder zu Onista. "Ein Adliger von der Akademie? Warum ist der für Sidona und dich wichtig?" fragte er zurück. Er wusste es. Er hatte von Sidona einen Hinweis und die Einladung erhalten, damit er sich selbst ein Bild machen konnte. Erst hatte er es nicht glauben wollen, an einen schlechten Scherz von Sidona gedacht. Aber als er Onista und diesen Mann beobachtete, wie sie aus ihrer Wohnung kamen und sich gemeinsam auf den Weg zur Modenschau machten, wurde die Vermutung zur Gewissheit und in ihm kochte die Wut. Ihre Beziehung war schon lange Zeit nicht mehr das, was sie einmal war, zu viele Unterschiede hatten sich im Laufe der Zeit aufgetan. Aber noch war ihre Beziehung nicht beendet und er dachte gar nicht daran, sie zu beenden. Und jetzt erzählte sie ihm eine Lüge!

Onista sah, wie es im Gesicht von Pergar arbeitete. Als er zu Charrut sah, verfinsterten sich seine Gesichtszüge, die sich nur ein wenig erhellten, als er sie wieder ansah und fragte, warum Charrut für ihre Schwester und sie wichtig sei.

Sie erzählte Pergar, das sich Charrut für sie interessieren würde und sie die Gelegenheit beim Schopf gepackt hätte, ihn hierher zu bringen, damit ihre Schwester damit werben konnte, das sich sogar Adlige ihre Modenschau ansehen würden. Das wäre gut für das Geschäft.

"Und darum wäre es gut, wenn er mit uns alleine wäre, dich nicht mit Sidona oder mir sehen würde. Womöglich würde er sonst abgeschreckt werden und die Modenschau verlassen!" beendete Onista ihre Erklärung.

Mit jedem Wort, das die Lüge von Onista vergrößerte, wurde Pergars Gesicht härter und in ihm kochte wütende Eifersucht hoch.

„Lüge mich nicht an! Ich weiß bescheid. Glaubst du etwa, ich bin blind? Ich habe euch beobachtet!" zischte er gepresst zwischen seinen Zähnen hervor, während er mit seinem Gesicht ganz nah an ihrem war.

Onista wurde es mulmig zumute. Der wütend drohende Gesichtsausdruck Pergars ließ sie das schlimmste befürchten. Sie hatte zu dieser Notlüge greifen müssen, um die Situation einigermaßen unter Kontrolle halten sie können, und Pergar hatte sie durchschaut.

"Du hast Recht, Pergar", erwiderte sie leise und blickte dabei zu Boden. "Ich werde die Angelegenheit klären". Sie blickte kurz in Richtung Bar und sah, wie Charrut die Getränke vom Roboter entgegen nahm. "Aber, bitte, geh jetzt!" sagte sie zu Pergar und blickte ihm dabei offen ins Gesicht.

Pergar war von ihrer Offenheit überrascht. Vielleicht würde sich doch noch alles zum Guten wenden. Einige Paltortontas überlegte er, ob er noch etwas sagen sollte, blickte zu diesem Mann, der sich gerade von der Bar entfernte, drehte sich um und ging.

Charrut drehte sich um, nahm die beiden Gläser und ging wieder in Richtung Onista. Sie sah in kommen und sagte etwas zu dem Mann, der kurz in seine Richtung mit einem grimmigen Gesichtsausdruck herüber sah und dann fortging.

Als Charrut wieder bei Onista war, reichte er ihr ein Glas und fragte: "Wer war das?"

"Ein Freund", erwiderte sie tonlos.

So, wie Onista sich ausgedrückt hatte konnte sich Charrut des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihm nicht alles gesagt hatte, ihre Stimme klang irgendwie hetzt.

"Es sah aus, als hättet ihr euch gestritten!" warf er ein und nahm einen Schluck vom Glas.

"Nein, wir hatten nur eine Meinungsverschiedenheit, aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, das wir beide heute hier zusammen sind."

In diesem Moment erklangen leise und bestimmte harmonische Klänge und sie reihten sich in die Menge ein, um in den Präsentationsraum zu ihren Sitzplätzen zu gelangen.

* * *

Die Modenschau gefiel Charrut. Er hatte zwar schon viel erlebt, war auf vielen Veranstaltungen und Auktionen im Elimor-Sektor gewesen, aber eine Modenschau war auch für ihn neu. Interessant war, wie die neuen Kleidungsstücke angeboten wurden: Die Frauen und Männer, welche die Kleidungsstücke präsentierten, schwebten durch den Raum, getragen durch versteckte Antigrav-Geräte, und landeten immer wieder bei denen, die sich für das eine oder andere Modell interessierten. So hatten diese die Gelegenheit, sich die Stoffe und Materialien genauer anzusehen und konnten auch gleich Bestellungen vornehmen. Auch bei ihnen waren nach und nach einige Frauen und Männer gelandet, um ihnen ihre Modelle hautnah zu präsentieren und sie zum Kauf zu animieren, aber gekauft hatten sie nichts. Die Modelle für Männer waren ihm zu schwülstig und Onista brauchte nichts zu kaufen, sie konnte sich jederzeit bei Sidona etwas ausleihen. Aber Charrut hatte aufgepasst, welche Modelle Onista interessierten und welche Stilrichtung sie bevorzugte. Vielleicht ergab sich ja die eine oder andere Gelegenheit, Onista etwas zu schenken. Die Präsentation war untermalt mit begeisternder Musik und Lichteffekten, die die Kauflaune der Gäste steigern sollten. Nach ungefähr eineinhalb Tontas war die Modenschau beendet und als sie wieder in den Empfangsraum kamen, schwebten einige Roboter mit Tabletts umher und boten den Besuchern Trinken und Essenshäppchen an. Der Raum war erfüllt mit Stimmengewirr der Anwesenden, die sich über die Modenschau an sich und über die einzelnen Modelle unterhielten. Die Männer und Frauen, die eben noch fliegend die Modelle präsentiert hatten, liefen nun zwischen den Gästen herum, verwickelten diese in Gespräche zu ihren Modellen und versuchten so, die Gäste zu weiteren Bestellungen zu animieren. Onista und Charrut ließen sich gerade Knabbereien von einem Roboter geben, als Sidona plötzlich wieder bei ihnen auftauchte.

"Und, wie hat euch die Modenschau gefallen?" fragte sie und sah Charrut an.

"Ich muss gestehen, dass ich noch nie auf einer Modenschau war", erwiderte Charrut. "Sie hat mir sehr gefallen. Vor allem die Art der Präsentation war sehr interessant. Eine tolle Idee, meinen Respekt!"
"Und, war etwas für Sie dabei, Charrut, was Sie interessiert hat?" fragte Sidona und sah ihn gespannt an.

Charrut überlegte, wie er sich ausdrücken sollte und sagte dann: "Ich muss gestehen, dass ich doch mehr die genügsame Kleidung bevorzuge. Aber vielleicht, wenn sich eine Gelegenheit in Zukunft ergibt. Wer weiß…"

Sidona sah ihn mit einem verstehendem Lächeln an und wandte sich dann an ihre Schwester.

"Wollen wir uns nachher noch zu einem kleinen Plausch treffen. Dann könnte ich vielleicht Charrut" und sah ihn dabei fragend an, "näher kennenlernen?"

"Danke, aber vielleicht ein anderes mal", sagte Onista. "Wir sehen uns sowieso so wenig und wollten den Rest des Abends gemeinsam verbringen".

Sidona nickte verstehend und um ihre Mundwinkel zuckte es verdächtig.

"Ich verstehe. Dann wünsche ich Euch noch einen angenehmen Abend. Ich werde mich dann einmal um meine anderen Gäste kümmern." Sie nickte beiden zu und bewegte sich zu einer Gruppe Arkii, die einige Quars entfernt gerade mit einer Frau sprachen, die ein verschwenderisches Kleid trug, das sie darbot.

"Ich hoffe, sie ist nicht beleidigt", sagte Charrut zu Onista.

"Nein, bestimmt nicht. Sie kennt mich, und wenn ich nein sage, meine ich es auch so. Es kommt bestimmt irgendwann für sie eine Gelegenheit, dich genauer kennen zu lernen", erwiderte Onista.

"Glaubst du, dass ihre Modenschau erfolgreich war?" wollte Charrut wissen.

Onista blickte in die Runde zu den anderen Gästen und erwiderte: "Ich denke, es war ein voller Erfolg. Ich habe viele gesehen, die Bestellungen aufgaben."

"Ich denke das auch. Vor allem dürfte bei manchen Frauen die Kreditkarte heute Abend leichter geworden sein", sagte Charrut schmunzelnd.

"Oder die ihres Begleiters", ergänzte Onista und schenkte Charrut ein spitzbübisches Lächeln.

Einige Paltortontas später verließen Onista und Charrut das Bankett und traten aus dem Gebäude. Mittlerweile war es dunkel geworden, als sie sich in Richtung Rohrbahnstation auf den Weg machten. Hand in Hand gingen sie zu Fuß den Weg zurück, den sie vorhin mit dem Laufband gekommen waren. Plötzlich löste sich aus dem Halbschatten eines Gebäudes eine Gestalt und stellte sich ihnen in den Weg. 'Der Mann von vorhin', durchzuckte es Charrut. Unwillkürlich blieben sie stehen.

"Was haben Sie mit meiner Freundin zu schaffen?" schnauzte ihn der Mann drohend an. Charrut war sprachlos erstaunt.

Nach einer kurzen Pause sagte er: "Wieso Ihre Freundin?" fragte er zurück, "Sie ist meine Freundin!"

"Erzählen Sie mir nicht irgendwelche Adelsgeschichten. Onista, sage es ihm, dass wir beide zusammen sind!"

Charrut sah kurz zur Seite zu Onista, die neben ihm stand und, vor Schreck fast erstarrt, den anderen Mann mit ungläubigen Augen ansah.

Als Charrut sich dem Unbekannten zuwandte, sah er ein verdächtiges Zucken in dessen Augen. 'Jetzt wird es gefährlich', schnellte es durch Charruts Verstand. Und wie zur Bestätigung seiner Vermutung sah er, wie der andere sich mit einer fließenden Bewegung bückte und aus seinem Stiefel ein Messer zog. Er hielt Charrut das Messer entgegen. Charrut ging instinktiv in eine Abwehrhaltung und stieß Onista nach hinten.

Der Stoß von Charrut riss Onista aus der Starre, denn sie rief mit verzweifelter Stimme: "Pergar, bist du wahnsinnig geworden? Steck sofort das verdammte Messer weg!" Sie wurde ganz bleich im Gesicht, als ihr bewusst wurde, das Pergar schon immer eifersüchtig und besitzergreifend war, einer der Gründe, warum ihre Beziehung nie richtig funktioniert hatte.

"Du hast es nicht anders gewollt. Du gehörst mir und sonst keinem. Den Kerl schlitze ich auf!" rief Pergar wutentbrannt. Und, wie um seine Worte Taten folgen zu lassen, senkte er den Arm mit dem Messer, drehte die Klinge so, dass sie senkrecht nach oben stand, trat zwei Schritte vorwärts und zog das Messer mit dem Arm von unten nach oben.

Charrut hatte aufgepasst. Er ging drei Schritte zurück und stieß Onista weiter nach hinten. In diesem Moment durchzuckte ihn gedankenschnell ein Satz, den ihm sein Dagor-Ausbilder E'queran auf Harkon einmal gesagt hatte: 'Verwandle deine Schwäche in Stärke und die Stärke des Gegners in seine Schwäche'. Der Mann, den Onista Pergar nannte, war kräftiger gebaut als er und größer. Das war dessen Stärke. Und die musste er in Schwäche verwandeln . Er musste flinker und wendiger sein als sein Gegner. Den Gegner im Auge behaltend standen sich Pergar und er lauernd gegenüber. Wer würde den nächsten Schritt tun?

Pergar fixierte Charrut mit seinen Augen und versuchte abzuschätzen, wie dieser seinem nächsten Angriff ausweichen würde. Langsam bewegten sich die Kontrahenten im Kreis. Pergar überlegte, ob dieser Charrut auf eine Finte hereinfallen würde. Er täuschte einen Angriff mit dem Messer in der rechten Hand an, wechselte blitzschnell das Messer in die linke Hand und stach zu. Gleichzeitig durchzuckte ein heißer Schmerz seinen rechten Arm, so das er überrascht aufstöhnte.

Charrut hatte es geahnt, das sein Gegner ihn schnell unschädlich machen wollte. Er hatte dessen Wut und die dadurch hervorgerufene Unvorsichtigkeit ausgenutzt, als dieser ihn in eine Falle locken wollte, in dem er einen intensiven Schlag mit den Knöcheln seiner Faust in dessen rechten Achselhöhle setzte. Sein Gegner stöhnte kurz vor Schmerz auf und blickte ihn mit einer Mischung aus Wut und Erstaunen an. Der Arm würde vorläufig keine Kraft mehr besitzen. Aber er durfte den Gegner nicht unterschätzen. Nochmals würde dieser Pergar nicht darauf hereinfallen und war jetzt gewarnt, dass er auch ohne Waffe ein ernst zu nehmender Gegner war. Und er besaß noch immer das Messer.

„Aufhören!“ schrie Onista wieder verzweifelt, „Es ist alles meine Schuld. Ihr dürft euch nicht gegenseitig töten!“, aber die Worte verhalten ungehört. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Pergar war rasend vor Wut und Eifersucht und würde den Mann, den sie liebte, töten.

Charrut beobachtete aufmerksam Pergar, wie er das Messer in seiner linken Hand drehte, so dass die Klinge waagerecht lag. Er schob seine linke Seite mit dem Messer vor, tat einen schnellen Schritt vorwärts und vollführte mit dem linken Arm und dem Messer eine Kreisbewegung.

Charrut ahnte, was Pergar vorhatte. Als dieser einen Schritt vortrat, sprang er kurz zurück, wartete, bis der Arm mit dem Messer an seiner bisherigen Position vorbei gezogen war und katapultierte sich dann mit einem Sprung in dessen Rücken. Er wollte gerade den rechten Arm nehmen und herumreißen, um so Pergar aus dem Gleichgewicht zu bringen, als er einen höllischen Schmerz in Höhe seines rechten Beckens verspürte. Ein unterdrückter kurzer Schrei entrang sich seiner Kehle. Unbewusst hielt er die rechte Hand an der Wunde, als er sich aus der Nähe seines Gegners bewegte.

Onista schrie auf, als sie sah, wie Pergar Charrut mit dem Messer verwundete. Sie konnte fast das Blut spritzen sehen, als das Messer in Charruts Körper fuhr. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie sich vor Angst geschwächt hinsetzte.

Pergar frohlockte innerlich. Er hatte es gewusst. Gewusst, wie dieser Mann, den Onista Charrut nannte, reagieren würde. Er hatte sich, anstatt wie vermutet, mit dem Messer nur einen Halbkreis zu ziehen, weiter um die eigene Achse gedreht und konnte so seinen Gegner einen Treffer setzen. Er sah, wie Charrut mit schmerzverzehrtem Gesicht und mit einer Hand auf der Wunde versuchte, aus seiner Nähe zu kommen. Jetzt noch einmal nachsetzen und er würde seinen Nebenbuhler besiegen…

Charrut spürte, wie das Blut aus seiner Wunde sickerte. 'Nur eine Fleischwunde' sagte er sich. 'Achte auf deinen Gegner, nicht auf das Fleisch!'. Er sah im Gesicht des anderen, dass dieser siegessicher war. 'Er wird nachsetzen. Und zwar sofort. Und er will dich töten'. Wut stieg in ihm auf: Wut darüber, dass ihn der andere töten wollte, ohne dass er etwas getan hatte. Als Pergar schnellen Schrittes auf ihn zukam und ihn fast erreicht hatte und mit der Hand zum Stoß ansetzte, ließ sich Charrut nach hinten fallen, griff gleichzeitig mit beiden Händen von unten zum Arm, der das Messer führte, benutzte seinen Schwung, trat Pergar mit seinen Beinen in die Bauchgegend und schleuderte ihn über sich. Pergar fiel hart mit dem Rücken neben Charrut auf den Boden und blieb einige Paltortontas liegen und schnappte nach Luft. Auch Charrut spürte, wie ihm die Wunde zu schaffen machte und blieb schwer atmend liegen.

Pergar richtete sich langsam auf und sah Charrut neben sich liegen. 'Dieser verfluchte Adlige! Nicht nur, das sie uns ausbeuten, jetzt stehlen sie uns noch unsere Frauen', flammte seine Wut wieder auf. In seinem Kopf tobte der Schmerz, Blut sickerte aus einer Kopfwunde und lief über seine Augen und seinen rechten Arm konnte er noch immer nicht bewegen. Er warf sich auf den Boden liegenden Charrut und griff mit der Hand seines linken Arms nach Charruts Kehle und würgte ihn.
Charrut wehrte sich gegen den harten Würgegriff seines Gegners. Überlebenswillen und Wut ließen ihm seine Schmerzen vergessen, Kraftreserven mobilisieren, trotz seiner Schwächung durch die Wunde. Wieder und wieder schlug er mit seiner rechten Faust schwer an den Kopf von Pergar, aber dieser war hart im nehmen.

Sie hatte nicht mehr die Kraft, zu zusehen, wie Pergar Charrut umbringen würde. Sie sah nur noch einen Weg, dem ein Ende zu setzen. "Hört endlich auf mit diesem Wahnsinn…" schrie Onista tränenerstickt. "…oder ich springe!"

Pergar lockerte seinen Griff und nahm dann seine Hand von Charruts Hals, während Charrut aufhörte, seine Faust weiter auf Pergars Kopf einzuschlagen. Beide richteten sich langsam schweratmend und erschöpft auf und sahen, wie Onista auf einer Absperrung stand, die ihre Straße von einer tieferliegenden Ebene trennte.

Pergars Gesicht verzehrte sich vor Wut und Eifersucht. Er nahm den Kampf wieder auf und drückte wieder Charruts Kehle zu. Charrut sah, wie Onista sich nach vorne fallen ließ und wollte schreien, aber es kam nicht mehr als ein schwaches ‚Nccht‘ über seine Lippen. Mit der Kraft eines Verzweifelten, der seine Liebe sterben sah, schlug er auf Pergars Kopf ein, das dieser ihn benommen losließ. Charrut stieß Pergar zur Seite, stand auf und rannte zur Absperrung. Seine blutende Wunde vergessend, beseelte ihn nur die Sorge und die Angst, die Frau, die er liebte, zerschmettert am Boden liegen zu sehen.

Pergar schüttelte die Benommenheit ab. Als er sah, wie Charrut verzweifelt an der Absperrung stand und in die dunkle Tiefe sah, wo Onista gesprungen war, sackte er zusammen. "Das habe ich nicht gewollt…" brach es aus ihm leise heraus.

* * *

Onista sah mit ihren verweinten Augen, wie Pergar und Charrut am Boden liegend miteinander kämpften. Pergar war wie vom Irrsinn befallen und drückte Charrut im Zorn die Kehle zu, während Charrut versuchte, trotz seiner blutenden Wunde, sich durch Faustschläge an Pergars Kopf aus dessen Würgegriff zu befreien. Wie in Trance stand sie auf und ging schwankenden Schrittes zur Absperrung. Langsam kletterte sie auf die Absperrung hinauf und stellte sich auf die Kante. Sie drehte den Kopf zu den beiden Männern und rief mit tränenerstickter Stimme. "Hört endlich auf mit diesem Wahnsinn oder ich springe!". Pergar und Charrut unterbrachen ihren Kampf und sahen zu ihr. Sie dachte schon, dass mit ihrer Drohung der Kampf vorbei war, aber sie hatte Pergars krankhafte Eifersucht unterschätzt. Wieder griff er nach Charruts Kehle und drückte diese zu. Beide Männer waren vom Kampf gezeichnet und ihre Kräfte erlahmten, so dass das zudrücken der Kehle und das Schlagen der Fäuste nicht mehr kraftvoll waren. Onista wollte so nicht weiterleben, nicht mit diesem Schuldgefühl, dass Charrut und auch Pergar von diesem Kampf gezeichnet sein würden, ihretwegen. Und da war noch die Gewissheit, dass sich Charrut wegen ihres Fehlers von ihr abwenden würde. Sie schloss die Augen, schickte in Gedanken ein Stoßgebet an die She’Huhanii und ließ sich vornüber in die Dunkelheit fallen.

Während sie fiel und der Wind über ihr Gesicht und durch die Haare fuhr, zog ihr Leben blitzartig vor ihrem innerem Auge vorbei: ihre Kindheit, ihre Jugend, ihr sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater, ihre Abschlussprüfung und Aufnahme in die Systemflotte von Varynkor, ihre erste Begegnung mit Charrut, ihr Wiedertreffen mit ihm, wie sie sich in ihm verliebt hatte…

Nach einigen Augenblicken, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, wunderte sie sich, das sie noch lebte. Sie hatte eigentlich erwartet, das alles von einem Moment zum anderen vorbei sein würde, aber dieser Moment kam nicht. Sie spürte auch nicht mehr den Wind, wie er über ihr Gesicht strich. Langsam öffnete sie die Augen und sah den schwach beleuchteten Boden der nächsten Ebene unter sich, und dieser kam nicht näher.

* * *

Als Charrut sah, das Onista ihre Drohung war machte und sich nach vorne fallen ließ, um in der Dunkelheit zu verschwinden, fielen ihm fast die Augen heraus. Er versuchte zu schreien, aber Pergars Würgegriff war einfach zu stark, als dass er richtig schreien konnte. Mit der Kraft des Verzweifelten schlug er Pergar so stark an den Kopf, dass dieser bewusstlos zusammensackte und seinen Würgegriff losließ. Luft holen und Pergar mit beiden Händen zur Seite stoßen war ein Vorgang. Mit der Beweglichkeit einer Raubkatze kam Charrut trotz seiner Verletzung auf die Beine und rannte die wenigen Quars bis zu der Stelle, an der Onista seiner Ansicht nach in den Tod gesprungen war.

Charrut erreichte die Absperrung und blickte leichenblass hinunter in die dunkle Tiefe. Er war schockiert, dass sie ihre Drohung wahr gemacht hatte. Gleichzeitig fühlte er eine große Leere in sich: nie würde es wieder so sein wie vor Onistas Sprung. Blicklos sah er in die Tiefe, fast froh darüber, ihren zerschmetterten Körper in der Dunkelheit nicht sehen zu müssen, bis er eine schemenhafte Bewegung wahrnahm, die näher zu kommen schien. Einige Augenblicke später sah er Onistas gelbes Kleid schimmern und kurz darauf sah er sie, wie sie in einem Kraftfeld empor getragen wurde. Das Kraftfeld setzte sie direkt vor seinen Füßen ab. Erst ungläubiges Staunen von beiden ob der Tatsache, dass der andere lebte, bis sie sich dann in die Arme fielen. Beide waren überglücklich, dass es doch nicht zum Äußersten gekommen war. Charruts Gefühlsleben durchlief innerhalb weniger Augenblicke das ganze Spektrum: die Freude und Erleichterung, dass Onista lebte und nicht zerschmettert war als auch die grenzenlose Enttäuschung und Demütigung, dass Onista mit zwei Männern ein Verhältnis hatte, und er einer davon war. Onista ließ sich in Charruts Arme sinken, und Charruts Gefühle für Onista, die Liebe, die er für sie empfand, gewannen letztendlich die Oberhand. Fest umschlungen hielt er sie fest, spürte das Zittern ihres Körpers. Palbertontalang umarmten sie sich. Beide hatten die Umgebung komplett vergessen und waren umso mehr überrascht, als plötzlich starke Scheinwerfer aufflammten und ihre Umgebung in ein tageshelles Licht tauchten. Geblendet drehten sie sich vom Licht weg und warteten ab. Ein Gleiter landete und die Lichtflut wurde reduziert. Kurz darauf stiegen zwei Männer des örtlichen Sicherheitsdienstes und ein Medo-Robot aus und teilten sich auf. Einer der Männer ging zu dem am Boden knienden Pergar, während der andere zu ihnen kam.

"Wir sind von der Überwachungspositronik alarmiert worden. Was ist hier vorgefallen?" wurden sie von einem grimmig dreinschauenden Sicherheitsbeamten barsch gefragt, dessen stiernackige Kopfhaltung verhaltene Kampfbereitschaft andeutete.

Charrut deutete mit seinem Kopf in Richtung Pergar und sagte: "Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, und dabei ist sie über die Absperrung gestürzt".

Der Sicherheitsbeamte sah erst Charrut sprachlos an, blickte dann zur Absperrung, eine annähernd ein Quars hohe Mauer und anschließend wieder zu Charrut. Während er sich am Hinterkopf kratzte, fragte er Charrut: „Sie hatten mit dem Mann dort“ und deutete mit einer Hand auf Pergar, „eine Meinungsverschiedenheit, und die Frau ist dabei, einfach so, über die Absperrung gestürzt?“

Charrut antwortete nichts auf den versteckten Vorwurf, dass sich der Sicherheitsbeamte wohl auf den Arm genommen fühlte. Sollten doch die Sicherheitsbeamten denken, was sie wollten, er wollte Onista nicht noch zusätzlich belasten. Der Sicherheitsbeamte mahlte knirschend mit den Zähnen, als er von Charrut keine Antwort bekam.

Mittlerweile war der Medo-Robot mit der Untersuchung von Pergar fertig und kam auf Onista und Charrut zu. Nachdem dieser einige Paltortontas Onista und Charrut mit diversen Sensoren abgetastet hat, teilte er seinen Befund dem Sicherheitsbeamten mit: "Der bewusstlos am Boden liegende männliche Arki hat ein Schädeltrauma, der vor mir stehende männliche Arki hat eine stark blutende Schnittverletzung. Beide Arkii benötigen dringendst medizinische Unterstützung in einem Medik-Center. Ein Notfallteam wurde bereits von mir angefordert.“ Erst jetzt sah der Sicherheitsbeamte die Verletzung und pfiff leise durch die Zähne. Währenddessen hatte der Medo-Robot, den man die sensible Hantierung nicht zutrauen mochte, mit seinen Tentakeln die Verletzung von Charrut freigelegt und fing an, mit einer Tentakel die Wunde und das umliegende Gewebe zu narkotisieren, während ein anderer Tentakel die Wunde mit einem Laserstrahl verschloss. Innerhalb von zwei Paltorrontas war die Wunde provisorisch verschlossen und blutete jetzt nicht mehr, dafür hing jetzt das eine Hosenbein von Charruts Ausgeh-Uniform in Fetzen herunter.

In der Zwischenzeit hatte der Sicherheitsbeamte sich die Absperrung genauer angesehen und kam jetzt wieder zu ihnen zurück. Der Sicherheitsbeamte sah Charrut mit einem verkniffenem Gesicht an und meinte: „Ich habe mir die Absperrung angesehen. Da kann niemand 'einfach so' darüber stürzen. Entweder klettert dort jemand freiwillig hoch und springt selbst oder es wird jemand mit Absicht darüber gestoßen." Mit drohendem Unterton in seiner Stimme sagte er: " Wir werden schon noch heraus bekommen, was vorgefallen ist!“

Fast zeitgleich landete ein grell blinkender Gleiter, aus dem drei grüngekleidete Sanitäter heraussprangen. Sie zogen zwei schwebende Liegen hinter sich her. Einer von ihnen untersuchte erst Charrut und anschließend Pergar nochmals intensiv. Anschließend wurden Pergar und Charrut auf je eine Liege gebettet und zum Notfallgleiter gebracht, wo sie eingeladen wurden. Während der Gleiter startete, blieb Onista beim Sicherheitsdienst zurück.

* * *

Während der Mediker ihn untersuchte und seine wieder geöffnete Wunde mit einem Laserstift und Biomolplastspray verschloss, fiel die Anspannung von Charrut ab und er konnte endlich einmal in Ruhe nachdenken. Die Enttäuschung und Demütigung von vorhin gewann wieder Einfluss auf ihn. Hatte er etwas falsch gemacht? Die Frage konnte er mit einem eindeutigen 'Nein' beantworten. Aber warum fing Onista dann mit ihm ein Verhältnis an, während sie noch mit diesem Pergar liiert war? Mit diesem Gedanken wuchs in Charrut der Ärger auf Onista heran, das sie beide Männer gegeneinander ausgespielt hatte.

Nachdem er eine abschließende Untersuchung über sich ergehen lassen musste, wurde er von dem Mediker entlassen. Als er aus dem Untersuchungsraum herauskam, wurde er von den Sicherheitsbeamten und Onista empfangen, die bereits auf ihn warteten. Onista kam auf ihn zu und drückte sich an ihn, glücklich darüber, das der Kampf glimpflich verlaufen war und er wieder bei ihr war. Charrut kämpfte innerlich, wie er reagieren sollte. Zum einen waren sie nicht alleine und er immer noch wütend auf das unaufrichtige Verhalten von ihr, von der anderen Seite liebte er sie. Letztendlich siegte seine Liebe zu ihr und er legte seine Arme um sie. Sie standen kurz engumschlungen, bis Charrut die Umarmung lockerte und Onista fragte: „Und, geht es dir gut?“

„Ja. Und dir? Deine Verletzung?“

„Soweit kein Problem. Ich soll mich in den nächsten Pragos etwas schonen, hat der Mediker gemeint, da ich doch einiges an Blut verloren habe“

Onista wollte etwas erwidern, da räusperte sich der Sicherheitsbeamte von vorhin, der inzwischen an sie herangetreten war, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

„Haben Sie inzwischen Ihre Meinung geändert und erzählen mir jetzt, was vorgefallen ist?“. Gleichzeitig hielt er das blutverschmierte Messer von Pergar in einem durchsichtigen Plastikbeutel vor sich, so das Charrut es sehen konnte.

Charrut schüttelte nur den Kopf und der Sicherheitsbeamte nickte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck verstehend.

„Das hatte ich mir fast gedacht“ erwiderte er. „Auch ihre Freundin wollte nichts sagen! Nun, alles weitere, was Sie angeht, betrifft mich nicht mehr“ und machte mit dem Kopf eine deutliche Bewegung an Charrut vorbei. Charrut und Onista drehten sich um und sahen zwei kräftige gebaute Männer gerade in den Aufenthaltsraum kommen, deren Abzeichen auf der Uniform als Angehörige der Akademiesicherheit auswiesen.

Einer der beiden von der Akademiesicherheit trat vor, sah Charrut mit finsterer Miene und vorgewölbten Kinn an und fragte im Befehlston: „Thos'athor Charrut del Harkon?“

Ti'Ghen!“

„Wir bringen Sie zur Akademie. Folgen Sie uns. Sofort!"
Charrut blickte intensiv Onista an und flüsterte ihr zu, so dass nur sie es hören konnte: "Kläre die Situation, woher er wusste, dass wir auf der Modenschau bei Deiner Schwester waren". Onista sah ihn an. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. 'Was mochte er meinen?' fragte sie sich. 'Mit Pergar sprechen? Sicherlich nicht; er würde sie nicht freiwillig in die Nähe von denjenigen lassen, der sie beide bedroht und Charrut fast getötet hätte. Nein, er musste etwas anderes im Sinn haben. Nur was? Eigentlich konnte er nur ihre Schwester Sedana selbst meinen.' Währenddessen drehte sich Charrut wieder zu dem Akademiesicherheitsmitarbeiter um und sagte: „Wir können.“

Während er mit der Akademiesicherheit in Richtung Ausgang ging, hörte er noch Onista den Sicherheitsbeamten fragen: „Was wird mit ihm geschehen?“, aber die Antwort nahm er nicht mehr war. Gemeinsam mit den beiden Männern verließ er den Aufenthaltsraum und sie schwebten zum Landedeck empor. Dort bestiegen sie einen Militärgleiter, der kurz darauf mit Ziel Akademie startete.

* * *

Kaum waren sie gelandet und ausgestiegen, geleiteten die Militärpolizisten Charrut ins akademieeigene Medik-Center und führten ihn zum diensthabenden Bauchaufschneider, einer von der Akademiesicherheit trat mit ein und stellte sich demonstrativ vor die Eingangstür. Der ergraute Mediker, der sie erwartete, nickte Charrut zu, deutete auf eine Schwebeliege und sagte: "Ich bin Yoner-Madrul-Laktrote Serl Engaar. Legen Sie sich auf die Schwebeliege". Während Charrut sich vorsichtig auf die Liege legte, erinnerte er sich an die erste Begegnung mit Bauchaufschneider Serl Engaar: damals, kurz nachdem er auf der Akademie kam, musste er wegen einer Trainingsverletzung auf die Krankenstation und hatte dort Kerasor kennengelernt. Währenddessen kam der Bauchaufschneider mit einer speziellen KSOL zu ihm, las die bereits vorliegenden medizinischen Daten des Medik-Centers aus Varynkor-Etset von der KSOL ab und begann, ihn nochmals zu untersuchen. Nach einigen Paltortontas legte er seine medizinischen Messgeräte zur Seite, sprach leise in die KSOL und wandte sich dann an Charrut.

„Sie hatten Glück. Hätte der Rivale das K'onom-Kampfmesser anders gehalten oder enger geführt, wäre die Verletzung möglicherweise schwerwiegender“

„Wer sagt, das es ein Rivale und das es ein Kampfmesser war?“ fragte Charrut überrascht.

Der alte Arki sah ihn milde an und erwiderte: „Junger Mann, halten Sie mich nicht für senil, nur weil ich alt bin. Ich habe schon oft ähnliche Verletzungen behandelt. So spät Abends geht es fast immer um eine Frau, wenn es nicht der Alkohol ist. Und außerdem steht es so im Bericht des Sicherheitsdienstes.“

Charrut nickte verstehend.

„Sie erhalten jetzt noch ein blutaufbauendes Präparat. Die nächsten zwei Pragos sollten Sie sich etwas schonen, damit die Verletzung problemlos verheilt.“

Mit diesen Worten setzte er eine Injektionspistole an Charruts Halsschlagader an und injizierte ihm das Präparat.

Nach der Injektion wandte sich der Bauchaufschneider seinem Arbeitstisch zu und sagte, während er sich setzte: "Sie dürfen jetzt gehen. Aber denken Sie an die zwei Pragos, in denen Sie etwas kürzer treten."

"Danke, Bauchaufschneider Serl Engaar" sagte Charrut, glitt von der Schwebeliege herunter und gemeinsam mit dem Angehörigen der Akademiesicherheit trat er hinaus in den Gang, wo sie von dem zweiten Mann erwartet wurden. Wieder nahmen sie ihn in die Mitte und schlugen den Weg in Richtung Zentralkhasurn ein.

* * *

Nachdem Charrut in Begleitung der beiden Militärpolizisten den Aufenthaltsraum verlassen hatte, musste sich Onista erst einmal setzen. Den Blick, den ihr Charrut zugeworfen hatte, verhieß nichts Gutes. Sie setzte sich auf die Couch im Aufenthaltsraum und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Sie verzweifelte innerlich: hätte sie geahnt, wie alles eskalieren würde, hätte sie auf alle Fälle Pergar eine Nachricht zukommen lassen, egal, ob es passend gewesen wäre oder nicht. Die Schuld, die sie auf ihren Schultern fühlte, wog schwer. Pergar war noch immer bei den Medikern, Charrut auf den Weg zur Akademie in Begleitung der Akademiesicherheit. Eine einzige Katastrophe…

Als Onista nach einer gefühlten Ewigkeit den Kopf hob, sah sie direkt in die Augen des Sicherheitsbeamten, der sie scheinbar die ganze Zeit beobachtet hatte, angelehnt an einer Säule. Dieser setzte sich langsam ihr gegenüber, legte die Plastiktüte mit dem blutverschmierten Kampfmesser von Pergar auf den Tisch und sagte dann: "Ich kann Ihnen helfen. Sie und ich wissen doch ganz genau, was vorgefallen ist, auch wenn Ihr Freund versucht hat, es zu verheimlichen. Es ehrt ihn, Sie zu schützen, aber das hilft Ihnen nicht, es verkompliziert die Angelegenheit nur. "Onista ließ den Satz in sich nachklingen, bevor sie seufzend sagte: "Also gut, bevor ich wieder einen Fehler mache, sollen sie es erfahren" und fing an, über den Abend und den Kampf dem Sicherheitsbeamten zu erzählen. Nachdem sie geendet hatte, nickte der Sicherheitsbeamte und erwiderte: "Sehen Sie, es war doch gar nicht so schwer. Übrigens, mein Name ist Cren Otona, Sicherheitsoffizier 1. Klasse. Es ist fast so, wie ich es mir gedacht habe. Sie haben jemand anderes kennen- und lieben gelernt, aber Ihren bisherigen Partner nicht mitgeteilt, das Sie sich von ihm trennen. Und Ihre Schwester hat ihm mit der Einladung zu dieser Modenschau darauf aufmerksam gemacht. Vielleicht wollte sie, dass Sie sich entscheiden oder andere Beweggründe haben sie dazu verleitet, ich weis es nicht. Für die Ermittlungen spielt es jedenfalls keine Rolle. Und da Sie mir geholfen haben, Licht in diesen Fall zu bringen, helfe ich auch Ihnen. Zum einen lasse ich Sie nach Hause bringen und zum anderen werde ich in der Akademie ein Gutes Wort für Ihren Freund einlegen".

Er führte sein Kommunikationsarmband zum Mund und führte ein kurzes Gespräch. Kurze Zeit später erschien ein Sicherheitsbeamter, einer von denen, die bereits am Kampfplatz vorhin dabei waren. Der Sicherheitsbeamte, mit dem sie eben das Gespräch geführt hatte, sagte zu ihr: "Mein Kollege wird Sie nachhause bringen. Sie sollten versuchen, zu schlafen. Und morgen, wenn Sie ausgeruht sind, sieht das Universum wieder anders aus. Und wenn ich Ihnen ein Rat geben darf: versuchen Sie in Ruhe mit Ihrer Schwester zu reden. Und entscheiden Sie sich für einen und beenden das andere Verhältnis".

Onista stand auf und fragte: "Sie halten Ihr Wort?"

"Selbstverständlich. Ich werde mich gleich darum kümmern."

Onista nickte zustimmend und ging zum wartenden Sicherheitsbeamten. Nach wenigen Quars blieb sie stehen, drehte sich nochmals um und fragte: "Was wird aus Pergar werden?"
Der Sicherheitsbeamte warf einen Blick auf seine Notizen, die er während Onistas Erzählung angefertigt hatte, und erwiderte: "Nun, er steht unter der Gerichtsbarkeit des Militärs. Wir selbst können Ihn nicht anklagen, aber das Militär wird Ihn nicht so davonkommen lassen: schwere Körperverletzung, Mordversuch, Überfall, um nur einige Punkte aufzuzählen. Ich persönlich denke, Ihn erwartet ein längerer Militärgefängnisaufenthalt, sicher ein Einsatzort, an den keiner gerne hin will. Und wenn er Pech hat, wird er auch noch unehrenhaft aus der Systemflotte entlassen."
Onista bedankte sich bei ihm, drehte sich zum wartenden Sicherheitsbeamten um und gemeinsam mit ihm verließ sie den Aufenthaltsraum.

* * *

Nach einigen Paltortontas, in denen sie diverse Gänge durchschritten und den zentralen Antigrav-Schacht benutzt hatten, blieben sie vor einer Tür stehen. Charrut sah auf das Namensschild, was oberhalb des Türöffners angebracht war: Jewon de'len Carnat/Anowi Vrey. Er hatte es geahnt. Geahnt, seitdem die Sicherheitsbeamten von Varynkor-Etset aufgetaucht waren. Aus den Augenwinkeln konnte er das höhnische Lächeln eines der Männer erkennen. Mit verbissenem Gesicht sah er, wie einer der beiden auf den Türöffner drückte. Nachdem sich die Tür geöffnet hatte, trat er ein und schloss die Tür hinter sich. Bevor er sich das Vorzimmer genauer ansehen konnte, kam eine Frau aus dem Büro von Jewon de'len Carnat in das Vorzimmer. Sie war schlank, hochgewachsen und die Uniform der Akademie, die sie trug, saß hauteng. Sie hatte ihre Haare, so wie es gerade Mode war, hochgesteckt. Sie blieb schräg vor ihm stehen, sah in von oben bis unten an und schürzte ihre Lippen, als sie sah, wie er vor ihr stand: der Oberteil seiner Ausgehuniform war abgeschabt und verdreckt vom Kampf und er trug eine Ersatzhose aus dem Medik-Center. Sie warf einen Blick auf ihre KSOL, die sie dabei hatte, als sie in das Vorzimmer zurückkam, blickte Charrut an und sagte, dabei gleichzeitig mit einer Hand zum Büro von Jewon de'len Carnat deutend: "Ich hoffe für Sie, das Sie eine gute Erklärung haben. Ihr persönliches Dossier spricht jedenfalls Bände über Sie." Bevor er irgendetwas darauf antworten konnte, fuhr sie fort: "Gehen Sie gleich in das Büro. Sie werden bereits ungeduldig erwartet, Thos'athor Charrut." Charrut grüßte und ging zum Büro von Jewon de'len Carnat, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen, salutierte und sagte mit kräftiger Stimme: "Mein Leben für Arkon und den Imperator!".

* * *

Ein melodisches Summen ertönte und schreckte Jewon aus seinen Gedankengängen auf. Aus müden Augen sah er am Monitor, das sich Anowi meldete. Sie kannte seinen Tagesablauf und hätte ihn nicht gestört, wenn es nicht wichtig sein würde. Er seufzte und sagte: "Gespräch annehmen". Die Positronik stellte durch und das Abbild von Anowi Vrey erschien auf dem Monitor. Jewon sah sie fragend an und sie erwiderte: " Zdhopanda, wir haben wieder einmal einen Kampf zwischen Thos'athors unserer Raumakademie und Angehörigen der Systemflotte."
"Wie viele Thos'athor sind betroffen, und wie schwer sind diese verletzt?"

"Nur einer, Zdhopanda, und es scheint keine schwerwiegende Verletzung zu sein."

"Also gut. Schicken Sie die Akademiesicherheit hin, damit diese ihn zurückbringen. Ich will ihn so schnell wie möglich sprechen, vorher soll sich aber nochmals ein Mediker seine Verletzung ansehen. Und stellen sie mir alle relevanten Informationen von diesem Thos'athor zusammen" Jewon rieb sich vor Müdigkeit die Augen. Nach einem kurzen Augenblick hob er den Kopf und fragte: "Hat sich der Kampf wenigstens gelohnt? Hat er gewonnen?"

Anowi drehte sich kurz vom Monitor weg, und als sie ihn wieder ansah, meinte sie: "Ich würde es als unentschieden interpretieren, Zdhopanda".

Jewons Gesichtsausdruck verhärtete sich. "Sobald er da ist, schicken Sie ihn gleich zu mir". Mit diesen Worten beendete Jewon de'len Carnat das Monitorgespräch mit Anowi.

Er warf einen Blick auf sein Vot. Wieder einmal würde sein Wunsch, pünktlich den Dienst zu beenden, unerfüllbar sein.

* * *

Als Charrut in das Büro von Jewon de'len Carnat trat, sah er diesen hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er spürte den fixierenden Blick Carnats, als er die Tür schloss, vor den Schreibtisch trat und die rituelle Begrüßungsformel aufsagte. Er fühlte, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete. Hatte er doch schon zweimal eine unliebsame Begegnung mit Jewon de'len Carnat hinter sich. Und jedes Mal fühlte er sich an seine Kindheit erinnert, ganz so, als hätte er die Prügelstrafe erhalten. Und jetzt sah ihn der Ausbildungsleiter wieder mit seinen eiskalten blauen Augen an und der grimmige Ausdruck seines kantigen Gesichts versprach Ärger.

"Mir liegt der Bericht des Sicherheitsdienstes von Varynkor-Etset vor. Was haben Sie dazu zu sagen, Ti'chor Charrut?"

"Ich habe das Leben einer Frau und mein eigenes verteidigt, Zdhopanda" erwiderte Charrut.

"Das ist nicht der springende Punkt, Ti'chor. Wissen Sie, was der Bericht aussagt, Ti'chor? Er sagt aus, dass Ihre Ausbildung noch immer zu wünschen übrig lässt. Sie haben zugelassen, dass Ihnen ein Gegner mit einem Kampfmesser eine Wunde zugefügt hat. Wenn ihre Kampftechnik so miserabel ist, spricht das nicht für die Akademie. Wir sind besser als alle anderen, Sie sollten besser sein. Die Augen des Imperators sind auf uns gerichtet und wir müssen uns bewähren. Sowohl die Führung der Akademie als auch alle Thos'athor. Schließlich repräsentiert jeder von uns die Akademie 20 Tontas je Prago – offiziell wie im Privaten." Die letzten Worte bellte Jewon fast hervor, stand dabei auf und ging um seinen Schreibtisch herum, bis er vor Charrut stand.

"Sie erhalten eine Berlenprag lang Ausgangssperre und werden jede freie Tonta Dagor-Kampftechniken trainieren, haben Sie verstanden?" In der Stimme von Jewon schwang etwas mit, das keinen Widerstand duldete.

"Ti’Ghen, Zdhopanda!" erwiderte Charrut.

Etwas versöhnlicher gestimmt sagte Jewon: "Und was die Frau angeht, habe ich nichts anderes von Ihnen erwartet, als das Sie der Ehre genüge getan haben."

Gleich daraufhin wurde seine Stimme wie immer, fest und kraftvoll: "Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen, Thos'athor".

Während Charrut salutierte, sich umdrehte und ging, hatte er das unbestimmte Gefühl, dass Jewon de'len Carnat ihn von hinten mit seinen Augen sezieren würde. Vorbei an Jewons Assistentin, die ihn abschätzend musterte schloss sich schließlich die Tür zum Vorzimmer; er blieb am Gang stehen, holte tief Luft und wagte es wieder, frei durchzuatmen. 'Eine Berlenprag Ausgangssperre. Und jede freie Tonta Dagor-Kampftechniken trainieren. Das ging glimpflicher ab, als erwartet' , sagte er sich. Er hatte schon befürchtet, das ihn Jewon de'len Carnat noch härter bestrafen würde. Während er in Richtung seines Quartieres lief, spürte er, wie sich der Knoten im Magen auflöste…

Nachdem Charrut den Raum verlassen hatte, überlegte Jewon kurz, sah sich den Ausbildungsplan von Charrut an und ließ dann eine Verbindung zu Dor ter‘len Gelin, Charruts Ausbilder in Nahkampftechniken, von seiner Positronik herstellen.

Als nach einiger Zeit sich das verschlafene und überraschte Gesicht auf den Monitor manifestierte, ließ Jewon dem Ausbilder Dor ter'len Gelin keine Zeit, sich zu orientieren. Mit seiner ihm eigenen Schroffheit kam er gleich zur Sache.

"Ich hatte eben einen Ihrer Schützlinge hier, Dor! Charrut del Harkon wurde in Varynkor-Etset bei einem Kampf mit einem Messer verletzt. Mir scheint, dass Ihre Dagor-Ausbildung zu wünschen übrig lässt. Er hat eine Berlenprag Ausgangssperre. In den nächsten zwei Pragos soll er sich noch etwas von seiner Verletzung erholen, aber dann wünsche ich, dass er jede freie Tonta Dagor-Kampfübungen trainiert. Schleifen Sie ihn! Nehmen Sie keine Rücksicht. Am letzten Prago der Berlenprag wird sich meine Assistentin Vrey davon überzeugen, dass er Dagor beherrscht. Ansonsten…". Jewon ließ absichtlich kurz eine Pause einfließen, "müssen wir uns um Ihre Bewertung Gedanken machen. Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt!"

"Ti’Ghen, Zdhopanda", erwiderte Dor ter'len Gelin, und an seinem Gesicht konnte Jewon erkennen, dass die Drohung auf fruchtbaren Boden gefallen war. Ohne ein weiteres Wort beendete Jewon die Verbindung.

Jewon rief Anowi Vrey über die Positronik in seinem Raum. Nachdem Anowi herein gekommen war und sich in einem Sessel vor Jewons Schreibtisch gesetzt hatte, blickte Jewon sie mit einem müden Blick an und sagte: "Erzählen Sie mir etwas über diesen Charrut del Harkon. Vom Kampf vorhin, Hintergrundwissen, Psychogramm…"

Anowi warf einen Blick auf ihre KSOL, die sie mitgebracht hatte, und führte aus: "Nach dem Bericht des zuständigen Sicherheitsbeamten von Varynkor-Etset ging es beim Kampf um eine Frau, eine Essoya. Sein Gegner, ein Angehöriger der Systemflotte von Varynkor, hatte ein Kampfmesser, ein K'onom, er selbst war unbewaffnet. Übrigens, mittlerweile wurde der Bericht des Sicherheitsbeamten, ein gewisser Cren Otona, ergänzt. Darin erläutert er, dass Charrut del Harkon am Zwischenfall unschuldig war." Anowi machte eine kurze Pause und sah ihren Vorgesetzten an. Jewons Gesichtsausdruck ließ aber keine Regung erkennen und so fuhr sie fort. "Der Harkon-Khasurn ist im Elimor-Sektor beheimatet. Charrut del Harkon ist der einzige Sohn von Ultral I. del'moas Harkon, die Mutter ist einige Zeit nach seiner Geburt gestorben. Familienhistorisch ist zu bemerken, dass einer seiner direkten Vorfahren einmal Imperator war: Serlan I. Seine Ausbildung verlief bisher den Anforderungen entsprechend. Und jetzt wird es interessant: Anfang dieses Tai-Votanii war er vom She'ianta Antor Agh'len Kolamir von der Ausbildung auf Wunsch des Sicherheitschefs des Harkon-Systems befreit. Sein Vater und dessen Verati waren entführt worden. Er als designierter Nachfolger hat es geschafft, innerhalb weniger Pragos seinen Vater zu befreien und, wie sich später herausstellte, den Tato eines dem Harkon-Khasurn zugehörigen System als TDA-Mitglied zu entlarven und zu liquidieren", beendete Anowi ihre kurze Ausführung, weil sie wusste, das Jewon langatmige Vorträge hasste; er kam lieber gleich zum Ziel.

'Das scheint einer mit Mumm zu sein. Viel zu wenige Arkii gibt es heut zu Tage, die noch persönliche Risiken eingehen wollen, anstatt ein luxuriöses Leben zu leben und andere die Arbeit machen zu lassen', ging es Jewon durch den Kopf. Laut fragte er: "Wie steht es mit der Loyalität zum Imperator?"

Anowi wiegte den Kopf hin und her, bevor sie antwortete: "Genaue Erkenntnisse liegen nicht vor. Momentan können wir nur aus den bisherigen Einsätzen, den regelmäßigen Psychotests und aus dem Khasurnverhalten Rückschlüsse ziehen. Danach ist Charrut del Harkon und der Khasurn dem Imperium und dem Imperator treu ergeben."

"Also gut", sagte Jewon nach einigen Augenblicken. Sein Gefühl bei Charrut del Harkon hatte ihn wohl nicht getäuscht. "Charrut del Harkon hat eine Berlenprag Ausgangssperre von mir erhalten. Seinen Ausbilder Dor ter'len Gelin habe ich angewiesen, dass dieser Charrut jede freie Tonta Dagor-Kampfübungen trainiert. Sie, Anowi, werden am letzten Prago der Ausgangssperre seine Dagor-Kampftechnik prüfen. Danach sehen wir weiter." Jewon gähnte hinter vorgehaltener Hand und sagte: " Machen wir für heute Schluss."

"Ti’Ghen, Zdhopanda!" erwiderte Anowi, stand auf und verließ den Raum.

* * *

Nachdem sich der Sicherheitsbeamte vor ihrer Wohnungstür verabschiedet hatte und sie in ihre Wohnung gegangen war, ließ sich Onista im Aufenthaltsraum auf eine Sitzgelegenheit nieder. Sie fühlte sich ausgelaugt, zerschlagen und müde. Es hätte ein besonderer Abend für sie zwei werden sollen, stattdessen waren sie alle gerade noch an einer Katastrophe vorbeigeschrammt.

'Und ich selbst habe Schuld daran', ging es ihr durch den Kopf. 'Hätte ich nur Pergar gesagt, dass es zwischen uns aus ist'. Aber nein, sie hatte es zu lange vor sich her geschoben. 'Ich hätte Charrut helfen können, schließlich bin ich militärisch ausgebildet und bei der Systemflotte. Aber stattdessen habe ich zugelassen, dass mich die Angst übermannt hat und ich von Panik ergriffen worden bin' , schalt sie sich, wütend auf sich selbst. Ein müder Blick von ihr durchstreifte den Aufenthaltsraum und blieb an dem Büchlein, das ihr Charrut geschenkt hatte, hängen. Ein warmes, wohliges Gefühl durchströmte sie. Hatte er ihr nicht gesagt, dass er sie liebte? Vielleicht konnte er ihr verzeihen, für das, was vorgefallen war. Sie hatte sein Zögern gespürt, vorhin im Medik-Center, bevor er sie doch umarmt hatte. Sie konnte es verstehen; wahrscheinlich war er einen Augenblick unsicher gewesen, ob die Liebe, die er für sie empfand, ehrlich erwidert wurde. 'Morgen werde ich zuerst Pergar mitteilen, das wir ab sofort getrennte Wege gehen und dann muss ich mit Sidona sprechen. Und ich hoffe, dass sich Charrut meldet, bevor ich am Nachmittag zu einem mehrere Pragos dauernden Einsatz aufbrechen muss'. Langsam stand sie auf, nahm das Büchlein aus echtem Faraid an sich und ging in Richtung Schlafzimmer…
Nachdem sie am nächsten Morgen aufgestanden war, ging sie in die Hygienekabine und duschte sich ausgiebig. Anschließend zog sie sich ihre Uniform an und frühstückte in Ruhe. Sie bedauerte nur, das Charrut nicht bei ihr war, er fehlte ihr. Nach dem Frühstück packte sie gleich die Sachen für den bevorstehenden Einsatz, auch das Büchlein von Charrut war dabei. Danach ging sie entschlossen zu ihrem Kommunikationsterminal und ließ die Nummer von Pergar wählen. Am Monitor blinkte das Zeichen, dass die Verbindung hergestellt und dass der Teilnehmer informiert werden würde. Nach zwei Palbartontas meldete sich die Wohnungs-KSOL von Pergar und teilte mit, dass Pergar nicht anwesend war.

"Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?" fragte die Wohnungs-KSOL. "Ja, das will ich", erwiderte Onista.

"Aufzeichnung läuft", meldete die Wohnungs-KSOL.

"Pergar, ich bin es, Onista. Ich sage es frei heraus: ab sofort gehen wir beide getrennte Wege. Es war mein Fehler, dass ich Dir nicht gesagt habe, dass zwischen uns Schluss ist. Du wolltest Charrut töten, obwohl er mit der Angelegenheit noch am wenigsten zu tun hatte. Das ist unverzeihlich! Mehr habe ich Dir nicht mehr zu sagen."

Onista beendete die Verbindung. Sie spürte, dass sie sich etwas aufgeregt hatte, während sie die Botschaft an Pergar der Wohnungs-KSOL vorgetragen hatte.

Sie ging zur Essenzubereitungseinheit und ließ sich ein Glas kaltes Wasser geben, das sie in einem Zug leerte. Gleich darauf fühlte sie sich entspannter. Sie atmete einige male durch, stellte das Glas ab und ging zum Ausgang. Sie wollte gerade die Wohnungstür öffnen, als ihre Wohnungs-KSOL einen Anruf meldete. 'Charrut. Bitte, lass' es Charrut sein…' wünschte sie sich, während sie kehrt machte und mit schnellen Schritten zum Kommunikationsterminal eilte.

"Anruf annehmen", befahl sie der KSOL.

Blitzartig baute sich ein Bild auf und zeigte einen Fremden, einen Bras'cooi, aber nicht Charrut. Etwas enttäuscht fragte sie:

"Ja?"

"Mein Name ist Kerasor nert Tamanar. Ich habe eine Botschaft von Charrut für Sie. Sie lautet: Wir sehen uns erst wieder, wenn eine Berlenprag vergangen ist."

Onista war bestürzt. 'Eine Berlenprag will sich Charrut nicht mehr bei mir melden, mich nicht mehr sehen?' fragte sie sich.

Kerasor war die Bestürzung, die sich deutlich im Gesicht der Frau wiederspiegelte, die Charrut als Onista Ferinei bezeichnet hatte, nicht entgangen. Darum fügte er noch hinzu:

"Charrut darf sich nicht melden. Er hat eine Berlenprag Ausgangssperre und dazu gehört auch ein externes Kommunikationsverbot".

Onista fühlte Erleichterung. Ihre Befürchtung, Charrut hätte doch an ihrer Liebe zu ihm gezweifelt, war verflogen. Sie bedankte sich bei diesem Kerasor nert Tamanar für die Nachricht und beendete das Gespräch. Sie seufzte in sich hinein. 'Eine Berlenprag…'

Nach einigen Augenblicken ging sie wieder zur Wohnungstür und verließ endgültig ihre Wohnung. Sie nahm wieder den Weg, den sie vor vielen Tontas gemeinsam mit Charrut genommen hatte, um zu ihrer Schwester zu gelangen.

Als sie den Glasbau erreichte und das Gebäude betrat, sah sie diverse Reinigungsroboter die Empfangshalle reinigen. Wie in den letzten drei Tai-Votanii nahm sie den Weg, der sie zum Büro ihrer Schwester führte. 'Wie oft bin ich schon hierher gekommen?' fragte sie sich. 'Ungezählte male, aber heute würde der Besuch bei ihrer Schwester eine andere Dimension, eine andere Qualität haben', beantwortete sie ihre eigene Frage. Kurz darauf stand sie vor dem Büro und trat ein. Sidona saß fast verborgen hinter einem Monitor. Bei ihrem Eintritt blickte sie auf und warf Onista ein Lächeln zu.

"Hallo Schwester! Wie geht es Dir?" fragte sie und stand dabei auf, ging um ihren Schreibtisch herum auf Onista zu.

Onista legte den Kopf etwas schräg, fixierte ihre Schwester und erwiderte mit einem Tonfall, dem man anmerkte, dass in ihm unterdrückte Wut mitschwang: "Mir? Mir geht es jetzt wieder gut".

Sidona war inzwischen bis an Onista herangetreten. Sie merkte an dem Tonfall, dass etwas nicht stimmte; sie blickte ihre Schwester mit einem fragenden Gesichtsausdruck an.

"Was meinst Du mit 'Mir geht es jetzt wieder gut'?"

"Hast Du Pergar eine Einladung zur Modenschau gegeben?" fragte Onista zurück, ohne auf die Frage ihrer Schwester einzugehen.

"Ja. Vor einigen Pragos habe ich ihm eine Einladung zukommen lassen. Du weist doch, dass er sich schon immer für meine Entwürfe interessiert hatte."

"Aber dass ich mich von ihm getrennt habe und jetzt mit Charrut zusammen bin, daran hast Du nicht gedacht, oder?"

"Ich dachte, das wär alles geklärt?" erwiderte Sidona, die merkte, dass Onista, so wie sie dastand, ihre Wut unterdrücken musste.

"Nichts war geklärt!" erwiderte Onista heftig. "Warum hast Du mich nicht vorher gefragt? Gestern Abend auf dem Weg zu mir hat uns Pergar mit einer Waffe überfallen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Charrut wäre tot gewesen. Hast Du gehört? Tot!". Die letzten Worte brachen sturzflutartig aus Onista heraus. Sie musste an sich halten, um nicht Sidona ins Gesicht zu schlagen.

Sidona war leichenblass geworden und setze sich schwer in einem Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

"Das, das habe ich nicht gewollt" erwiderte Sidona tonlos und mit schwacher Stimme. "Ich wollte doch nur, dass Du nicht das selbe Schicksal erleidest wie ich vor einigen Tai-Votanii."

Onista glaubte, sich verhört zu haben. "Was hast Du gesagt?" fragte sie noch wütender zurück. "Du hast das alles geplant gehabt? Das Pergar mich mit Charrut antrifft?" Sie stand jetzt dicht vor Sidona, und ihre angespannte Haltung deutete darauf hin, dass sie jeden Augenblick explodieren würde.

Sidona fing an zu weinen und legte ihr Gesicht in beide Hände. Während sie weinte, schluchzte sie: "Ich habe es doch nur gut für Dich gemeint. Du solltest doch nicht so wie ich von einem Adligen sitzen gelassen werden: alleine und schwanger".

Onista traute ihren Ohren nicht. Was erzählte ihre Schwester ihr? Dass sie einmal mit einem Adligen zusammen gewesen war? Dass sie schwanger gewesen war? Davon wusste sie ja gar nichts. Der Zorn, den sie auf ihre Schwester verspürt hatte, war fast verflogen, in den Hintergrund getreten ob dieser Eröffnung. Langsam kniete sie sich vor ihrer Schwester nieder und nahm Sidona in den Arm. Nach einer Weile, als sich Sidona wieder beruhigt und aufgehört hatte zu weinen, entließ sie ihre Schwester aus der Umarmung und setze sich auf einen anderen Stuhl.

"So, jetzt erzähle mir, was damals vorgefallen ist. Ich weis gar nichts davon!"

Sie sah, wie Sidona mehrmals zum sprechen ansetzte und dann doch nichts herausbrachte. Erst beim dritten Versuch gelang es Sidona, über ihren Schatten zu springen und zu erzählen.

"Vor ungefähr viereinhalb Tai-Vothanii lernte auch ich, sowie Du jetzt, einen Adligen von der Faerl kennen. Damals war ich noch jung und dumm und bin auf seine Verführungskünste hereingefallen. Er sprach von Liebe und meinte doch nur das Bett. Unser Verhältnis dauerte ungefähr ein dreiviertel Tai-Votan, bis ich schwanger wurde. Als ich es ihm damals sagte, sagte er, dass das überhaupt kein Problem wäre; er würde sich darum kümmern. Und von einem Prago zum anderen habe ich ihn nie wieder gesehen. Jeder Kontaktversuch zu ihm wurde abgelehnt, er war nie zu erreichen. Irgendwann habe ich dann erfahren, das er Varynkor verlassen hat, kurz nach seinem Abschluss. Ich stand da, mittellos und schwanger."

Onista brannten Fragen unter den Nägeln. "Wissen Vater und Mutter davon? Und – warum weis ich nichts davon?" fragte sie.

Sidona schüttelte heftig den Kopf. "Niemand aus der Familie weis davon. Wäre ich zu unseren Eltern gegangen und hätte davon gesprochen … du weist, wie Mutter auf Adlige reagiert. Und Du warst gerade am Ende Deiner Ausbildung und dadurch viel mit der Systemflotte im Einsatz. Nein, niemand weis davon!"

Sidona machte eine allesumfassende Geste mit den Armen und fuhr fort: "Weist Du, wie ich zu meinem Geschäft gekommen bin? Ich habe damals meine ganze Überredungskunst aufbieten müssen und habe mir Cronners geliehen, viele Cronners. Ich habe meine schlecht bezahlte Stellung als Modedesignerin aufgegeben und mir dieses Geschäft angemietet, seither arbeite ich nur für mich. Und von einem kleinen Teil des Geldes bin ich zu einem zwielichtigen Bauchaufschneider gegangen und habe mein Kind fortmachen lassen….". Sidona fing wieder an zu weinen, überwältigt von ihrer Scham und Schuldgefühl.

Onista war sprachlos und überrascht zugleich. Was sollte sie sagen? Sie ließ Sidona weinen und strich ihrer Schwester mit der Hand über den Kopf. Langsam hörte Sidona auf zu weinen und sagte dann mit leiser Stimme: "Und als Du vor einiger Zeit zu mir gekommen bist, verliebt über beide Ohren, und mir erzählt hast, dass Du mit einem Adligen zusammen bist, war es für mich wie ein Déjà-Vu-Erlebnis. Ich wollte nicht, dass es Dir so ergeht wie mir. Darum habe ich Pergar eine Einladung zukommen lassen und ihm dabei gleichzeitig mitgeteilt, dass Du mit jemand anderem zusammen bist, mit Charrut."

Onista verstand ihre Schwester. Sie konnte es verstehen und nachvollziehen, aber sie konnte es nicht billigen. Laut erwiderte sie: "Es tut mir leid, was Dir widerfahren ist. Aber lass' Charrut und mich unser Leben leben. Misch Dich da nicht ein. Nicht jeder Adlige ist so, wie Du es am eigenen Leib erfahren musstest."

Sidona nickte leicht und sagte: "Es tut mir wirklich leid. Wenn ich geahnt hätte, zu was Pergar fähig ist, hätte ich ihn nie informiert."

Onista nickte verstehend. Sie wollte etwas erwidern, aber in diesen Moment gab ihr Vot ein Lautsignal von sich. Onista warf einen Blick darauf und seufzte laut. "Ich muss leider los. In einer Tonta muss ich am Raumhafen sein, wir haben einen Einsatz. Ich hätte mich noch gerne weiter mit Dir unterhalten, aber das müssen wir auf die Feiertage verschieben, wenn ich wiederkomme." Beide Schwestern standen auf und umarmten sich. Nach einigen Augenblicken lösten sie die Umarmung, und Onista hielt ihre Schwester an den Händen fest.

"Versprich mir, dass Du Charrut und mich in Ruhe lässt, Dich nicht wieder in unsere Beziehung einmischst."

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen sagte Sidona: "Versprochen!"

"Also gut, dann gehe ich jetzt" erwiderte Onista, ging zur Bürotür und öffnete diese. Beim hinausgehen drehte sie sich nochmals zu ihrer Schwester um, die ihr nach sah und winkte ihr kurz zu, bevor sie die Tür schloss und sich auf den Weg zu ihrer Wohnung machte, um die bereitgestellten Sachen zu holen.

* * *

Sidona ging langsam zum Fenster und sah hinunter, um zu sehen, wann ihre Schwester das Gebäude verließ. Erst als sie sah, wie Onista auf das Laufband Richtung Rohrbahn sprang, erlaubte sie sich, ihre Lippen zu kräuseln. 'Wie einfältig, dumm und naiv muss Onista sein, um auf die Geschichte hereinzufallen?' fragte sie sich. Ihr Gesicht nahm einen hinterhältigen Ausdruck an. 'Sie wird immer nur eine unbedeutende Rolle spielen. Aber ICH nicht! ICH will weiterkommen!' ging es ihr durch den Kopf, während sie unbewusst ihre Hände zu Fäuste ballte. Dass sie es damals auf eine Schwangerschaft angelegt hatte, war der Preis, den sie zahlen musste. Und seither musste Shyban de Enash dafür zahlen. Tai-Votan für Tai-Votan. Sie verachtete ihn. Sie verachtete diesen Adligen, weil er nicht Manns genug war, zu seinem "Fehltritt" zu stehen, weder bei seinen Eltern noch ihr gegenüber. Nein, er war damals fast angekrochen gekommen, hatte ihr Cronners angeboten und sie gebeten, den Mund zu halten. Seither erpresste sie ihn, immer mit dem Hinweis, was wohl passieren würde, wenn sie mit dem Kind eines Pragos im Khasurn auftauchen würde. Das Kind, dass sie damals ausgetragen hatte, hatte sie gleich nach der Geburt abgeschoben zu einer Amme. Jeden Votan ließ sie ein "Betreuungsentgeld" über diverse Zwischenkonten überweisen und erhielt einmal im Tai-Votan einen Bericht über das Kind. Aber ansonsten interessierte es sie nicht. Es wäre nur hinderlich gewesen in ihren Plänen. Während sie wieder zu ihrem Schreibtisch ging, schüttelte sie den Kopf: 'Arme Onista, sie glaubt wirklich noch an Liebe'.

* * *

Während der Fahrt mit der Rohrbahn drehten sich Ihre Gedanken immer wieder um ihre Schwester auf der einen Seite und Charrut auf der anderen. Es tat ihr leid, was Sidona durchgemacht hatte. Es musste schrecklich für sie gewesen sein, alles durchzustehen: alleine, ohne Familie, das verlorene Kind… Bei diesen Gedanken überkam sie eine nie gekannte Traurigkeit. Dann dachte sie wieder schnell an Charrut, um nicht in Schwermut zu versinken. Die kurze Zeit, die sie bisher mit Charrut verbracht hatte, gehörten für sie eindeutig zu glücklichsten Zeiten ihres Lebens.

* * *

zur gleichen Zeit auf Planet Honroth – Khasurn de Enash

Zerl de Enash hatte schon den ganzen Vormittag das unbestimmte Gefühl, dass heute sich etwas schreckliches ereignen würde. Er konnte es nicht in Worte fassen, aber es war da, dieses belastendes Gefühl.

"Auf deine alten Pragos wirst du noch wunderlich", versuchte er sich selbst einzureden, dass an diesem Gefühl nichts dran war, es beiseite zu wischen. Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, vertiefte er sich noch intensiver in seine Arbeit: Berichte lesen, Genehmigungen erteilen oder verweigern; die ganze Palette an Verwaltungsarbeiten, die ein Khasurnoberhaupt erledigen musste.

Tontas später trat der Stellvertreter seines Sicherheitschefs, Dohan Tanoth, in sein Arbeitszimmer und blieb wartend vor seinem Schreibtisch stehen. Als Zerl nach einigen Augenblicken aufsah, war es für Dohan die Erlaubnis, zu sprechen.

"Zdhopanda, wir haben ein Problem!"

Zerl sah in überrascht an, lehnte sich in seinem Sessel zurück und gab Dohan mit einer Geste zu verstehen, sich zu setzen und fortzufahren.

Dohan setzte sich in den Sessel vor Zerls Schreibtisch, sah auf seine Mikropositronik und sagte:

"Zdhopanda, die interne Revision hat herausgefunden, dass dem Vermögen Eures Khasurns über einen Zeitraum von viereinhalb Tai-Votanii mehr als 450.000 Cronners entwendet worden sind."

Zerl war überrascht. '450.000 Cronners. Und wegen einer solchen geringen Summe, verglichen mit dem Khasurnvermögen, belästigte ihn Dohan Tanoth?' ging es Zerl de Enash durch den Kopf. Darum sagte er: "Dann findet den Verantwortlichen und stellt in vor das Gericht!". Er wollte sich schon wieder seiner Arbeit widmen, aber Dohan machte keine Anstalten, zu gehen.

Zerl blickte Dohan an. "Noch etwas?" fragte er.

"Wir wissen bereits, wer der Schuldige ist, Zdhopanda. Es wird Euch nicht gefallen. Es ist Euer Sohn Shyban."

Cerl wurde bleich im Gesicht. "Unmöglich! Ihr müsst Euch irren", brachte er tonlos hervor.

"Es tut mir leid, Zdhopanda! Aber ich habe alle Informationen doppelt und dreifach recherchieren lassen."

Zerl benötigte einige Augenblicke, um die Informationen zu verarbeiten. Sein einziger Sohn hatte ihn um Geld betrogen. Dass er nicht zu ihm kam, wenn er in Schwierigkeiten steckte, konnte nur bedeuten, dass die Probleme, die sein Sohn hatte, bedeutend waren.

"Warum? Wie? Wofür?" brachte er krächzend hervor.

Dass, was er seinem Khasurnoberhaupt jetzt mitteilen musste, war auch für Dohan nicht einfach. Er versuchte es so zu formulieren, das Zerl de Enash selbst zur Erkenntniss kam.

"Wir konnten den Weg des Geldes zurück verfolgen. Über diverse Zwischenkonten, getarnt als Sonderausgaben, gelangt es nach Varynkor. Auch dort wird es mehrmals umgebucht, bis es bei einer Frau landet, einer gewissen Sidona Ferinei, eine Essoya. Jeden Votan wird eine Summe von 10.000 Cronners an diese Frau überwiesen. Und wir konnten herausfinden, das ein Teil des Geldes auch jeden Votan an eine Kinderfrau weitergeleitet wird."

Zerl glaubte nicht, was er hörte. 'Varynkor, eine Essoya namens Sidona Ferinei' schoss es ihm durch den Kopf. 'Ja, sein Sohn war damals auf der Akademie gewesen', erinnerte er sich. Was konnte für seinen Sohn so schlimm gewesen sein, dass er jeden Votan 10.000 Cronners überwies? Er wurde erpresst'. Eine andere logische Erklärung fiel ihm nicht ein. 'Mit was konnte diese Frau seinen Sohn tai-votanii-lang erpressen? Ihm kam ein schlimmer Gedanke. Nein, er wollte erst gar nicht daran denken…'

Zerl stützte seinen Kopf schwer in seine Hände und fragte halblaut zwischen den Fingern hervor: "Erpresst sie ihn mit dem Kind?"

Dohan war erleichtert. Er hatte seinem Herrn einige Hinweise und Andeutungen gegeben und Zerl de Enash war scharfsinnig genug gewesen, die richtigen Schlüsse selbst zu ziehen, ohne dass er etwas sagen musste.

"Zdhopanda, darüber liegen keine Informationen vor. Aber unter diesen Umständen … bleiben nicht allzu viele andere Möglichkeiten."

Zerl de Enash überlegte kurz, bevor er sagte:

"Klären Sie diesen Punkt, ich brauche Gewissheit! Aber diskret."

"Jawohl, Hochedler", erwiderte Dohan Tanoth, stand auf und verließ das Arbeitszimmer von Zerl de Enash.

Nachdem Dohan das Zimmer verlassen hatte, brach die Wut aus Zerl hervor. Er schlug mit der Faust so stark auf seinen Schreibtisch, dass seine Hand schmerzte. Das stachelte Zerls Zorn über seinen Sohn noch mehr an, so dass er mit einer Handbewegung seinen halben Schreibtisch leerfegte und die Schreibutensilien und etliche Berichte auf den Boden fielen. 'Wenn das bekannt wird. Nicht auszudenken! Der Makel würde ewig auf seinem Khasurn liegen, dass sein Sohn mit einer Essoya ein Verhältnis gehabt und sie von ihm ein Kind bekommen hatte. Und nicht nur das. Andere Khasurns würden einer Ehe mit seinem Sohn von vornherein ablehnend gegenüber stehen. Seine Planungen für den zukünftigen Weg seines Khasurns würden vollkommen illusorisch.' Zerl de Enash versuchte sich zu beruhigen. 'Denke in Ruhe darüber nach, was getan werden muss' rief er sich zur Ordnung.

Er drückte eine Taste an seinem Schreibtisch und auf dem Monitor vor ihm erschien kurz darauf das Abbild seiner Assistentin D'emia. Bevor sie etwas sagen konnte, befahl er ihr mit verärgerter Stimme: "Ich bin heute für niemanden mehr zu sprechen, ausgenommen Dohan!" und beendete das Gespräch.

* * *

Viele Tontas vergingen, bis Dohan wieder im Arbeitszimmer von Zerl de Enash erschien. Er schloss die Tür und ging in Richtung von Zerls Arbeitstisch, von wo aus ihn Zerl bereits erwartungsvoll ansah und mit einer einladenden Geste auf den Sessel vor seinem Schreibtisch deutete. Dohan setzte sich und sah Zerl fragend an. Zerl gab ihm ein aufmunterndes, zustimmendes Zeichen.

"Es ist so, wie Ihr vermutet, Zdhopanda. Diese Essoya ist von Eurem Sohn schwanger geworden und hat ein Kind zur Welt gebracht. Die Frau entwirft Freizeitkleidung und hat wohl mit der Erpressung ein kleines Modeunternehmen auf Varynkor aufgebaut."
Zerl sah Dohan intensiv an und fragte: "Wer weis alles über diese Vorgänge bescheid?"

"Außer Ihnen, Zdhopanda, nur noch ich und einige Mitarbeiter der internen Revision".

Zerl nickte und sagte: "Geben Sie diesen Personen nach und nach andere Aufgaben. Es darf aber nicht wie eine Bestrafung oder Versetzung aussehen".

"Ja, Hochedler!" erwiderte Dohan Tanoth.

Zerl de Enash beugte sich hinter seinem Schreibtisch weiter in Richtung Dohan vor und sagte:

"Seit dem Sie für mich tätig sind, konnte ich aus Ihrer Arbeitsweise und Ihrem Verhalten erkennen, das Sie weiterkommen und nicht nur der Stellvertreter meines Sicherheitschefs sein wollen. Das stimmt doch, oder?"

Dohan nickte leicht und erwiderte: " Ja, Hochedler!". Innerlich triumphierte er, endlich wurde sein Talent und seine Fähigkeit anerkannt.

"Mein Sicherheitschef Ano on'wes Mevor wird im nächsten Vothar aus Altersgründen seinen Dienst quittieren und ich bin auf der Suche nach einem geeigneten Nachfolger. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass Sie zukünftig als sein Nachfolger für mich arbeiten könnten. Würde Sie die Aufgabe reizen?"

"Selbstverständlich, Hochedler", erwiderte Dohan. Zerl hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet. 'Wie leicht doch die Essoya zu durchschauen waren. Man musste ihnen nur etwas Macht in Aussicht stellen und sie griffen danach wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm', ging es Zerl durch den Kopf.

"Ich habe eine Aufgabe für Sie, die Durchsetzungsvermögen, Stillschweigen und Loyalität erfordert. Ich will nicht, dass Sie Fragen stellen, Mutmaßungen oder Vermutungen äußern. Können Sie das?"

Dohan überlegte kurz, bevor er antwortete: "Ja, Hochedler!"

Zerl sah Dohan intensiv in die Augen und war nach einigen Augenblicken zufrieden mit dem Ergebnis. Er hatte in den Augen von Dohan gesehen, dass dieser die in Aussicht gestellte Position haben wollte.

"Bei einer schweren Krankheit muss man manchmal eine radikale Operation durchführen. Nur ein kompromissloses Vorgehen schützt den Khasurn und seine Mitglieder; die Zukunft des Khasurns. Auch Sie! So ist es auch bei dieser Erpressung. Das Problem muss beseitigt werden! Verstehen Sie, was ich will?"

"Ich bin mir nicht sicher, Zdhopanda", erwiderte Dohan langsam, dem eine Ahnung beschlich, was kommen würde.

"Es darf keine weiteren Erpressungen mehr geben. Und es darf kein Hinweis auf den Khasurn geben", erwiderte Zerl und legte eine kurze Pause ein, damit sich Dohan geistig auf seine nächsten Worten einstellen konnte. "Die Frau und das Kind müssen eliminiert werden!"

Dohans Ahnung wurde zur Tatsache. NIE hätte er gedacht, das Zerl de Enash so weit gehen würde. Aber andererseits … wer Khasurnoberhaupt sein wollte, musste wohl hart und bedingungslos den Khasurn regieren. Er hatte in den wenigen Worten, die ihm Khasurnoberhaupt Zerl de Enash eben gesagt hatte, nichts anderes als einen Mordauftrag erhalten. Und er sollte sich darum kümmern! Er hatte damit kein Problem. Was kümmerte ihn die Frau und das Kind. Es gab so viele Arkii im Tai Ark’Tussan und jede Tonta starben irgendwo welche, da fielen zwei Arkii überhaupt nicht auf. Für ihn zählte nur sein in Aussicht gestellter Aufstieg. Damit verbunden waren Macht, Geld und andere Privilegien.

Zerl fuhr fort: "Es sollte so schnell wie möglich erledigt werden. Aber wichtig hierbei ist: es darf keine Spuren zu Ihnen, zu mir oder dem Khasurn geben. Haben Sie mich verstanden?"

Dohan nickte und erwiderte: "Jawohl, Hochedler".

"Gut, dann gehen Sie. Ich betrachte diesen Auftrag als bereits erfolgreich erledigt."

Dohan stand wortlos auf und wollte gerade den Raum verlassen, als ihn Zerl nochmals zurückrief.

"Warten Sie", sagte Zerl, stand auf und ging zu Dohan. Er blieb kurz vor ihm stehen und legte eine Hand auf Dohans Schulter.

"Ich kann mir vorstellen, dass das nicht leicht für Sie ist. Aber es muss getan werden. Und ich wüsste keinen anderen, der dafür besser geeignet ist als Sie. Gleichzeitig zog er einen ID-Chip aus seiner Jackentasche und gab sie Dohan, während er sagte: "In Etori-Etset gibt es eine Wohnung, die vorübergehend nicht genutzt wird. Sie sollten die Angelegenheit von dort aus regeln! Auf diesem neutralen ID-Chip ist eine größere Summe Chronners gespeichert.“

Dohan nahm den ID-Chip, nickte Zerl de Enash zu und verließ endgültig den Raum.

Nachdem Dohan den Raum verlassen hatte, ging Zerl de Enash zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. Langsam entspannte er sich und ein verstohlenes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

Alles verlief so, wie er es sich gedacht hatte – bis jetzt. Er hatte jemanden, der den Auftrag erledigte, es gab keine Aufzeichnungen und der ID-Chip war soweit präpariert, dass die Oberfläche in annähernd einer Tonta alle bis dahin vorhandenen Gen-Spuren zerstören würde Verlief der Auftrag reibungslos, hatte er keine Probleme damit, Dohan als seinen Sicherheitschef einzusetzen. Dann hatte Dohan seine Loyalität dem Khasurn gegenüber bewiesen. Und sollte doch etwas herauskommen, so konnte man Dohan die Schuld zuweisen; alle Indizien würden auf ihn weisen, ihm konnte nichts nachgewiesen werden, seine DNS-Spuren auf dem Chip waren vernichtet. 'Und außerdem, wer sagte, das Dohan nicht eines Morgens tot aufgefunden werden würde?' dachte sich Zerl de Enash und ein hinterhältiges Lächeln zuckte über sein Gesicht. 'Je weniger Mitwisser es gab, desto besser war das Geheimnis gewahrt'.

* * *

Dohan erledigte seine Arbeit gewissenhaft. Nachdem die ersten Mitarbeiter der internen Revision andere Aufgaben zugewiesen wurden, machte er sich auf den Weg nach Etori-Etset. Während er in seinem Dienst-Gleiter saß und durch die Frontscheibe die Stadt immer näher kommen sah, ging er in Gedanken nochmals den Auftrag durch. Die auf dem Chip gespeicherte Geldsumme, die er vorgefunden hatte, kam ihm viel zu gering vor: Gerade einmal 500.000 Chronners. Und damit sollte er einen Killer beauftragen können? Er musste jemanden finden, dem er den Auftrag übergeben konnte. Nur wie? Für ihn war dies absolutes Neuland.

Die Gleiter-Positronik teilte mit, dass er sein Ziel erreicht hatte, während der Gleiter zur Landung auf einem Gleiterlandeplatz eines Wohnkhasurns ansetzte. Er zog kurz den Permit-Chip hervor, den ihm Zerl de Enash gegeben hatte und warf einen Blick darauf. Er konnte '27-5-39' lesen. Nachdem der Gleiter gelandet war, stieg er aus, ging zum zentralen Antigravschacht und schwang sich hinein. Er ließ sich bis in die 27. Etage hinab schweben und schwang sich dann hinaus. Er folgte dem Hinweis zum Bereich 5 und folgte dann den Wohnungsnummern, bis er vor der 39. Wohnungstür stand. Mit dem Permit-Chip am Sensorfeld öffnete sich ihm die Tür und Licht flammte auf. Er betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Die Wohnung war spartanisch eingerichtet: Eine kleine Sitzcouch, ein Bett und eine einfache Essenszubereitungseinheit. Für ihn ein Anachronismus, war das große Terminal der Wohnungs-KSOL, wesentlich größer als üblich. Und eine Bedientaste blinkte. Langsam ging er zum Terminal und setzte sich in den Sitz davor. Er warf einen Blick auf die blinkende Taste. 'Kontakt' stand darauf.

Nach einigem Zögern drückte er die Taste. Sofort erschien auf dem Display der Hinweis, dass die Verbindung hergestellt würde. Er wartete. Nach einigen Palbertontas verschwand der Hinweis und das Displaybild fing an, sich wie schwerer Nebel oder Rauch zu bewegen. Gleichzeitig meldete sich jemand mit positronisch verstellter Stimme:

"Sie haben einen Auftrag?"

Dohan war überrascht. War schon alles vorbereitet? Oder waren von dieser Wohnung bereits schon andere Mordaufträge lanciert worden?

"Ja" erwiderte er.
"Welcher Art?" stellte ihm der unbekannte die Gegenfrage.
"Es muss jemand beseitigt werden!"
"Wie viele?"
"Zwei Personen."
"Männlich oder weiblich?"
"Beide weiblich, Mutter und Kind."
"Stand?"
"Unverheiratet, Essoya,."
"Wo?"
"Planet Varynkor."
"Wann?"
"Schnellstmöglich."
"Wie?"
"Es muss wie ein Unfall aussehen!"

"Bleiben Sie empfangsbereit. Ich melde mich innerhalb weniger Tontas wieder", erwiderte die verfremdete Stimme und unterbrach die Verbindung.
Dohans Vermutung wurde zur Gewissheit. Diese Wohnung wurde schon mindestens einmal für dubiose Aufträge benutzt. Dohan stand auf und ließ sich von der Essenszubereitungseinheit etwas Nahrung zubereiten. Anschließend wartete er auf den Rückruf. Nachdem zwei Tontas vergangen waren und er müde wurde, legte er sich auf das Bett und schlief etwas unruhig ein.

Tontas später weckte ihn das Anruf-Signal der Wohnungs-KSOL. Noch etwas müde und verschlafen stand er auf und setzte sich wieder in den Sitz vor das Terminal. Ein Blick auf sein Vot sagte ihm, dass mittlerweile fast sechs Tontas vergangen waren, seit er den ersten Kontakt hatte. Er drückte die blinkende Taste, um den Anruf anzunehmen. Wieder waberte über das Display Rauch oder schwerer Nebel. Und wieder war die positronisch veränderte Stimme zu hören, die ihm mitteilte:

"Auftragnehmer steht zur Verfügung: viele Tai-Votanii Einsatzerfahrung, Erfolgsquote 98%, Auftragserledigung innerhalb von zwei Berlenprags. Kosten: 700.000 Chronners.

Dohan holte tief Luft. Das überstieg die Geldsumme, die er von Zerl de Enash erhalten hatte, bei weitem.

Er schüttelte den Kopf und erwiderte: „Diese Geldsumme steht nicht zur Verfügung. Haben Sie eine preiswertere Alternative?“

"Warten Sie", erwiderte die verfremdete Stimme. Einige Palbertontas vergingen, bis sich die Stimme wieder meldete.

Alternative: junges Nachwuchstalent. Einige Tai-Votanii Erfahrung, Erfolgsquote 89%, Auftragserledigung innerhalb eines Votan. Kosten: 450.000 Chronners.

„Einverstanden“ sagte Dohan ohne zu zögern.

Er vertraute darauf, dass auch der Nachwuchskiller erfolgreich sein würde. Das Nachwuchstalent würde alles daran setzen, keinen Fehler zu machen. Seine Reputation in den einschlägigen Kreisen würde darunter leiden und die Aufträge ausbleiben.

"Zwei Drittel des Honorars sind sofort zu überweisen, der Rest nach Auftragsabschluss. Mit der Überweisung wird der Auftrag angenommen. Zusätzlich sind alle relevanten Informationen, die die Zielpersonen betreffen, mitzuteilen."

Bevor Dohan noch etwas sagen konnte, verschwand das wabernde Nichts vom Monitor und auf dem Display stand zu lesen: "Datentransfer bereit". Dohan zog mit einem leichten Seufzer den ID-Chip aus seiner Hosentasche und führte den Chip in das Lesegerät der Wohnungs-KSOL ein. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Vom Chip würde jetzt das Geld abgebucht werden. Nachdem das Geld überwiesen wurde, tauschte er den Chip gegen den anderen, der alle Informationen enthielt, aus und alle Informationen, die er von dieser Essoya hatte, wurden übermittelt.

Kurz darauf erlosch die Anzeige am Display. Zufrieden mit sich stand Dohan langsam auf. Er hatte den Auftrag erteilt und musste nur noch den erfolgreichen Abschluss abwarten, bevor er Zerl de Enash die Erfolgsmeldung mitteilen konnte. Er nahm die Chips an sich, überprüfte den Raum, ob er nichts von sich hatte liegen lassen. Anschließend gab er der Wohnungs-KSOL den Auftrag, den Raum mit Hilfe von Reinigungs-Roboter zu reinigen und verließ die Wohnung.

Als er wieder zum Gleiterlandeplatz hinaufschwebte, war ein neuer Prago angebrochen. Die Sonne würde jeden Moment am Horizont aufgehen. Er bestieg seinen Gleiter und gab der Positronik den Befehl, ihn zu sich nach Hause zu fliegen.

* * *

Nach einem Palbertonta erreichte Charrut sein Quartier. Unterwegs war er einigen Thos'athor begegnet, meist aus niedrigeren Ausbildungsstufen als er selbst. Die entrüsteten Blicke, die sie ihm zuwarfen, als er mit der bunt zusammengestellten Kleidung durch die Akademiegänge lief, ignorierte er geflissentlich.

Kaum war er in sein Quartier eingetreten, riss er sich das Oberteil der Ausgehuniform vom Leib und warf es in den Abfallvernichter. Kurz darauf folgte dem Oberteil die Ersatzhose. Er ging in die Hygienekabine und duschte ausgiebig. Während er unter der Dusche stand, mit den Händen an der Wand abgestützt, und das heiße Wasser über seinen Körper lief, dachte er nach. Onista hatte ihn belogen. Vor Beginn der Modenschau hatte sie ihm gesagt, dass dieser Pergar nur ein Freund sei, und als Pergar sie überfiel, hatte dieser in seiner Wut gesagt, das sie sein Mädchen ist. Konnte er ihr noch vertrauen? Er wurde bei dem Gedanken an ihre Lüge wütend. Seine Hände hatten sich unbewusst zu Fäusten geballt. Aber er musste sich nach einiger Zeit eingestehen, dass zwei konträre Ansichten in ihm aufeinander prallten: sein Verstand und sein Gefühl. Und sein Gefühl hatte ihn vorhin Onista doch umarmen lassen. Und wenn ihn sein Gefühl nicht täuschte, liebte er sie. 'Und wenn man jemanden liebt, dann kann man auch verzeihen', sagte er sich. Mit dieser Erkenntnis ließ er sich vom warmen Luftstrom der Hygienekabine trocknen und legte sich anschließend zum Schlafen auf sein Bett.

Als Charrut am nächsten Morgen in die Messe kam, ging er zielstrebig zu dem Tisch, der im Laufe des Akademieaufenthalts zu ihrem Stammplatz geworden war. Als er näher kam, sah er, dass bereits Ellie und Horta anwesend waren und gerade von den Robots das bestellte Frühstück erhielten. Er begrüßte sie und setzte sich ihnen gegenüber. Während er noch sein Frühstück an dem Eingabegerät auswählte, bekam er mit, das sich die beiden über ihren vorletzten Einsatz im Parsav-System unterhielten. Charrut verkniff sich eine Bemerkung dazu; der unangenehme Zusammenprall zwischen ihm und Horta, als er ihr helfen wollte nach einem Sturz im Fluss wieder auf die Beine zu kommen würde sicherlich noch eine Zeitlang Gesprächsstoff liefern. Wenn er sich allerdings an Ariols 'Bestrafung' während des Einsatzes erinnerte, konnte er ein Grinsen nicht verbergen. Kurze Zeit später tauchten auch Tranthar, Kerasor und Etzor auf, grüßten die Anwesenden und setzten sich.

Während sie gemeinsam frühstückten fragte Ellie mit fast vollem Mund: "Du siehst aber noch ziemlich müde aus, Charrut. War wohl eine kurze Nacht, oder?" Am Gesichtsausdruck und am Tonfall merkte Charrut, das Ellie wieder einmal der Schalk im Nacken saß. Bestätigend nickte er und erwiderte ernst: "Ja, das kann man sagen. Ich bin erst früh am Morgen aus einem Medik-Center in Varynkor-Etset entlassen worden und musste dann noch zu Jewon de'len Carnat". Die Gespräche ihrer Gruppe verstummten und jeder sah ihn gespannt an. Charrut seufzte und fing dann an, das Abenteuer des gestrigen Abends zu erzählen. Nachdem er seine Geschichte mit den Worten beendete "…und nun habe ich einen Berlenprag Ausgangssperre und darf jede freie Tonta Dagor trainieren", fingen die anderen an, Kommentare abzugeben. Von Etzor hörte er nur ein "Du und deine Frauengeschichten", während Ellie und Kerasor ihn in seiner Handlung bestätigten.

Nur von Tranthar kam kein Kommentar. Ihr Verhältnis war, nachdem er sich von Auris getrennt hatte, angespannt. Charrut wusste, das Tranthar Auris bewunderte, vielleicht sogar mehr. Aber er verstand nicht, warum Tranthar nicht zwischen ihrer Freundschaft und der Beziehung Auris zu ihm unterscheiden konnte. Nach einigen Palbertontas der Diskussionen brachen sie alle gemeinsam zur ersten Schulungstonta auf. Während sie die Messe verließen, hielt Charrut Kerasor am Arm fest, bis sie beide am Ende ihrer Gruppe waren. "Du musst mir ein Gefallen tun. Rufe bitte Onista an und sage ihr, dass wir uns erst wieder in einem Berlenprag sehen können." Kerasor nickte zustimmend und erwiderte: "Mache ich!"

"Ich übersende dir den Rufcode ihrer Wohnung", sagte Charrut und tippte einige Zahlenkombinationen auf seinen Armbandkommunikator ein. Kurz darauf ertönte von Kerasors Armbandkommunikator das Empfangssignal.

* * *

 

Tarman 31 to 14.598 da Ark

Nach der letzten Schulungstonta machte sich Charrut auf den Weg zum Trainingsraum. Heute sollte seine letzte Dagor-Trainingseinheit sein, wenn er sich richtig erinnerte. Die Pragos der Berlenprag waren zum Schluss wie im Flug vergangen, nicht zu vergleichen mit den ersten Pragos. Es war hart gewesen. Am Anfang des 'Sondertrainings' war er regelrecht verprügelt worden. Es verging kaum eine Tonta, wo er nicht am Boden lag oder Schläge einstecken musste, dass er dachte, er wäre ein blutjunger Anfänger. Charruts Körper war von vielen Blutergüssen übersät. Aber das Training hatte ihn besser, schneller und geschickter werden lassen. Nach dem ersten Prago war er so niedergeschmettert gewesen, dass er gegenüber Dor ter'len Gelin schon fast Hass empfunden hatte. Aber Dor hatte ihm gleich am Anfang gesagt, dass er den Auftrag bekommen hatte, keine Rücksicht zu nehmen, und das wolle er auch durchziehen. Als er in den Trainingsraum kam, war Dor ter'len Gelin bereits anwesend. Aber im Gegensatz zu den letzten Pragos trug er nicht den traditionellen Dagor-Trainingsanzug, sondern seine übliche Uniform. Charrut war verwundert. Und bevor er fragen konnte, warum sein Ausbilder nicht entsprechend gekleidet war, kam ihm Dor ter'len Gelin zuvor.

"Die heutige Trainingseinheit, die den Abschluss Ihres 'Sondertrainings' markiert, wird auf Wunsch von Jewon de'len Carnat nicht von mir durchgeführt, sondern von jemand anderem!". Mit seinen letzten Worten öffnete sich auf der anderen Seite des Trainingsraum eine verborgene Tür und Anowi Vrey trat herein, bekleidet mit dem Dagor-Anzug.

Charrut war leicht überrascht, sie zu sehen. Mit ihr hatte er jetzt nicht gerechnet. Aber andererseits durfte es für ihn keinen großen Unterschied machen, ob er den Abschluss seines 'Sondertrainings' bei Dor oder der Assistentin von Jewon de'len Carnat, Anowi Vrey, durchführen musste.

Anowi Vrey nahm ihm gegenüber, in ungefähr drei Quars Abstand, Aufstellung und sah ihn abschätzend an.

"Sind Sie sicher, Dor, das Charrut del Harkon jetzt den Anforderungen genügt?“

„Ich habe ihm alles gezeigt und trainiert, was mir in der Kürze der Zeit möglich war“, erwiderte Dor ter’len Gelin.

„Wir werden sehen“, sagte Anowi Vrey kalt.

Und an Charrut gewandt sagte sie: „Nehmen Sie Aufstellung!“

Anowi und Charrut nahmen Aufstellung und verneigten sich. Charrut und Anowi fixierten sich mit ihren Augen, warteten gegenseitig darauf, dass der andere angriff. Übergangslos, praktisch aus dem Stand heraus, griff Anowi an. Charrut wurde mit einer Flut von Schlägen und Tritten eingedeckt und musste sich mit der Rolle des Verteidigers begnügen. Er wurde immer weiter nach hinten gedrängt, so dass er keine Zeit fand, selbst anzugreifen. Ein heftiger Tritt von Anowi traf und trotz seiner Abwehrhaltung stürzte er zu Boden. ‚Laß dich nicht von ihr provozieren‘, ging es ihm durch den Kopf. ‚Wenn du vor Zorn angreifst, wird sie es als Schwäche auslegen. Unterdrücke deinen Zorn und fokussiere ihn in einen Angriff‘. Er stand wieder auf und, tatsächlich, so wie er es gedacht hatte, griff sie gleich wieder an. Darauf hatte er gewartet. Zum Angreifen musste sie ihre Deckung öffnen. Er sah ihren Bewegungsablauf und ahnte den Fußtritt. Als sie ihr linkes Bein zum Tritt hob, griff er an. Er bewegte sich etwas zur Seite und trat dann selbst zu. Sein Tritt traf sie am Becken. Sie wurde regelrecht 2 Quars nach hinten geschleudert und stürzte, da sie wegen ihres geplanten Angriffs nur auf einen Bein gestanden hatte. Sie kam gleich wieder hoch, aber in ihren Augen konnte er Anerkennung und Respekt sehen. Angriff und Abwehr wogten Palbertontas zwischen ihnen hin und her, aber immer wieder musste er den Kürzeren ziehen, immer wieder landete er auf der Matte. Er hatte nicht gedacht, das Anowi eine so große Meisterin im Dagor sein würde. Sein Zorn, den er am Anfang empfunden hatte, war einem anderen Gefühl gewichen, dem Gefühl des Versagens! Er hasste es, zu versagen, zu verlieren. Deswegen war er nicht auf die Akademie gekommen. Nein, er wollte unter den Besten sein, nicht irgendwo im Mittelmaß. Mittlerweile atmeten beide schwer, der Schweiß lief in Strömen über ihre Gesichter.

„Genug!“ sagte Anowi heftig atmend. „Zwei Palbertontas Pause. Danach will ich sehen, wie sie mit den Dagor-Stock kämpfen können.“

Charrut war froh über diese Pause. Er war erschöpft und ausgelaugt und konnte eine Verschnaufpause gut gebrauchen. Ja, er spürte jeden Schlag und Tritt von ihr, aber das 'Sondertraining' hatte ihn nicht nur geschickter und besser als davor agieren lassen, sondern auch seinen Körper war abgehärteter wegen der vielen Schläge und Tritte, die er im Training von Dor ter’len Gelin erhalten hatte. Trotzdem kehrten die Schmerzen wieder zurück. Er setzte sich in eine Ecke des Trainingsraums, schloss die Augen und versuchte sich mit Hilfe der Dagor-Meditation zu entspannen. Nach zwei Palbertontas erklang ein leiser Gongschlag, der das Ende der Pause verkündete. Charrut stand langsam auf und sah wie Anowi Vrey gerade einen Dagor-Stock von Dor überreicht bekam. Langsam und schweren Schrittes ging er zu Dor und ließ sich ebenfalls einen Dagor-Stock geben. Dor sah in verwundert an, hatten sie doch mehrere Pragos hintereinander mit den Dagor-Stöcken gekämpft. Dor konnte es nicht glauben, dass sein Schüler jetzt schon schlapp machte.
„Sie schaffen es“, sagte Dor leise zu Charrut, während er ihm den Dagor-Stock übergab. "Halten Sie durch!"

Charrut und Anowi nahmen wieder Aufstellung und verneigten sich. Und wieder griff sie überraschend schnell an. Die Schläge der Dagor-Stöcke hallten laut durch den Trainingsraum, als sie aufeinanderprallten. Wieder und wieder stürmte Anowi heran, ließ ihren Dagor-Stock wie ein Trommelwirbel auf Charrut einschlagen. Charrut fand keine Zeit, selbst aktiv zu werden. Seine Handgelenke schmerzten schon von den heftigen Treffern auf seinem Dagor-Stock, die seinen ganzen Körper erschütterten, während er dabei versuchte, keinen Körpertreffer zu erhalten; das würde vermutlich sein Ende sein. Nach einigen Paltortontas legte Anowi zum Glück eine kurze Pause ein und fixierte ihn. Er vermutete, dass sie ihre Taktik ändern wollte, um ihn endgültig auszuschalten. Aber sie überraschte ihn. "Es ist genug", sagte sie. Und in Richtung Dor ter'len Gelin rief sie mit Anerkennung in der Stimme: "Sie haben gute Arbeit geleistet, Dor! Nicht viele halten diese Stockangriffe stand!" Dann drehte sie sich abrupt um und verschwand durch die Tür.

Charrut stand überrascht da, noch immer den Dagor-Stock in Abwehrhaltung gehoben und blickte Dor etwas hilflos an. ‚War es das schon?‘ ging es ihm durch den Kopf. ‚Einfach so vorbei?‘.

Dor ter’len Gelin kam auf ihn zu und nahm den Dagor-Stock von Charrut in Empfang.

„Sie können Stolz auf sich sein, Charrut del Harkon. Das war ein ausgesprochenes Kompliment von Anowi Vrey!“

Mittlerweile hatte Charrut seine Überraschung überwunden.

Er verneigte sich gegenüber Dor und sagte: „Ich danke Ihnen, Ausbilder Dor ter’len Gelin, dass Sie mir die Gelegenheit boten, meine Dagor-Kampftechnik zu verbessern!“

Dor nickte leicht und erwiderte: „Damit ist das ‚Sondertraining‘ abgeschlossen. Sie dürfen wieder Ihren normalen Tagesablauf nachgehen!“.

Charrut bedankte sich nochmals und verließ den Trainingsraum in Richtung seines Wohnraums. Nachdem er sich frisch geduscht und angekleidet hatte, setzte er sich vor das Positronik-Terminal und ließ seinen Status überprüfen. Nach wenigen Augenblicken wusste er: seine Ausgangs- und Kommunikationssperre war aufgehoben. Er wählte gleich die Nummer von Onistas Wohnung, aber nach zwei Palbertontas meldete sich nur die Wohnungs-KSOL, die ihm mitteilte, das Onista nicht anwesend war. Nachdem ihn die Wohnungs-KSOL gefragt hatte, ob er eine Nachricht hinterlassen wollte und er zugestimmt hatte, sagte er: „Hallo Oni, schade, dass du nicht zu erreichen bist. Meine Ausgangssperre ist vorbei und wir können uns endlich wieder treffen. Allerdings…“, er warf einen Blick auf sein Vot, „…heute leider nicht mehr, dafür ist es bereits zu spät. Aber wenn du dich morgen meldest, könnte ich zu dir kommen. Bis dann. Ich liebe dich!“. Nachdem die Verbindung getrennt war, überlegte er, dass er seine Freunde in letzter Zeit nur noch kurz beim gemeinsamen Frühstück und während der Schulungstontas gesehen hatte. Da blieb nicht viel Zeit, um über privates zu reden. Er stand auf und ging aus seinem Wohnraum hinüber in ihren gemeinsamen Wohnbereich. Vielleicht traf er ja den einen oder anderen aus seiner Gruppe…

* * *

Charrut wurde übergangslos wach. Was hatte ihn geweckt? Während er im Bett lag und darüber nachdachte, erklang das Rufsignal seines Positronik-Terminals. Er warf einen Blick auf sein Vot, das direkt neben seinem Bett lag und stellte fest, dass er eigentlich noch eine Tonta hätte schlafen können. ‚Wer konnte das sein, der ihn so früh aufweckte?. Eigentlich nur eine Person‘ ging es ihm durch den Kopf. Er wollte mit einem Ruck aufstehen, wie er es sonst immer tat, wenn er sich ausgeruht fühlte, musste sich dann aber wegen der Schmerzen, die er noch vom ‚Sondertraining‘ überall am Körper spürte, mühsam vom Bett erheben. Mit schmerzverzogenem Gesicht schleppte er sich, nur mit einer kurzen Hose bekleidet, langsam zu seinem Positronik-Terminal. Noch bevor er sich in den Stuhl davor setzte, sagte er: „Positronik, Gespräch annehmen!“.

Das Trivid-Feld erhellte sich und wie er vermutet hatte, war Onista zu sehen. „Hallo, mein Schatz, so früh schon wach?“ fragte Charrut und gähnte kurz hinter vorgehaltener Hand.

„Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe. Aber ich komme gerade vom Einsatz nach Hause und wollte nicht länger warten, bis wir uns wiedersehen“, sagte Onista, während sie verschmitzt in die Aufnahmeoptik lächelte.

„Kein Problem“ sagte Charrut noch müde.

„Können wir uns wieder treffen? Ist dein ‚Sondertraining‘ vorbei?“

Nickend bestätigte Charrut. „Ja, das ‚Sondertraining‘ habe ich erfolgreich absolviert, wenn mir auch noch alle Muskeln und Knochen wehtun. Aber dafür habe ich heute nach der Schulung, sozusagen als Belobigung für das erfolgreich absolvierte Sondertraining, eine Sonderausgangserlaubnis erhalten. Du weißt ja selbst, dass es diese sonst nur zu jedem zweiten Berlenpragende gibt. Hast du heute Nachmittag Zeit? Gegen 14 Vot ist der Unterricht vorbei und dann könnte ich zu dir kommen.“ Onistas Lächeln wurde breiter. „Ich freue mich schon lange darauf, wieder mit dir zusammen zu sein. Ich bin zuhause und den Zugangscode kennst du ja noch, oder?“

Auch Charrut grinste, während er antwortete: „Wie könnte ich ihn vergessen? Dann sehen wir uns später, Neentin.

„Bis später“ erwiderte sie lächelnd und winkte kurz in die Aufnahmeoptik, bevor sie die Verbindung unterbrach.

Als die Verbindung beendet wurde, erlosch das Positronik-Terminal. Trotz seiner Müdigkeit stand er auf und und sah sich selbst als Spiegelbild in der Zimmertür und stellte fest, dass sein Gesichtsausdruck genauso fröhlich wirkte wie der von Onista eben. Er schüttelte den Kopf und sagte sich selbst, dass er ein verliebter Narr sei.

An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Er beschloss, sich schon jetzt fertig zu machen und etwas früher als sonst in die Messe zu gehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass er heute mehr K‘amana benötigen würde als sonst…

* * *

Als Charrut am Nachmittag an Onistas Wohnung den Zugangscode eingab und die Tür sich öffnete, musste sie es gehört haben. Er schloss gerade die Eingangstür hinter sich, als sie aus dem Aufenthaltsraum gelaufen kam und ihm stürmisch in die Arme fiel. Leidenschaftlich küssten sie sich Palbertontalang und als sie von einander abließen, war Charruts Uniform-Jacke geöffnet und Onista zog Charrut mit einem verlockendem Blick und der Hand am Gürtel hinter sich her in Richtung Schlafzimmer…

* * *

Ungefähr eine halbe Tonta später saßen sie im Aufenthaltsraum und aßen gemeinsam zu Abend. Während des Essens sprachen sie über ihre Erlebnisse der letzten Berlenprags; von Charruts ‚Sondertraining‘ und die Prüfung durch Anowi Vrey und Onistas Einsatz in der Systemflotte. Onista erzählte, dass ihr Einsatz sie gerade einmal an die äußere Grenze des Harrekatam-Systems gebracht hatte und dessen Höhepunkt ein Trainingseinsatz war, bei dem es darum ging, ein auftauchendes feindliches Raumschiff zu verfolgen und zu stellen. Am Ende ihrer gegenseitigen Erzählungen sah Charrut Onista an und sagte: „Ich hatte im letzten Berlenprag zwischen den Trainingseinheiten etwas Zeit gehabt, über uns nachzudenken. Was hältst du davon, mit mir einmal nach Harkon, also zu mir nach Hause zu fliegen?“

Onista blickte Charrut erst überrascht an, dann stahl sich ein glückliches Lächeln auf ihr Gesicht.

„Ich hätte nicht geglaubt, dass du mich das jetzt schon fragst, aber ja, ich würde mich riesig freuen. Und hast du dir schon überlegt, wann?“

„Wir haben immer einige Pragos am Ende des Vothans frei, bevor es im Rahmen der Ausbildung in einen neuen Einsatz geht. Also müssten wir jetzt die kommenden Pragos freibekommen“

„Hmm, ich kann jetzt noch nicht fest zusagen. Ich muss erst mit meinem Vorgesetzten sprechen, ob er mir einige Pragos Urlaub gewährt! Wie viele Pragos müsste ich denn beantragen?“

Charrut überlegte kurz bevor er antwortete: „Nun, jeweils ein Prago hin und zurück und vielleicht drei Pragos Aufenthalt auf Harkon, also fünf Pragos.

Onista sah Charrut an und erwiderte: „Fünf Pragos! Ich glaube nicht, das ich fünf Pragos Urlaub erhalte. Aber ich werde es versuchen.“

Onista machte eine Pause und fragte dann: „Was wird dein Vater sagen? Ich bin nur eine Essoya, nur eine aus dem einfachen Volk. Wird er nicht dagegen sein?“

Charrut nickte leicht und erwiderte: „Vermutlich. Er wird einen Tobsuchtsanfall bekommen. Ich muss den richtigen Augenblick abpassen, es ihm sagen, wenn er in guter Stimmung ist“.

„Und wenn er trotzdem gegen unsere Beziehung ist?“

Charrut dachte nach, bevor er antwortete: „Er wird sich damit abfinden müssen! Ich bin nicht mehr der unerfahrene junge Mann von früher. Ich weiß, dass ich in meiner Jugend vieles Falsch gemacht habe, oft über die Stränge geschlagen habe. Aber die letzten Vothars hier auf der Faehrl haben mich verändert. Heute weiß ich, wo mein Platz ist, wo ich hin will, was ich erreichen will.“

Onista sah Charrut interessiert an und fragte: „Und was willst du erreichen?“

Charrut rang mit sich, ob er Onista es bereits jetzt sagen sollte. Es war sein Wunsch, sein Ziel, was er sich gesteckt hatte, dass er in seinem Leben erreichen wollte. Nach einigen Augenblicken sagte er: „Dafür ist es noch zu früh. Es muss dir momentan reichen, wenn ich sage, dass es was mit dem Thi Than zu tun hat. Aber was ich will…“ Charrut beugte sich vor, um seine linke Hand an Onistas rechte Wange zu legen, „…bist du, Neentai. Ich liebe dich!“

Onista stand auf, ging um den Tisch herum und setzte sich auf Charruts Knie.

„Ich liebe dich auch!“ flüsterte Onista dicht vor Charruts Gesicht. Langsam küssten sie sich, bis daraus Leidenschaft wurde…

* * *

Onistas Gesuch um fünf Pragos Urlaub war, um einen Prago reduziert, genehmigt worden. Sie hatten vereinbart, dass beide ihr Reisegepäck vom Gepäckservice des Raumhafens abholen lassen würden, während sich Charrut um die Flugbuchungen kümmern würde. Ihr Flug, mit Zwischenstopp auf Harkon, fand am 1. Prago to Dryhan statt.

* * *

32. Prago to Tarman to 14.598 da Ark

Ungestüm drang der Roboter vor. Mit einem Schwert in der einen Klaue griff er sie an, drängte sie immer weiter zurück. Trotz ihrer hervorragenden Kampftechnik mit dem Schwert spürte sie, dass ihre Kräfte nachließen, da der Kampf bereits einige Palbertontas andauerte.

Da empfing sie in ihrem Kopf überraschend ein Signal, das nur ihre Spezialpositronik aussenden konnte, was einen neuen Auftrag bedeutete.

„Halt! Pause!“ rief sie und der Trainingsroboter, mit dem sie gerade ihr tägliches Kampftraining absolvierte, hielt in seiner Bewegung inne. Sie unterbrach ihr Training und ging in Richtung Positronik, während sie sich gleichzeitig mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht wischte und ihre braunen nassgeschwitzten Haare nach hinten abwischte. Auf dem Weg zur Positronik kam sie an einer spiegelnden Verkleidung des Trainingsraums vorbei, blieb kurz davor stehen und betrachtete sich selbst. Von der aparten, jungen Bras’cooi, die Karriere machen wollte, war nicht mehr viel zu sehen. Sie war schlank, kräftiger gebaut als üblich bei weiblichen Bras‘cooi, hatte eine durchschnittliche Größe, braune, schulterlange Haare und dunkelgrüne Augen. Aber das tägliche Training machte sie jeden normalen Arki überlegen, sowohl in Kraft und Geschicklichkeit als auch in der Ausdauer. Viele kleine Narben an ihrem Körper zeugten von diversen Einsätzen. Sie schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und ging weiter den Flur entlang zum Zimmer, wo ihre Positronik stand. Als sie eintrat, druckte die Positronik gerade alle Informationen auf Folien aus. Sie nahm die Folien und überflog den Auftrag. ‚Eine Frau und ihr Kind‘ sollten auf Varynkor liquidiert werden. ‚Die Frau war eine Modedesignerin in Varynkor-Etset, 30 Tai-Votanii alt, das Kind vier Tai-Votanii. Das Kind lebte aber nicht bei der Frau, sondern bei einer Kinderfrau‘. Sie las weiter: 'Auftragserledigung innerhalb eines Votan; die Honorarvergütung betrug 450.000 Chronners, abzüglich 15% Vermittlungsgebühr. Und das ganze sollte wie ein Unfall aussehen.' Sie schürzte die Lippen. Wann würde endlich einmal ein Auftrag eingehen, wo sie selbst die Todesart bestimmen konnte? Sie „liebte“ es, jemanden beim Sterben in die Augen sehen zu können. Sie hatte dann immer das Gefühl, die Seele zu sehen, wenn sie den Körper verließ und die Augen brachen. Aber sie wischte gleich darauf den Gedanken zur Seite. Auftrag war Auftrag! Und sie hatte schon einige Zeit keinen Auftrag mehr erhalten. Es lag auch ein Bild der Frau vor, allerdings nicht von dem Kind. Und die Adressen, wo sie das Kind vorfinden würde wie auch die Privat- und Geschäftsadresse der Frau, einer gewissen Sidona Ferinei.

„Positronik, wie weit ist Varynkor entfernt und wie lange dauert ein Direktflug?“ fragte sie die Positronik.

„Entfernung beträgt 29.711 Lichtjahre. Zwei Pragos bei Flug der normalen Transitrouten“, erwiderte die Positronik.

Sie dachte nach. Heute war der 32. Prago to Tarman. Zwei Pragos Flug sowie ein Prago, um ihre Spuren zu verwischen. Außerdem noch einige Pragos Aufenthalt auf Varynkor, um sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen und alles vorzubereiten. Überschlagsmäßig kam sie auf nicht ganz einen Berlenprag, den sie einkalkulieren musste. Also hatte sie noch genügend Zeit.

Sie warf einen Blick auf den Kalender ihrer Vottan und sagte: „Positronik, reserviere mir auf Varynkor für den Dryhan 1 in der Nähe des Zivilraumhafens ein Hotelzimmer mittlerer Preisklasse unter dem Namen ‚Anyar Omnydan‘. Aufenthalt ein Berlenprag!“

„Reservierung wird gestartet“ antwortete die Positronik.

Während sie sich vom anstrengenden Training erholte und über den Auftrag nachdachte, warf sie einen Blick aus dem Fenster. Hier, auf diesen jungen, wilden, namenlosen Planeten hatte sie ihr Domizil aufgeschlagen. Neben ihrer Wohnkuppel stand ihre alte Privatjacht, alles durch einen Energieschirm geschützt. Keine 100 Quars weiter begann der Urwald. Sie überlegte, ob sie nicht später nochmals auf die Jagd gehen sollte, nur mit einem Vibratormesser sowie mit Pfeil und Bogen bewaffnet.

 

* * *

Dryhan 1 to 14.598 da Ark

Die kleine Privatjacht war im Landeanflug. Auch wenn das Raumschiff alt war und man die vielen Vothars an seiner zernarbten Oberfläche erkennen konnte, so war es doch ausgestattet mit modernster Technik. So war es ihr möglich, ohne Besatzung das Schiff zu steuern. Sie saß im einzigen Kontursessel in der Zentrale und beobachtete das Landemanöver. Für diesen Auftrag hatte sie ihr Aussehen verändert: sie sah jetzt aus wie jede gewöhnliche Arki, weiße, schulterlange Haare, rote Augen und bekleidet hatte sie sich nach dem derzeitigen Modetrend. Und sollte sie, aus welchen Gründen auch immer, genauer überprüft werden, so hatte sie eine entsprechende Vergangenheit vorzuweisen: als moderne Kunsthändlerin führte sie im Schiff diverse Kunst- und Gebrauchsmaterialien mit sich. Ihr letzter Einkauf, um die Illusion einer Kunsthändlerin aufrecht zu erhalten, hatte sie nach Zalit geführt. Dort war sie einem örtlichen Händler begegnet, der ihr verschiedenste Waren als Muster angeboten hatte, u.a. auch aufblasbare weibliche Plastikpuppen. Sie hatte innerlich den Kopf geschüttelt, als der Händler ihr diese Plastikpuppen feilbot. Wie krank musste ein Zaliti sein, der anstatt in diverse Etablissements zu gehen auf diese Plastikpuppen zurück zugreifen musste? Aber sie hatte sich nichts anmerken lassen und sich stattdessen verstärkt für die anderen Produkte interessiert.

Ihre Gedanken kehrten in die Vergangenheit zurück. Als junges Mädchen war sie nach langem Martyrium von Zuhause ausgerissen. Ihr versoffener Vater hatte sie fast jeden Prago verprügelt und ihre Mutter hatte aus Angst vor ihm stillgehalten und nichts unternommen. Mehrere Tai-Votanii zog sie so von Planet zu Planet, von System zu System. Um sich am Leben zu erhalten, hatte sie in der Anfangsphase ihren Körper verkauft, später hatte sie gelernt, bei Glücksspielen zu betrügen. Irgendwann lernte sie einen älteren Arki kennen, und mit ihm das Geschäft des Mordens. Er bildete sie aus, brachte ihr bei, wie man schnell und effizient tötete. Sie hatte die Ausbildung aufgesogen wie ein trockener Schwamm, bis sie einen Punkt erreichte, an dem er ihr nichts mehr neues beibringen konnte. Von da ab durfte sie in seinem Beisein Aufträge, die er erhielt, für ihn erledigen. Nach einigen Tai-Votanii hatte sie soviel Chronners zur Seite gelegt, das sie sich selbständig machen konnte. Mit den Kontakten, mit denen sie bei ihrem Ausbilder in Berührung kam, war es ihr ein leichtes, sich in der Gilde der Attentäter zu etablieren. Selbst ihren Ausbilder …

Ein Signal ihrer Bordpositronik riss sie aus ihren Gedanken und sie konzentrierte sich wieder auf das Landemanöver. Sie sah bereits den Raumhafen und kurze Zeit später landete das Schiff, exakt geleitet vom Leitstrahl. Nachdem sie alle Bordsysteme auf Standby geschaltet hatte, orderte sie per Funk ein Gleiter-Taxi, stand auf und ging zur Schleuse. Als sie in der Schleuse ankam, aktivierte sie die KSOL ihres Reisekoffers und die Antigravvorrichtung der Schleuse und ließ sich dann vom Antigravfeld ihres Schiffes zur Landefläche schweben, während der Reisekoffer ihr in einem gewissen Abstand folgte. Unten angekommen, sandte sie von ihrem Armbandkommunikator ein Signal und kurz darauf erlosch das Antigravfeld und die Schleuse schloss und versiegelte sich. Während sie das gerufene Gleiter-Taxi bestieg und sich in Richtung Raumhafenverwaltung fliegen ließ, folgte der Reisekoffer dem Gleiter-Taxi.

‚Der erste Schritt war getan‘‚ jetzt folgte der zweite‘. Und das bedeutete, ohne Probleme durch die Raumhafenkontrolle zu kommen. Ihre Informationen hatten ausgesagt, das Varynkor ein relativ unbedeutender Planet war mit wenig Raumschiffsverkehr, erst durch die Gründung einer Faehrl vor einigen Tai-Votanii, die vom Imperator protegiert wurde, hatte Varynkor innerhalb der imperialen Flottenverwaltung etwas an Bedeutung gewonnen. Sie vermutete daher, dass in der Raumhafenverwaltung keine Roboter die Einreise- und Zollbearbeitungen durchführten. Sie holte aus einer Tasche ihres Anzugs eine kleine Phiole und betrachtete diese. Der Geruch dieses Parfüms war extrem süß und fast alle Arkii, die es riechen würden, hatten das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Zwar würde der Geruch nur wenige Palbertontas anhalten, aber sie hoffte, dass sie so schneller „durchgewunken“ wurde, ohne dass viele Fragen gestellt wurden. Aus einer anderen Tasche holte sie eine Injektionspistole mit dem Gegenmittel für das Parfüm. ‚Verdammte Araii. Jede Kleinigkeit ließen sie sich teuer bezahlen, sowohl das Parfüm als auch das Gegenmittel waren ein Vermögen wert‘. Mit einem verärgerten Gesichtsausdruck injizierte sie sich das Gegenmittel. Als sie wenige Augenblicke später sah, dass das Gleiter-Taxi gleich vor der Raumhafenverwaltung landen würde, öffnete sie den Verschluss der Phiole und sprühte sich mit diesem Parfüm intensiv ein.

* * *

Nachdem Charrut und Onista die Rohrbahn am Zivilraumhafen von Varynkor-Etset verlassen hatten, schwebten sie in einem Antigravfeld bis zur Erdoberfläche hinauf und betraten anschließend das Zubringerlaufband. Unterwegs auf dem Laufband, konnten sie die diversen Raumschiffe aller Größenordnungen beim Starten und Landen beobachten. Einmal deutete Onista auf eine Privatjacht, die in weiter Entfernung auf dem Landefeld stand und fragte: „Habt Ihr auch solch eine Jacht?“

Charrut musste schmunzeln, sah sich die Jacht an und erwiderte: „Ich will nicht angeben, aber ja, mein Vater hat auch eine Privatjacht. Allerdings wesentlich moderner als diese hier und in einem besseren Zustand. Für Geschäftsbeziehungen ist es einfach unerlässlich. Und bevor du weiterfragst: die Sektorflotte von Elimor besteht aus über eintausenddreihundert Schiffen aller Größenordnungen.“

Hand in Hand sprangen Onista und Charrut mit einem leichten Schritt im zentralen Verteilerpunkt des Zivilraumhafens vom Zubringerlaufband. Hier führten in verschiedene Richtungen weitere Laufbänder zu den jeweiligen Andockbuchten der Raumschiffe.

„Weißt du, in welche Richtung wir gehen müssen?“ fragte Onista.

„Nein, nicht genau. Das Abflugfeld nach Harkon ändert sich ständig. Aber da drüben“ und Charrut zeigte auf eine Holoprojektion, „werden alle ankommende und abfliegende Schiffe angezeigt. Dort sollten wir die Informationen finden.“ Gemeinsam schlenderten sie zu der Holoprojektion und sahen sich die Abflugtermine an.
Während sie die Holoprojektion betrachteten, um ihr abfliegendes Schiff zu finden, stieg ein markant süßer, intensiver Parfümgeruch in Charruts Nase, als eine Frau dicht hinter ihnen beiden vorbei ging, gefolgt von einem Reisekoffer. Für einen Moment hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Charrut sah der Frau, einer Arki, kurz hinterher und wunderte sich, dass eine Frau solch eine aufdringliche Note bevorzugte. Innerlich schüttelte er den Kopf. Aber gleich darauf hatte er die Frau mit ihrem extrem süßlichen Parfüm vergessen, da Onista zu ihm sagte: „Das müsste das Schiff sein“. Er wandte sich wieder um, sah sich den Hinweis an, zu dem Onista auf dem Holoschirm deutete und erwiderte: „Ja, du hast Recht. Dann lass uns gehen!“

* * *

Onista und Charrut hatten vor wenigen Palbertontas das Passagierraumschiff auf dem Raumhafen Harkon-Etset verlassen und waren in ein Gleitertaxi gestiegen. Kaum hatte Charrut als Ziel den Harkon-Khasurn angegeben, schwang sich der Gleiter in die Lüfte. Onista schaute interessiert zur Stadt hinunter. Charrut erwähnte dazu: „Das ist unsere Hauptstadt Yephroth. Sie hat annähernd 18 Mio. Einwohner. Es gibt auf Harkon viele Kleinstädte, aber nur vier weitere Großstädte wie Yephroth. Das ganze Harkon-System bietet Lebensraum für rund 420 Millionen Arkii“.

Onista nickte zu Charruts Erklärung, beobachtete aber weiter die Stadt, über die der Kurs des Gleitertaxis führte. Kurz darauf ließen sie die Stadt hinter sich und nach einiger Zeit zeigte Charrut Ihr den Kelch des Harkon-Khasurns, der langsam am Horizont zu erkennen war.

Nach drei Palbertontas waren sie am Ziel. "Wie riesig Euer Khasurn ist", sagte Onista überrascht, als der Gleiter beim Landeanflug fast das komplette Gebäude umrundete.

"Ja, da hast du Recht.", erwiderte Charrut.

Der Gleiter landete auf dem Gleiterdeck und als sie ausstiegen, kam vom Antigrav-Schacht der Khasurn-Laktrote und einige Bedienstete. Der Khasurn-Laktrote war ein älterer Arki, dessen strengen Gesichtszüge und Bewegungen zeigten, dass er in seiner Funktion voll und ganz aufging.

"Zdhopandel. Erfreut, Euch und Eure Begleitung nach so langer Zeit wieder zuhause begrüßen zu dürfen", sagte Rhar Nyat und verneigte sich dabei formvollendet.

"Wir sind auch froh, nach langer Zeit wieder heim zukommen, wenn auch nur für kurze Zeit, Rhar. Mein Vater?" fragte Charrut.

"Zdhopandel , Euer Vater ist im Garten mit seinem Gast Onythia de'moas Chihan", erwiderte Rhar, verneigte sich zum Abschied und schritt dann zu den Bediensteten, die bereits dabei waren, das Reisegepäck aus dem Gepäckteil des Gleiters herauszuholen.

Charrut wusste, das Rhar sich persönlich um die Reisesachen von ihnen kümmern würde. "Komm!" sagte Charrut zu Onista, nahm sie bei der Hand und gemeinsam gingen sie auf den Antigrav-Schacht zu.

Als sie am Gartenbereich aus dem Antigrav-Schacht stiegen, kamen sein Vater Ultral und dessen Freundin Onythia de'moas Chihan aus dem Garten. Onythia war eine schlanke, reife Frau mit schulterlangen weißen Haaren und kam vom Larga-System, über 4.800 Lichtjahre von Harkon entfernt.

Onythia de Chihan

Charrut wusste, das sich auf Largamenia, Onythias Heimatwelt, eine der bedeutendsten Raumakademien neben IPRASA befand: GOSHBAR. Jedenfalls fand er es gut, das sein Vater nach so vielen Vothars endlich wieder jemand hatte, mit dem er scheinbar sein Leben teilen wollte. Charrut und sein Vater begrüßten sich durch Umarmung. Anschließend begrüßte Charrut auch Onythia de Chihan, die Freundin seines Vaters, um dann Onista vorzustellen: "Das ist Onista Ferinei. Onista kommt von Varynkor."

"Willkommen in unseren Khasurn, Onista", sagte sein Vater und nickte ihr zu. Auch Onythia lächelte ihr zu. "Ich schlage vor, wir essen jetzt, Ihr werdet sicher Hunger haben von der Reise", meinte Ultral del Harkon und dirigierte alle Anwesenden zum Essensraum.

Während des Essens sprachen sie über die letzten Ereignisse im Elimor-Sektor, wie die Ausbildung auf Varynkor verlief und was man so als Gerüchte und Tratsch von Tiga Ranton hörte. Charruts Vater, Ultral I., fragte beiläufig: „Und Sie, Onista, gehen Sie auch auf die Raumakademie Varynkor?“

Onista warf einen kurzen Blick zu Charrut, bevor sie antwortete: „Nein, ich lebe auf Varynkor. Ich arbeite dort in der Systemflotte.“

„Ah ja“, antwortete Ultral I. und Charrut konnte erkennen, dass sich hinter der Stirn seines Vater die Gedanken jagten. Es entstand eine kurze Pause.

Nach einer Weile stand Onythia auf und bot Onista an: „Kommen Sie, Onista. Ich zeige Ihnen kurz das Wichtigste vom Khasurn." Onista stand ebenfalls auf und gemeinsam verließen die beiden Frauen den Essensraum.

Nachdem die Frauen außer Hörreichweite waren, sprach Ultral seinen Sohn an: "In welcher Beziehung stehst Du zu dieser Frau, dieser Essoya?"

Charrut spürte, das jetzt die Entscheidung nahte und er Farbe bekennen musste.

"Wir lieben uns, und wir sind jetzt seit ungefähr vier Votanii miteinander liiert!" erwiderte er.

Ultral I. del'moas Harkon

Das Gesicht seines Vaters verlor den freundlichen Ausdruck, der Teint wechselte erst ins hellere und wurde dann dunkel. "WAS?" rief er. "Ich höre wohl nicht richtig. Bist Du verrückt? Das gab es noch nie. Ich.. ich.. Mir fehlen die Worte. Eine Essoya!!! Wie kannst Du es wagen, ohne meine Zustimmung solch eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht willst du Sie auch noch heiraten? Bist Du von allen Sternengöttern verlassen?" schrie sein Vater wütend und stand auf.

Das war jetzt auch für Charruts Gemüt zu viel. Er schob seinen Stuhl mit einem Ruck nach hinten, während er aufstand, so dass dieser nach hinten umfiel. Er beugte sich über den Tisch, stützte sich schwer auf und sagte: "ICH entscheide, wen ich liebe und ICH entscheide, wen ich heirate!" Charruts Worte waren zum Schluss auch laut geworden. Beide standen sich Angesicht zu Angesicht am Tisch gegenüber und starrten sich an.

"Abgesprochene Ehen sind im Adel Tradition und daran wirst Du Dich halten! Als mein Sohn und zukünftiges Khasurnoberhaupt wirst Du tun, was ich für richtig halte und meine Entscheidungen akzeptieren. Ich hatte wirklich gehofft, dass Du auf der Akademie erwachsen wirst und dort lernst, der Realität ins Auge zu sehen!"

"DU kannst nur für Dich entscheiden, aber für mich entscheide immer noch ich selbst. Und ich werde meinen Weg gehen, ob es Dir gefällt oder nicht", erwiderte Charrut vehement. Sein Vater wollte etwas erwidern, als Charrut vor Zorn seine rechte Hand zur Faust ballte, sie auf den Tisch schlug und erregt sagte: "Kein Wort mehr. Meine Entscheidung ist gefallen!"
Einen Augenblick herrschte Totenstille zwischen den Männern, man hörte nur ihr erregtes Atmen. Erst jetzt bemerkten Vater und Sohn, dass die beiden Frauen zurückgekehrt waren und wohl teilweise den heftigen Disput mit angehört haben mussten. Charrut richtete sich auf, sah von seinem Vater zu Onythia und dann zu Onista, drehte sich um und ging in Richtung Antigrav-Schacht davon. Mit einer zornigen Bewegung seines Arms fegte er am Ausgang eine auf einer Vitrine stehende Vase mit einem lauten Fluch gegen die nächste Wand. Die Vase zersprang mit einem lauten Klirren in tausend kleine Stücke. Ein herbeieilender Bediensteter, der den Lärm, der an der Wand zerplatzenden Vase gehört hatte, wich Charrut aus, der mit einem erregten, wütenden Blick an ihm vorbei stapfte.

Onista, die nur den letzten Teil des Streits zwischen Charrut und seinem Vater zusammen mit Onythia mitbekommen hatte, nickte Onythia zu und ging hinter Charrut her, ohne ein Wort zu sagen.

Nachdem sie außer Hörweite war, wandte sich Onythia erzürnt an Ultral: "Wie konntest Du es nur so eskalieren lassen?"

"Ach, ein Wort gab das andere", erwiderte Ultral noch etwas erregt.

"Du hast Ihn vor dem Kopf gestoßen, Ihm keine Möglichkeit gegeben, seinen Standpunkt zu überdenken oder darzulegen!" erwiderte Onythia.

"Er wird wieder zur Vernunft kommen. Er wird einsehen, dass ich Recht habe."

Onythia schüttelte den Kopf und sagte: "Das glaube ich nicht. Er ist genauso wie Du ein Dickkopf! Außerdem, was denkst Du, wird ihm jetzt durch den Kopf gehen? Im Eyilon des letzten Tai-Votan hat er unser Leben gerettet, seines riskiert und das einzige, was er erwarten durfte, war etwas Verständnis. Aber Du kommst gleich mit Traditionen daher. Ist unsere 'Liebe' auch nur traditionsgemäß, weil ich eine 'de Chihan' bin?"

Ultral schaute Onythia verwirrt und nachdenklich an, bevor er antwortete: „Das ist hier ganz etwas anderes. Hier geht es darum, dass es Regeln, Kodexe und Protokolle gibt. Und eine der Regeln ist und bleibt der Gehorsam. Gehorsam gegenüber dem Khasurnoberhaupt, Gehorsam seinem Vater gegenüber. Wenn ich mich schon nicht mehr auf meinen eigenen Sohn verlassen kann, wie soll es dann erst Recht im Khasurn funktionieren? Wie im Reich?“

„Du vergisst dabei eins: ER ist DEIN Sohn. Er kann und darf von dir Milde erwarten. Nur wenn ihr beide aufeinander zugeht, Verständnis für den anderen zeigt, werdet ihr zusammen leben können. Und aus dem Khasurn jagen willst du ihn doch nicht, oder?“ Nach wenigen Palsartontas fügte sie hinzu: "Ich werde jetzt mit Charrut sprechen!" Dann verließ sie den Raum. Zurück blieb ein nachdenklicher Ultral.

* * *

Währenddessen war Onista am Wohntrakt angekommen. Sie öffnete das Schott und trat ein. An der Fensterfront zum Park im Kelch stand Charrut und seine Haltung deutete darauf hin, dass er immer noch etwas erregt war; seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er schlug damit gegen die Glaswand. Onista ging zu ihm, umarmte ihn von hinten, schmiegte sich an ihn und sagte leise: "Ich wusste, dass so etwas kommen würde: ein Adeliger und eine Essoya, das kann nicht gut gehen."

Charrut befreite sich sanft aus Onistas Umarmung, drehte sich um und erwiderte: "ICH habe mich entschieden! Für dich! Denkst du wirklich, dass ich wegen dem Ärger mit meinem Vater zu unserer Liebe wankelmütig werde? Zweifel habe? Ich hoffe nicht, dass du das glaubst!"

Bevor Onista antworten konnte, ertönte vom Eingangsschott ein melodisches Klingelsignal. Charrut stöhnte leicht auf. Als er keine Anstalten machte, auf das Signal zu reagieren, ging Onista zum Schott und öffnete es. Vor dem Eingang stand Onythia.

"Es tut mir leid, wenn ich Euch störe, aber ich würde gerne mit Charrut reden. Alleine." Onista drehte sich zu Charrut um, sah ihn an, drehte sich wieder zu Onythia um und sagte: "Ich gehe im Park spazieren" und verließ den Wohntrakt.

Nachdem Onythia eingetreten war, ging sie zur Couch im Aufenthaltsraum und setze sich. Sie deutete auf den Platz neben sich und sagte: "Charrut, setzen Sie sich zur mir. Bitte." Charrut überlegte kurz, ob er dem Wunsch Onythias nachgeben sollte, aber dann setzte er sich zu ihr.

"Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen weniger positiven Umständen näher kennenlernen. Aber manchmal kann Euer Vater ein ziemlicher Dickkopf sein. Und er ist ziemlich traditionsbewusst. Das hättet Ihr in Bezug auf Onista einkalkulieren müssen." Sie machte eine kurze Pause und fuhr fort. "Natürlich hat es Euren Vater getroffen, dass Ihr mit einer Essoya liiert seit."

Charrut erwiderte: "Ich wusste, wie er reagieren würde. Alle Freundinnen, die ich früher hatte, hat er vergrault. An keiner ließ er ein gutes Haar, keine war Ihm gut genug. Aber damit ist jetzt Schluss. Das ist meine Entscheidung, und die ist unumstößlich. Entweder akzeptiert mein Vater Onista oder er muss mit der Entscheidung leben, die ich dann treffen werde. Bis hierher und nicht weiter! Ich bin nicht mehr der unerfahrene junge Mann von früher, als ich zur Akademie aufbrach. Das scheint mein Vater noch nicht bemerkt zu haben." Charruts Stimme war zum Schluss immer heftiger, immer lauter geworden, noch immer schwang die Verärgerung des Disputs mit seinem Vater in seiner Stimme mit. Für einen Augenblick war es still im Aufenthaltsraum, bis Charrut mit ruhiger Stimme sagte: "Verzeiht mir, Onythia. Ich habe mich gehen lassen. Ich bitte Euch um Entschuldigung!"

"Ihr seid noch jung, Charrut. Vergesst es nicht. Euch steht noch das ganze Leben offen, Dinge zu tun, die Ihr tun wollt", sagte Onythia.

Charrut schüttelte den Kopf und erwiderte: "Onythia, kennt Ihr unsere Geschichte, unsere Schmach? Als ich mich vor vier Tai-Votanii für die Akademie entschied, wusste ich nicht, warum. Es war wie ein innerer Drang, der mich dazu zwang. Heute weiß ich es. Seit einem Votansar hat sich kein 'del Harkon' mehr gegen das Los, den der Khasurn einst erlitten hat, aufgelehnt. Ich werde es ändern, so fern mir Arkons Götter beistehen. Und was das ganze Leben angeht: die Einsätze, die wir in unserer Ausbildung haben, sind oftmals riskant, und ich habe schon Freunde in Einsätzen verloren und sie begraben. Ihr seht, 'mein ganzes Leben' könnte eine sehr kurz bemessene Zeit sein. Schon morgen könnte ich mich auf den Weg zu den She'Huhanii befinden. Und ich habe nur dieses eine Leben. Und das will ich leben – gemeinsam mit Onista! Das ist mein Leben und es ist meine Entscheidung."

Es herrschte ein kurzer Augenblick der Stille, bis Onythia aufstand und erwiderte: "Ich werde mit Eurem Vater reden". Sie ging zum Eingangsschott, öffnete es und verließ den Wohntrakt.

Nachdem Onythia den Wohnbereich verlassen hatte, lehnte sich Charrut auf der Couch zurück und schloss die Augen. Er musste sich erst einmal beruhigen, Abstand gewinnen, damit er klare Gedanken fassen konnte.

* * *

Als Onythia wieder in den Essensraum kam, saß Charruts Vater noch immer dort, trank Kerisu. Er blickte zu Onythia auf, die an ihn herangetreten war und fragte: "Und?"

Onythia schüttelte den Kopf und erwiderte: "Onista, oder…"

"Was meinst Du mit 'oder'?"

"Nun, er ist fest entschlossen. Entweder akzeptierst Du Sie… oder er zieht die Konsequenzen. Er überlässt Dir die Entscheidung. Und so, wie er sich ausgedrückt hat, ist er zu allem bereit."

„Ich lasse mich nicht erpressen, und schon gar nicht von meinem eigenem Sohn!“ brach es zornig aus Ultral hervor. Er schlug mit der Hand auf den Tisch, stand auf und ging aus dem Essensraum. Zurück blieb Onythia, die sich langsam an den Tisch setzte und den Kopf schüttelte vor so viel Dickköpfigkeit von beiden Seiten.

* * *

Nach dem Essen sprach Onythia Charrut an: "Charrut, ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt, dass Ihr im letzten Eyilon das Leben von Eurem Vater und mir gerettet habt und Euch dafür in äußerste Lebensgefahr gebracht hattet. Ich hoffe, Ihre Verletzungen, die Sie davon getragen haben, sind verheilt"

"Sie müssen mir nicht danken, Onythia. Es ging schließlich um die Ehre des Khasurns. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn meine Familie dabei zu Schaden gekommen wäre. Ich musste einfach handeln.“

Auf Onythias Gesicht erschien ein Lächeln, als sie erwiderte: „Ich danke Euch, das Ihr mich mit in Eure Familie aufgenommen habt“ und warf dabei einen anerkennenden Blick zu Ultral.

Onistas Augen wurden während dieses kurzen Gesprächs immer größer und der Blick, mit dem sie Charrut dabei ansah, sagte, dass sie wütend war.

Onythia war der Blick nicht entgangen und ihr Gespür sagte ihr, dass sich zwischen Onista und Charrut Ärger anbahnte. Darum sprach sie Onista an: "Onista, wir kennen uns noch nicht. Begleiten Sie mich ein Stück?" und stand auf. Mit einem vorwurfsvollen Blick auf Charrut gerichtet, stand auch Onista auf und sagte: "Gerne." Gemeinsam verließen sie den Essensraum in Richtung Khasurnpark.

Nachdem die Frauen fortgegangen waren, saßen Charrut und sein Vater einen Moment still am Tisch. Ultral beobachtete seinen Sohn, der nachdenklich in sich gekehrt auf die Tischplatte blickte.

* * *

Onythia und Onista erreichten den Khasurnpark und wanderten nebeneinander durch die reichhaltige Botanik, "Seien Sie Charrut nicht böse, meine Liebe. Er hat nur das getan, was er für richtig und notwendig hielt", sagte Onythia zu Onista.

"Er hätte es mir sagen müssen", beharrte Onista. „Er sagte nur etwas von 'Familienangelegenheiten', die geklärt werden mussten!“

Onythia konnte Onistas Ärger verstehen. Sie wusste nicht, warum Charrut Onista nicht eingeweiht hatte, aber sie vermutete, dass er dafür seine Gründe hatte. Vielleicht würde sie jetzt einen Fehler begehen, aber sie entschloss sich, Onista von den damaligen Vorkommnissen zu berichten "Charruts Vater wollte im Suhenu-System eine routinemäßige Inspektion machen und mir anschließend den Planeten zeigen, als wir von dem dortigen Tato entführt wurden. Jedenfalls wurden wir einige Pragos später von Charrut und einigen Arbtans befreit. Ich weiß leider auch nicht alles, jedenfalls gab es eine Raumschlacht und im Duell Charrut gegen den Tato konnte Charrut den Tato töten, aber durch eine Explosion wurde er verletzt und lag einige Pragos im Medikcenter. Viele Arkii sind dabei gestorben, um uns zu befreien. Seitdem sind die Sicherheitsvorkehrungen im gesamten Elimor-Sektor verschärft worden. Ich habe sogar gehört, dass der damalige Vorfall hier auf Harkon als ‚Testfall Elimor-Sektor‘ in die Analen des Khasurns eingegangen ist.“

Onythia machte eine kleine Pause, um Onista Zeit zu geben, das Gehörte zu verarbeiten. „Und um an den Punkt von vorhin anzuknüpfen: Charrut als zukünftiges Khasurnoberhaupt und letzter männliche Nachkomme der 'del Harkon' konnte gar nicht anders als so zu handeln Vergessen Sie nicht, dass er aristokratischer Herkunft ist. Im Adel gibt es eigene Regeln, eigene Kodexe. Er ist das Resultat seiner Erziehung, mehr nicht."

"Trotzdem", erwiderte Onista schon wieder etwas besänftigt. Onista bewunderte die ruhige, bestimmte Art, mit der Onythia redete. Sie spürte, dass aus ihr die votharlange Umgebung des Adels sprach.

"Übrigens, Sie tragen einen recht interessanten Anzug. Ist das jetzt die neueste Mode auf Varynkor?" fragte Onythia und betrachtete Onista von oben bis unten.

"Nein, nicht wirklich, vielleicht wird sie es. Meine Schwester Sidona entwirft Freizeitkleidung, und bevor die Modelle vorgestellt werden, trage ich Ihre Entwürfe zur Probe."
"Jedenfalls wirkt der Anzug sehr provozierend. Ich vermute, das ist beabsichtigt?" fragte Onythia.

Onista lachte kurz auf und erwiderte: "Einen Prago, bevor Charrut und ich uns richtig kennengelernt haben, bekam ich diesen Anzug von meiner Schwester. Als Charrut dann den Anzug sah, hat er ihm besonders gefallen und so habe ich ihn behalten."

"Wie haben sie sich denn kennengelernt?" fragte Onythia und deutete auf eine Bank, die am Rand des Weges stand. Nachdem sie sich gesetzt hatten, sagte Onista: "Er war im letzten Vothari mein befehlshabender Offizier an Bord einer LEKA-Disk. Er hat mir insofern imponiert, als dass er sich, verzeiht, wenn ich offen bin, nicht wie viele andere Adelige überheblich und herablassend gab. Ende Tartor des letzten Tai-Votan trafen wir uns rein zufällig in einer Trinkhalle und dort versuchte er dann, mich unter den Tisch zu trinken. Aber da hatte er sich die Falsche ausgesucht", entgegnete Onista und musste bei den letzten Worten grinsen.

"Dann haben sie sich noch gar nicht gekannt, als er Ultrals und mein Leben gerettet hat", stellte Onythia fest.

Einige Augenblicke herrschte Stille zwischen den Frauen und nur die Balzrufe der Ebitii und das Plätschern des kleinen Wasserlaufs, der sich zwischen Büschen und Bäumen nahe der Sitzbank hindurch schlängelte, waren zu hören.

"Darf ich Sie etwas persönliches Fragen?" fragte Onythia und blickte Onista direkt an.

"Sicher" entgegnete Onista.

"Ich erwähnte vorhin die Regeln und Kodexe, die im Adel allgegenwärtig sind. Das betrifft nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen im Adel. Charruts Mutter war z.B. verantwortlich für das Harkon-System. Wären SIE dazu bereit? Dazu bereit, Ihren jetzigen Beruf aufzugeben, Varynkor zu verlassen, sich um den Khasurn zu kümmern, ihn nach innen wie nach außen zu vertreten? Sich mit Politikern, Interessenverbänden und Bittstellern auseinander zusetzen?"

Onista saß still da und dachte über die Worte von Onythia nach. Nach einer Zehnteltonta blickte sie Onythia an und sagte: "Ja, dazu wäre ich bereit. Ich würde für Charrut mein bisheriges Leben aufgeben und ein neues beginnen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben".

* * *

Nachdem Onythia und Onista den Essensraum verlassen hatten, herrschte am Essenstisch einige Augenblicke Stille, in der Ultral I. seinen Sohn beobachtete, der nachdenklich am Tisch saß.

‚Ich hätte es ihr längst erzählen sollen, Zeit genug hatte ich‘ ging es Charrut selbstkritisch durch den Kopf. ‚Jetzt habe ich wieder ein Problem mehr, was ich lösen muss.‘

Ultral trank einen Schluck K'amana und sprach dann seinen Sohn an: "Was lernst Du daraus?"

Charrut fuhr sich mit den Händen durch sein Haar und erwiderte: "Keine Geheimnisse zu haben, jedenfalls nicht vor der Person, die man liebt".

* * *

Charrut wachte mitten in der Nacht auf. Er überlegte, was ihn geweckt haben mochte. Ein Geräusch? Magenknurren, weil er vielleicht zu wenig gegessen hatte? Er kam nicht darauf. Nach einigen Palsartontas entschied er sich, aufzustehen.

Vorsichtig, um nicht Onista zu wecken, stand er auf und ging leise in den Aufenthaltsraum. Dort zog er sich ein tunikenähnliches Gewand an. Er regelte die Beleuchtung im Aufenthaltsraum auf das minimalste herunter, nahm sich ein Glas Wenas aus der Harkon-Region Uwita und setzte sich in einen bequemen Sessel. Nach einigen Palbertontas und nachdem das Wenasglas fast geleert war, stellte er fest, dass sich seine Gedanken immer wieder um einige Punkte drehten: Was würde er machen, wenn er die Ausbildung an der Akademie bestanden haben würde? Würde er in der Imperialen Flotte bleiben oder zurückkehren nach Harkon? Und, könnte Onista die Anforderungen bestehen, die an eine Frau eines Khasurnoberhaupt gestellt wurden? Konnte Sie letztendlich SEINE Anforderungen erfüllen? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass ihn die Ausbildung, einmal abgesehen vom Drill, den militärischen Gepflogenheiten und das Anwenden erlernten Wissens wie Waffen- und andere Militärkenntnisse eines gebracht hatte: er war erwachsen und reifer geworden.

Der Tod seines Bruders hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er hatte damals zu nichts mehr Lust gehabt und sich um den Khasurn zu kümmern erst recht nicht, wohl weil sein Bruder sich schon früh für den Khasurn interessiert hatte.

Er war viel im Elimor-Sektor unterwegs gewesen, war hier und dort auf Veranstaltungen gewesen, hatte seinen Status ausgenutzt und Geld versprochen, was er nicht besaß. Sein Vater war dann immer wieder eingesprungen. Sein Vater und er hatten dann immer wieder heftige Auseinandersetzungen, aber reden konnten sein Vater und er nicht miteinander. Seine Schwester Chamah‘ney hatte am Anfang sich immer schützend vor ihm gestellt und gehofft, er würde sich ändern, aber er machte weiter so wie bisher. Irgendwann zog sie sich dann von ihm zurück, nachdem er sich nicht änderte.

Mit einem inneren Seufzer trank er den letzten Rest des Glases und resümierte, dass seine Taten und sein Verhalten von früher wohl seiner jugendlichen Unreife zuzuschreiben war. Er stand auf, goss sich ein zweites Glas Wenas ein und setzte sich wieder.

Wenn er nach der Ausbildung nach Harkon zurückkehren würde, was dann? Sein Vater war noch nicht in dem Alter, wo man sich als Khasurnoberhaupt zurückziehen und dem Nachfolger als Berater zur Seite stehen würde. In der Imperialen Flotte bleiben? Es dürstete ihn nicht nach Auszeichnungen und Orden, vielmehr reizten ihn die gefährlichen Abenteuer und Einsätze. Die Auszeichnungen empfand er nur als Bestätigung dafür, dass er sich erfolgreich für das Reich engagierte. Aber es gab etwas, was er am ersten Prago auf der Akademie in seinem Zimmer gelesen hatte, direkt unter dem Bild des Imperators: 'Ehre, Werte, Tradition, Integrität, Disziplin!'. Darüber hatte er oft in seiner Freizeit nachgedacht. Dafür würde er in der Flotte bleiben, denn die letzten Votanii an der Akademie und der Vorfall im Elimor-Sektor Anfang diesen Vothars hatten ihn eines gelehrt: der eigentliche Feind kam von innen. Für ihn war es unvorstellbar, das Erschaffene nicht zu beschützen, zu wahren, fortzuentwickeln. Und der Tato, den er getötet hatte, hatte es ihm mit seinem letzten Atemzug angedroht: 'Es wird ein Sturm kommen, der Euch und Euresgleichen hinwegfegen wird …'

Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Nein, er würde in der Imperialen Flotte bleiben! Dort konnte er sich am besten und am ehesten einbringen, in der ersten Reihe stehend. Und wenn der Ruf kommen sollte, dass er Khasurnoberhaupt werden sollte, konnte er immer noch vom Elimor-Sektor aus etwas beitragen.

Und Onista? Würde Sie es schaffen? Sie hatte nie die khasurninterne 'Ausbildung' erhalten, die die Frauen der Adeligen erhielten: den Umgang mit anderen Adeligen, die ungeschriebenen Gesetze beachtend, die nicht auf dem Papier definierten Regeln einhaltend? Würde Sie auf Ihn warten können, falls sie heiraten sollten, während er irgendwo in Debara Hamtar im Einsatz war? Vielleicht mehrere Votanii nicht heimkommen konnte? Und, war sie die Frau, wie er sie sich wünschte? Frau, Gefährtin, rechte Hand, an seiner Seite stehend, ihm den Rücken freihaltend? Viele Punkte würde er sofort mit 'Ja' beantworten, aber trotzdem musste er mit Onista reden. Er konnte es nicht direkt in Worte fassen, aber für ihn gab es so etwas wie Seelenverwandtschaft. Und die hatte er bereits damals an Bord der LEKA zwischen ihnen gespürt, und erst recht, als sie sich kennengelernt hatten. Er wäre sonst nie so schnell bereit gewesen, eine neue Beziehung nach Auris einzugehen. Ganz kurz tauchte vor seinem geistigen Auge Auris auf, aber mit einer Handbewegung über sein Gesicht wischte er den Gedanken fort: vorbei, Vergangenheit, ein anderes Leben…

Er blickte in sein Glas und wollte gerade den letzten Schluck trinken, als er sie sah: sie stand an der Ecke des Aufenthaltsraum angelehnt und beobachtete ihn.

Langsam kam sie auf ihn zu und fragte: "Du siehst so nachdenklich aus. Schwerwiegende Gedanken?"

Charrut machte eine zustimmende Geste mit der Hand.

Sie setzte sich auf seine Knie, nahm sein Glas Wenas und trank den letzten Schluck aus, und sagte. "Erzähle!"

Charrut schaute sie einige Augenblicke an und erzählte ihr dann von seinen Gedankengängen, die ihm erst wenige Paltortontas vorher durch den Kopf gegangen waren.

Als er geendet hatte, herrschte erst einmal Stille im Aufenthaltsraum, bis Onista von Charruts Knie aufstand, ihn an seiner Hand in Richtung Bett zog und sie sich hinlegten. Onista lehnte sich an Charrut an und sagte: "So etwas ähnliches hat mich Onythia heute Mittag auch gefragt, und weist Du, was ich geantwortet habe? – Ja!"

* * *

Nachdem Charrut kurz mit Onythia gesprochen hatte, kehrte er in den Wohntrakt zurück. Onista war gerade dabei, sich etwas aus ihren Reisesachen zum Anziehen heraus zu suchen, als Charrut eintrat.

Onista fragte: "Was machen wir heute?"

"Heute habe ich leider wenig Zeit. Ich muss mit Vater und unserem Sicherheitschef über einige sicherheitspolitische Aspekte reden und vorher habe ich noch ein persönliches Gespräch mit meinem Vater, was die wirtschaftliche Planung des Elimor-Sektors betrifft".

Onista machte ein enttäuschtes Gesicht und sagte: "Mit anderen Worten: ich sitze hier alleine herum?"

"Nein. Ich habe mir erlaubt, mit Onythia zu reden. Sie lässt Dich in…" Charrut warf einen Blick auf sein Vot und fuhr fort: "…fünf Palbertontas abholen. Ihr werdet nach Yephroth fliegen und Euch einen angenehmen Prago machen." Charrut nahm Onista in den Arm und sagte: "Aber der morgige Prago ist nur für uns. Und wenn Du nichts dagegen einzuwenden hast, zeige ich Dir den Gebirgssee, wo ich früher gerne baden ging. Wenn Du keinen Badeanzug hast…" und auf Charruts Gesicht erschien ein unverschämtes Grinsen, „..macht das gar nichts, wir brauchen keinen in diesem Gebirgssee." Sie küssten sich leidenschaftlich, bevor Charrut ging. Als er schon fast aus dem Raum hinausgegangen war, drehte er sich nochmals um und sagte: "Und falls du doch einen Badeanzug mitnehmen willst, die Kosten übernehme ich", drehte sich um und ging.

Nach annähernd fünf Palbertontas ertönte wieder das melodisches Klingelsignal. Onista ging zum Schott und öffnete es. Davor stand ein Bediensteter.

Er verneigte sich vor Onista und sagte: "Zdhopan, ich soll Euch zum Gleiterdeck geleiten. Sie werden dort von Onythia de'moas Chihan erwartet!"

Onista nickte und folgte ihm. Kurze Zeit später erreichten sie das Gleiterdeck. Der Bedienstete blieb am Antigrav-Schacht stehen und deutete auf einen Mehrpersonengleiter mit den Insignien des Harkon-Khasurns. Davor stand Onythia sowie vier Arbtans, die Haltung angenommen hatten.

Onista ging auf Onythia zu. Als sie bei ihr war, begrüßten sie sich und Onista fragte: "Warum sind die Arbtans hier?"

Onythia erwiderte: "Seit der Entführung im Eyilon sind die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. Sie werden uns begleiten und sind unsere Leibgarde. Aber genug davon. Lass uns nach Yephroth-Etset aufbrechen und was Interessantes für Dich einkaufen". Dabei lächelte sie wissend und beide Frauen stiegen in den Gleiter, der kurz darauf startete.

* * *

Charrut traf sich zur selben Zeit mit seinem Vater in dessen Verwaltungsbüro. Das Büro seines Vaters war ähnlich opulent eingerichtet wie das Büro von Antor Agh'len Kolamir, worin er im Eyilon gerufen worden war. Aber sein Geschmack war es nicht, zu viele persönliche Dinge waren hier vorhanden, er bevorzugte eine mehr sachlichere Umgebung.

"Setz Dich und erzähle, was Du Dir überlegt hast. Du hast angedeutet, dass wir unsere wirtschaftliche Beziehung zu den Mehandor überdenken sollten. Was willst Du denn überdenken, und wie? Die Mehandor haben per Imperator-Dekret das Handelsmonopol im Tai Ark'Tussan! Wir können nur insofern Einfluss nehmen, dass wir wie viele andere Khasurns auch, die Handelsrechte zeitlich begrenzt vergeben und uns immer wieder neue Angebote einholen", sagte Ultral und blickte Charrut auffordernd an, darauf zu antworten.

Charrut sagte: "Stimmst Du mir zu, das freundschaftliche Beziehungen zu einem Handelspartner besser sind als eine reine sachliche Beziehung?"

"Natürlich" stimmte sein Vater nickend zu. "Aber worauf willst Du hinaus?"

"Zu meinem Geburtstag amm Ansoor 17 werden zwei Freunde von mir kommen, und wenn ich sage Freunde, dann meine ich Freunde. Der eine ist Kerasor nert Tamanar. Mit dem Khasurn Tamanar scheint es verwandtschaftliche Beziehungen zu geben." Sein Vater nickte ihm zu. "Und der andere Freund ist Tranthar pas Tramethlar. Er ist der Sohn eines Mehandor-Patriarchen und hat dort dieselbe Stellung wie ich bei uns. Und die Flotte der Sippe Tramethlar umfasst annähernd 200 Schiffe, also nicht gerade eine unbedeutende Sippe."

Charrut legte eine wohldurchdachte Pause ein und fuhr dann fort: "Du erinnerst Dich doch an die Rebellenorganisation TDA?"

Ultral Gesichtszüge verhärteten sich, als er antwortete: "Natürlich. Wie könnte ich das vergessen!"

"Es ist sehr wahrscheinlich, dass die TdA nicht nur in unserem Sternensektor, sondern auch auf Welten in Thantur-Lok im Untergrund aktiv ist. Der Elimor-Sektor liegt nur 45 Lichtjahre von Tiga Ranton entfernt. Es könnte, die Sternengötter mögen uns davor bewahren, der Ernstfall eintreten und Arkon Unterstützung benötigt. Für uns würde das bedeuten, dass wir Teile unserer Heimatflotte der Imperialen Flotte zur Verfügung stellen müssen. Wir werden, denke ich, nicht umhinkommen, über kurz oder lang mehr in den Ausbau unserer Flotte zu investieren. Davon sind nicht nur Neubauten, Mannschaften, Sold usw. betroffen, sondern auch die Infrastruktur des Militärs. Wir haben aber nur begrenzte Mittel zur Verfügung. Und vor diesem Hintergrund habe ich mir folgenden Plan ausgedacht: im Tartor laufen die Handelsrechte der Mehandor im Elimor-Sektor aus. Was hältst Du von der Idee, Tranthar bzw. seinem Vater anzubieten, für, sagen wir einmal fünf Tai-Votanii, ein exklusives Handelsrecht im Elimor-Sektor zu erhalten, und zwar zu günstigeren Konditionen als sie momentan ausgehandelt sind. Als Gegenleistung müssen sie uns Zugriff auf ihre Werften und Reparaturschiffe geben, zu entsprechend reduzierten Kosten!"

Charrut holte seine faltbare KSOL hervor und sagte: "Ich habe mir einige Zahlen von den entsprechenden Ressorts besorgt und einmal grob durchkalkuliert. Unterm Strich würden beide Parteien davon profitieren, die Tramethlar-Sippe etwas mehr als wir. Aber wir hätten fünf Tai-Votanii Zeit! Ich möchte, dass Du Dir das Ganze einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lässt und mir dann bescheid gibst."

Ultral schaute seinen Sohn nachdenklich an und erwiderte: "Es freut mich, das Du zum Khasurn gefunden hast. Ich werde Deine Daten analysieren und sage Dir morgen bescheid."

Nachdem Charrut keine Anstalten machte, zu gehen, sah ihn sein Vater an und fragte: "Noch etwas?"

Charrut zögerte einen Augenblick. "Nein, das hat Zeit für später." Er stand auf, während er das sagte, nickte seinem Vater zu und verließ dessen Büro.

* * *

3. Prago to Dryhan 14.598 da Ark

Charrut wachte langsam auf. Vorsichtig richtete er sich auf, um Onista neben sich nicht zu wecken. Mit leisen Schritten ging er zur Fensterfront und verringerte die Abschirmung, so dass er in das Khasurninnere blicken konnte. Über die Begrenzung des Khasurns ganz oben brach gerade die Sonne Yeta hervor, so dass der Innenbereich des Khasurns langsam in das strahlende Licht der gelben Sonne eingetaucht wurde. Schräg unten sah er im Park, den sein Vater so liebte, einige Ebitis ihr Vogelkleid aufplustern. Nicht allzu weit entfernt davon liefen Bedienstete des Khasurns geschäftig hin und her und stellten Tische und Stühle auf und dekorierten sie. Er wollte sich gerade umdrehen, um in die Hygienekabine zu gehen, als er von hinten umarmt wurde.

"Guten Morgen, mein Schatz", sagte Onista noch etwas verschlafen.

Charrut drehte sich langsam um und erwiderte: "Guten Morgen, Neentin" und küsste Onista. "Habe ich dich geweckt?" fragte er.

"Nein, nicht direkt. Ich habe gespürt, dass du nicht mehr neben mir liegst und bin wachgeworden."

Charruts Magen knurrte leicht.

"Lass uns in die Hygienekabine gehen und anschließend frühstücken", meinte er und zog Onista mit sich in Richtung Hygienekabine.

* * *

Der Tag der Abreise war gekommen. Als sie fünf Palbertonta später zur 2. Tonta in den Essensraum kamen, saßen dort bereits Onythia und sein Vater und aßen. Sie grüßten, nahmen Platz und bestellten sich bei den Bediensteten heißes Gebäck und K'amana.

Als sie mit dem Frühstück fertig waren, klatschte Onythia kurz mit ihren Händen und kurz darauf kam ein Bediensteter und brachte Charrut eine kleine, edel aussehende Holzschatulle. Charrut schaute Onythia überrascht an. Onythia lächelte und sagte: "Ich weiß, welche Hobbies Sie pflegen, und dieses Geschenk von mir soll Sie daran erinnern, besser auf sich aufzupassen."

Charrut neigte leicht den Kopf als Zeichen des Dankes und öffnete den Deckel der Schatulle. Zum Vorschein kam dieselbe Waffe wie die, die der Tato benutzt hatte, um Charrut in den letzten Momenten seines Lebens zu töten. Neben der Waffe lagen drei Projektile und ein Speicherkristall, der wahrscheinlich Dokumentationen, Beschreibungen und Anwendungshinweise zur Waffe selbst enthielt. Charrut betrachtete die Waffe einige Zeit, bevor er den Deckel wieder verschloss und an Onythia gerichtet sagte: "Ich danke Euch, Onythia. Sie wird in meiner Sammlung einen besonderen Platz einnehmen!".

Während er aufstand, wandte er sich an Onista und sagte: "Komm, ich will Dir etwas zeigen."

Charrut ging zum Sitzplatz von Onythia, reichte ihr die Hand, verneigte sich und sagte: „Ich danke Euch für Euer Verständnis und Zuspruch, Onythia. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder“. Seinem Vater nickte er nur kurz zu. Gemeinsam verließen sie den Essensraum und begaben sich zum Wohntrakt von Charrut. Dort allerdings führte Charrut Onista zu einem etwas abseits gelegenen Raum. Der Raum war relativ spärlich ausgestattet; nur einige Sitzgelegenheiten und ein ovaler Tisch. Nachdem sie eingetreten waren, ging Charrut zu einer an der Seitenwand angebrachten Zugangskontrolleinheit und drückte auf dem dortigen Fingerabdrucksensor seinen Daumen. Daraufhin wurde von der Wand, vor der die Sitzgelegenheiten und der Tisch standen, die Wandverkleidung in die Decke gefahren und in der Decke wurden einige Leuchteinheiten aktiviert. Zum Vorschein kam eine unübersehbare Anzahl von verschiedensten Handfeuerwaffen aller Art.

"Dala!" sagte Onista erstaunt und ging näher an die Wand heran. "Wie lange sammelst Du denn schon?" fragte sie.

"Ungefähr seit fünfzehn Tai-Votanii", erwiderte Charrut und stellte die Holzschatulle mit der Projektilwaffe, die er von Onythia erhalten hatte, in ein mittig angebrachtes leeres Fach.

"Das war die Waffe, die der Tato benutzt hatte, um Dich zu töten?"

"Ja, und fast wäre es Ihm gelungen."

Onista ging langsam die Wand entlang und betrachtete die Handfeuerwaffen. Vor einer etwas kleineren blieb sie stehen und fragte: "Darf ich?"

"Natürlich, aber pass auf, sie sind alle Einsatzbereit!"

Onista nahm vorsichtig die kleine Handfeuerwaffe aus dem Fach, wog sie in der Hand und meinte: "Wie für Frauenhände gemacht. Sie liegt leicht und handlich in der Hand." Anschließend legte sie die Waffe wieder zurück, blickte Charrut an und sagte: "Auch ich habe ein Geschenk für Dich, das ich Dir gerne noch geben würde, bevor wir zum Raumhafen aufbrechen."

Charrut lächelte sie an, verschloss die Handfeuerwaffensammlung und beide gingen zu ihrem Wohntrakt. Nachdem sie dort angekommen waren, ging Onista zu ihren Reisesachen und holte ein Paket hervor. Sie drehte sich zu Charrut um und sagte: "Ausziehen!"

Charrut war überrascht. "Ausziehen? Alles?"

Onista lachte auf. "Nein, nur Deinen Anzug."

Charrut zog sich den Anzug aus, und als er damit fertig war, bekam er von Onista das Paket mit den Worten überreicht: "Von Sidona und mir!"

"Von Euch beiden?" fragte Charrut überrascht zurück, setzte sich und wog das Paket kurz in den Händen: "Relativ schwer." Dann entfernte er die Geschenkverpackung und öffnete das Paket. Zum Vorschein kam eine schlichte, blütenweise Uniform, die bis auf das Abzeichen des 'del Harkon'-Khasurns nichts enthielt. Unter der Uniform lagen im Paket ein Paar glänzende schwarze, wadenhohe Stiefel und ein leerer schwarzer Waffengurt.

Charrut blickte überrascht Onista an: "Das war doch bestimmt teuer?"

"Lass das meine Sorge sein, mein Schatz", antwortete Onista und begutachtete das Werk ihrer Schwester, als sich Charrut die Uniform anzog.

Nachdem Charrut alle Teile der Uniform angezogen hatte, betrachtete er sich selbst in einem Feldspiegel und meinte dann zu Onista: "Die Uniform wirkt richtig elegant. Schlicht, einfach, elegant und edel. Kein überbordender Protz wie bei vielen Adeligen."

"Gefällt sie Dir wirklich?" fragte Onista zweifelnd.

"Aber ja. Sie gefällt mir sehr. Da werden sich bestimmt einige Frauen nach mir umsehen und …"
"Hey, pass auf, was Du sagst!" fuhr ihm Onista dazwischen. Charrut fing an, laut und herzhaft zu lachen, und nach einigen Augenblicken musste auch Onista lachen.

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, ging Charrut zu einem versteckten Fach am Schreibtisch im Aufenthaltsraum und entnahm ihm einen Handstrahler, den er in den Halfter am Waffengurt steckte. Als er zurückkam, fragte er: "Kann ich so gehen?"

Onista sah ihn nochmals kritisch an und sagte: "Passt".

Gemeinsam verließen sie ihr Wohntrakt, gingen zum Antigrav-Schacht und ließen sich zum Gleiterdeck empor tragen. Nachdem sie einen Gleiter des Khasurns, wieder waren vier Arbtans als Leibgarde dabei, bestiegen hatten, gab Charrut als Ziel den Raumhafen von Yephroth-Etset an und startete.

Während des Fluges lehnte sich Onista an ihn an und er spürte ihre Wärme, als er seinen Arm um sie legte. Seine Gedanken eilten zurück zum gestrigen Prago, als sie zum Nenin-See geflogen waren. Auch dort hatte er ihre körperliche Nähe gespürt gehabt, als sie beide nach einiger Zeit aus dem kalten, erfrischenden Wasser gestiegen waren und Onista trotz der Wärme der Sonne am Anfang gefröstelt hatte. Sie hatte sich an ihn angeschmiegt und er hatte sie leidenschaftlich umarmt und geküsst. Er hatte ihre Weiblichkeit gespürt, ihre Liebe zu ihm, etwas, was er als Kind und Jugendlicher so nie erfahren hatte. Mochte sein Vater in alten Denkschemata gefangen sein, er wusste, an wen er sein Herz verloren hatte. ‚Ja, ich bin ein glücklicher Mann‘ sagte sich Charrut und ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht…

* * *

„…schade, dass Sie doch nicht an unseren Waren interessiert sind“, sagte der Arki, der ihr gegenübersaß.

„Vielleicht das nächste Mal“ erwiderte sie und stand auf. Auch der Arki, ein Mann von ungefähr 60 Vothars, der sich als Unar Theron vorgestellt hatte, erhob sich und musterte sie kurz.

„Dürfte ich sie vielleicht trotzdem zu einem Essen einladen? Heute Abend?“

Sie wusste sofort, worauf der Mann hinaus wollte. Etwas zu viel Wenas oder anderer Alkohol nachdem Essen, vernebelte die Sinne … Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie sich vielleicht darauf eingelassen, zumal der Arki einigermaßen stattlich gebaut war, aber nicht jetzt. Heute musste sie ihren Auftrag erledigen und außerdem wollte sie nicht, dass sich irgend jemand intensiv an sie erinnerte.

„Tut mir leid, ich habe noch andere unaufschiebbare Termine“, erwiderte sie, verneigte sich leicht, drehte sich um und ging in Richtung Antigravschacht. Dort ließ sie sich vom Antigravfeld zum Parkdeck hochtragen und bestieg dann ihren Mietgleiter.

Nachdem sie dem Autopiloten angewiesen hatte, mehrere Khasurns ansässiger Händler anzufliegen, dort aber nicht zu landen, sondern weiter zu fliegen, würde er sie zu ihrem Hotel bringen. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme. Sie musste auf der Hut sein.

Als sie vor ihren angemieteten Wohnraum stand, sah sich unauffällig um und als sie niemanden entdeckte, holte sie aus ihrer Tasche einen handlichen Scanner heraus. Danach aktivierte sie den Scanner. Nach zwei Palbertontas signalisierte der Scanner, dass er keine Mikrospionsonden gefunden hatte. Sie atmete erleichtert auf, öffnete die Tür zu ihrem Wohnraum, trat ein und schloß die Tür hinter sich. Sie führte immer diesen Test durch, und es war für sie immer beruhigend zu wissen, dass niemand während ihrer Abwesentheit ihre Unterkunft verwanzt hatte.

Sie schaltete den Scanner aus und verstaute ihn in ihrer Tasche. Sie ging in den Schlafraum und zog ihren Einsatzkoffer unter dem Bett hervor. Sie legte ihn auf dem Bett ab und öffnete ihn. Aus dem Garderobenschrank holte sie ihren Einsatzanzug hervor und betrachtete ihn: ein leichter Anzug in schwarz, der antireflexionsbeschichtet war und sich im Einsatz eng an die Haut schmiegte. Sogar eine Kapuze war Bestandteil des Anzugs, damit die Haare nicht sichtbar waren. Sie faltete ihn zusammen und legte ihn neben den Einsatzkoffer, danach holte sie die passenden Handschuhe und Stiefel, auch alles aus demselben Material wie der Anzug. Sie legte die Handschuhe und Stiefel auf den Einsatzanzug und setzte sich auf das Bett. Aus dem Einsatzkoffer entnahm sie eine Spezialpositronik und aktivierte sie. Die Spezialpositronik signalisierte ihr, dass der Virus einsatzbereit war. Ein Lächeln entstand auf ihrem Gesicht. ‚Ja, der Positronikvirus war von besonderer Güte: schnell, effizient und passte sich an besondere Schutzmechanismen des Zielsystems an. ‘99,999% Erfolgsgarantie bei einer maximalen Verzögerung von drei Palbertontas signalisierte die Spezialpositronik auf einem Display – 'das sollte reichen‘. Sie setzte einen Standardspeicherkristall in die Positronik ein und überspielte den Virus auf den Speicherkristall. Anschließend entnahm sie dem Einsatzkoffer eine größere Einheit und faltete diese auf. Zum Vorschein kamen mehrere biologisch-medizinische Komponenten, eine kleine Fernsteuerungspositronik, eine Fernsteuerungsmaske sowie eine durchsichtige Schatulle mit drei Robotinsekten aus swoon'scher Fertigung, die zustechen konnten und fast auf jeder Welt des Tai Ark’Tussan anzutreffen waren. Sie entnahm die Robotinsekten, öffnete das Fläschen mit dem Spezialgift und gab etwas in eine Kunststoffschale. Danach aktivierte sie die Fernsteuerungspositronik.

„Positronik, aktiviere die Robots, fliege sie zu der 0,5 Quars entfernten Kunststoffschale, befülle den roboteigenen Transportbehälter mit der dort vorhandenen Flüssigkeit und deponiere die Robots anschließend im Aufbewahrungsetui.“

Während sie beobachtete, wie die Robotinsekten nacheinander aktiviert wurden, zu der Kunststoffschale flogen und dort einige Augenblicke verharrten, um die Flüssigkeit aufzunehmen, dachte sie nach. Es war nicht leicht gewesen, den Aufenthaltsort des Kindes herauszufinden. Durch einen unbemerkten Einbruch in das Büro dieser Sidona Ferinei und mit Hilfe ihrer Spezialpositronik konnte sie zahlreiche Sicherheitssperren in deren Positronik überwinden und hatte so den COM-Anschluß dieser Amme gefunden. Danach war es ein leichtes, den Ort zu finden, wo das Kind lebte. Jeden Prago hatte sie sowohl Sidona Ferinei als auch das Kind mit ihrer Amme beobachtet und so deren Tagesabläufe herauszufinden. Sie wusste mittlerweile, wann Sidona Ferinei zu ihrem Büro flog und wann sie es verließ. Genauso wusste sie, wann die Amme mit dem Kind zu dem Spielplatz ging, wie lange sie dort blieben und welches der dort vorhandenen Geräte das Kind gerne benutzte.

„Auftrag ausgeführt!“ erklang die Stimme der Fernsteuerungspositronik und riß sie damit aus ihren Überlegungen.

Zusammen mit dem Speicherkristall, der Fernsteuerungspositronik und der Fernsteuerungsmaske verstaute sie das Aufbewahrungsetui in einer kleinen Transporttasche. Sie warf einen Blick auf ihr Vot. Allerhöchste Zeit, sich auf den Weg zu machen. Die Amme mit dem Kind ihrer Zielperson Sidona Ferinei würde bald die Wohnung verlassen und auf den Spielplatz gehen, wie jeden Nachmittag.

Sie zog den Einsatzanzug an, der sich eng an ihre Haut anschmiegte und darüber einen normalen Freizeitanzug. Anschließend verstaute sie noch die Stiefel und Handschuhe des Einsatzanzugs in die Transporttasche und verließ ihren Wohnraum.

Mit dem Mietgleiter flog sie zu einem Wohnkhasurn, der direkt neben dem Spielplatz angrenzte und landete dort auf dem Gleiterdeck. Nach der Landung holte sie die drei Robotinsekten hervor, setzte sich die Fernsteuerungsmaske auf und aktivierte die Insekten. Sie öffnete kurz das Schott vom Gleiter und steuerte die Insekten zum Spielplatz vom Gleiter aus. Sie steuerte alle drei Insekten zu unterschiedlichen Zielen und deponierte sie dort nacheinander. Im Parallelmodus aller drei Insekten hatte sie eine hervorragenden Überblick über den Spielplatz, der wie immer in den Pragos, wo sie diesen beobachtet hatte, gut besucht war. Viele Kinder spielten dort, die meisten zwischen zwei und sechs Tai-Votanii, während ihre Mütter oder Zugehfrauen sie dabei beobachteten. Sie musste nicht lange warten, da erkannte sie die Frau mit dem Zielobjekt, wie sie das Spielzentrum betraten. Das Zielobjekt, das annähernd vier Tai-Votanii alt war, rannte quer über den Spielplatz und ging zu ihrem Lieblingsspiel, einer positronisch gesteuerten Rutsche, die immer wieder die Bahn änderte. Das Zielobjekt stellte sich hinter eine Reihe ungeduldig wartender Kinder an. Als es an der Reihe war, warf sich das Zielobjekt voller Vorfreude aufschreiend in ein Prallfeld und ließ sich von der Rutsche durch die Luft führen, ganz so, als wenn es selber fliegen könnte. Währenddessen war die Amme mit anderen Arkiifrauen ins Gespräch gekommen und beobachtete nur noch nebenbei das Zielobjekt.

Sie wartete. Das Zielobjekte würde jetzt viele Gerätschaften verwenden, bis es etwas außer Atem sein würde. Dann wäre der richtige Zeitpunkt gekommen. Das Gift würde, sobald es injiziert war, sich durch den hochgeputschten Kreislauf rasch verteilen und so viel schneller wirken. Sie musste ungefähr 2 Palbertontas warten, dann sah sie, wie das Zielobjekt zur Amme rannte und sich etwas zu trinken geben ließ, bevor es zu einem anderen Spielgerät ging. ‚Der Zeitpunkt ist gekommen‘, sagte sie sich und steuerte ein Robotinsekt, welches bisher an einem Ast eines Busches ‚gesessen‘ hatte, in einigen Quars Höhe Richtung des Zielobjektes. Die anderen beiden Insekten zeigten mit ihren Kameras keine verdächtigen Aktionen. Das Zielobjekt beugte sich gerade nach unten, um etwas am Boden anzusehen, als sie das Robotinsekt in der Nähe der Halsschlagader kurz landen und zustechen ließ, bevor sie es wieder startete. Sie dirigierte das Insekt zu einem Baum. Währenddessen beobachtete sie das Zielobjekt mit dem einem der beiden anderen Robotinsekten. Sie sah, wie das Zielobjekt anfing zu weinen und die eine Hand am Hals hielt. Sie beobachtete weiter und wartete darauf, dass die Wirkung des Giftes einsetzte. Mit dem anderen Insekt sah sie, wie die Amme herüberblickte und dann schnell zu dem Zielobjekt hinlief. Danach überstürzten sich die Ereignisse. Immer mehr Erwachsene kamen zu der Frau, während das Zielobjekt die ersten Anzeichen des Giftes zeigte: aschfahles Gesicht, Atemnot und anfing zu torkeln. Als sie mit der Fernsteuerungsmaske sah, wie eine der vielen Arkiifrauen ihr Armbandkommunikator zum Mund führte und vermutlich medizinische Hilfe anforderte, war es für sie ein Zeichen, die Aktion als erfolgreich anzusehen und die Robotinsekten zurück zu holen.

Nach kurzer Zeit waren die Robotinsekten wieder beim Gleiter und sie ließ sie herein. Sie warf einen Blick auf ihr Vot und sah, das die Aktion drei Palbertontas gedauert hatte: es war jetzt 10-05 Vot. Ihr erstes Zielobjekt war vermutlich jetzt bereits tot. Teil eins des Auftrags war damit erfüllt. Jetzt musste sie sich noch um das zweite Zielobjekt kümmern.

* * *

Nachdem Onista und Charrut wieder in der Zubringerhalle des Raumhafens von Varynkor-Etset angekommen waren, wurden sie überrascht. Tranthar und Kerasor erwartet sie. Sie begrüßten Charrut, als wenn sie ihn mehrere Berlenprags nicht gesehen hätten. Danach deutete Charrut auf Onista und sagte: „Tranthar, Kerasor, darf ich euch Onista vorstellen?“

Kerasor reichte Onista die Hand und meinte: „Wir kennen uns bereits. Ich hatte vor einigen Pragos eine Mitteilung von Charrut durchgegeben.“ Onista nickte ihm freundlich zu und erwiderte: „Stimmt. Ich danke Euch nochmals dafür!“. Auch Tranthar begrüßte sie, wenn auch etwas reservierter. Schließlich waren Charrut und Auris über viele Tai-Votanii eng befreundet gewesen und kurz nach Charruts Trennung von Auris trat Onista auf den Plan. Tranthar konnte es eigentlich noch immer nicht begreifen, warum sich Charrut von Auris getrennt hatte. Für ihn waren sie das ideale Paar gewesen, beide hatten sich aus seiner Sicht hervorragend ergänzt. Aber vielleicht war er auch nur voreingenommen, denn er bewunderte Auris sehr und Charrut war ‚nur‘ ein Freund.

„Was macht ihr denn hier?“ fragte Charrut und blickte fragend zu Kerasor und Tranthar.

„Wir wussten ja, wann ihr wieder ankommen würdet und dachten uns, es wäre eine gute Gelegenheit, einmal in Varynkor-Etset gemeinsam Essen zu gehen. Aber wenn ihr bereits anderwertig beschäftigt seid…“ erklärte Kerasor mit einem süffisanten Gesichtsausdruck.

Bevor Charrut antworten konnte, erwiderte Onista: „Gerne. Dann lerne ich auch gleich Charruts beste Freunde kennen. Aber vorher müssen wir noch kurz zu meiner Schwester. Ich hoffe, es stellt für euch kein Problem dar?“

Tranthar schüttelte den Kopf und meinte: „Natürlich nicht!“
„Also gut, dann lasst uns aufbrechen. Lasst uns ein Gleitertaxi nehmen.“ erwiderte Charrut und gemeinsam setzte sich die Gruppe in Bewegung in Richtung Ausgang.

* * *

Als ihr Mietgleiter zur Landung ansetzte, verzog sie die Mundwinkel. Sie sah, dass direkt neben dem Gleiter der Zielperson, Sidona Ferinei, kein Landefeld mehr frei war. ‚Verdammt. Ausgerechnet heute stehen so viele Gleiter hier‘, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Mietgleiter landete einige Landefelder entfernt vom Gleiter der Zielperson. Sie warf einen Blick hinaus in die aufziehende Dunkelheit, aber sie konnte niemanden erblicken. Sie holte die Transporttasche hervor und entnahm ihm den Speicherkristall mit dem Positronikvirus. Der Mietgleiter war zwar eng, aber mit etwas Anstrengung konnte sie sich entkleideten und den Freizeitanzug ausziehen. Sie warf einen Blick auf die bordeigene Vot: in einigen Palbertontas würde die Sonne endgültig untergegangen sein und dann würde ihre Tonta schlagen. Aber noch hatte sie Zeit. Während sie wartete, schweiften ihre Gedanken ab. Wenn der Auftrag erledigt sein würde konnte sie endlich wieder zu ihrem Stützpunkt zurückfliegen. Dieser Auftrag war für sie enorm wichtig, nachdem sie bei den letzten beiden Aufträgen keine 100%ige Erfolgsquote erreicht hatte. Man hatte ihr bei der Auftragsvergabe gesagt, dass dieser Auftrag über ihre weitere Zukunft in der Organisation entscheiden würde. Sie musste einfach erfolgreich sein! Aber sie war überzeugt davon, dass sie diesmal den Auftrag erfolgreich abschließen würde. Sie hatte ihre beiden Zielobjekte einige Pragos lang beobachtet, deren Gewohnheiten studiert und verinnerlicht. Am aufwendigsten war die Suche und das Finden dieses Kindes gewesen. Aber mit Hilfe der persönlichen Positronik in Sidona Ferineis Wohnung hatte sie in alten Einträgen die Vermittlung einer Amme gefunden. Danach war es nicht mehr schwer gewesen, das Vermittlungs-Institut von Ammen und damit die Amme selber herauszufinden. Sie warf einen Blick hinaus.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Sie zog die antireflexionsbeschichteten Stiefel und Handschuhe an, entnahm die Fernsteuerungsmaske, die sie auf Nachtsichtmodus schaltete, griff sich den Speicherkristall sowie Spezialwerkzeug und öffnete die Gleitertür. Rasch schlüpfte sie in die Dunkelheit hinaus und verschloß wieder die Gleitertür. Wie ein unsichtbarer Schatten und mit einer Grazie, die ein Aussenstehender ihr niemals zugetraut hätte, eilte sie von Gleiter zu Gleiter, bis sie den Gleiter der Zielperson erreichte. Mit Hilfe des Spezialwerkzeugs und ihrer KSOL dauerte es nur eine kurze Zeit, bis sich die Gleitertür öffnen ließ. So schnell sie konnte verschwand sie im Gleiter und schloß die Gleitertür hinter sich. Sie warf einen Blick hinaus. Es war niemand da, der sie gesehen hätte. Mit Hilfe des Spezialwerkzeugs öffnete sie eine seitliche Verkleidung, um an die Bordpositronik heran zukommen. Rasch wechselte sie den vorhandenen Speicherkristall, sofort fing der manipulierte Speicherkristall an zu blinken als Zeichen dafür, dass der Positronikvirus heruntergeladen wurde. Nach wenigen Augenblicken ging das Blinken in ein permanentes Leuchten über; der Upload war vollzogen. Sie tauschte die Speicherkristalle wieder aus und verschloss wieder die Seitenverkleidung. Ein kritischer Blick von ihr auf die Verkleidung sagte ihr, dass niemand die Manipulation erkennen würde. Bevor sie die Gleitertür wieder öffnete, überzeugte sie sich mit einem Blick hinaus, dass niemand zu sehen war. Die Gleitertür öffnen, hinaus springen und die Gleitertür wieder zu verschließen war fast eins. Wieder lief sie im Schutze der Dunkelheit auf ihren Mietgleiter zu, als auf einmal ein Gleiter landete. Sie wurde völlig überrascht. Rasch warf sie sich hinter einen nahestehenden Gleiter. Sie sah, wie vier Arkii in der schummrigen Dunkelheit auf den Antigravschacht zugingen und sich dort hineinschwangen. Dann wartete sie noch einen kurzen Augenblick, bis sie sich hinter dem Gleiter hervorwagte, aufstand und zu ihrem Mietgleiter rannte. ‚Das ging nochmals gut‘, sagte sie zu sich selber. Jetzt musste sie nur noch warten, bis die Zielperson auftauchte und mit ihrem Gleiter startete.

* * *

Nachdem der Taxigleiter gelandet war, gingen Tranthar, Kerasor, Charrut und Onista zum Antigravschacht und ließen sich zum Bürobereich von Sidonas Modedesignstudio hinuntertragen. Dort verließen sie den Antigravschacht und gingen zu Sidonas Büro. Onista wandte sich an die anderen und sagte: „Ich bin in wenigen Palbertontas wieder da. Ich will nur kurz mit Sidona reden“

Charrut nickte ihr zu und erwiderte: „Einverstanden!“.

Während Onista in das Büro ihrer Schwester ging, setzten sich Charrut, Tranthar und Kerasor in den Besuchersesseln im Empfangsbereich. Charrut konnte durch die Glasscheiben sehen, wie sich die beiden Schwestern durch Umarmung begrüßten und dann miteinander redeten.

„Nun, erzähle schon. Wie war der Kurzurlaub? Was hat dein Vater zu Onista gesagt?“ fragte Kerasor neugierig, während Tranthar leicht den Kopf schüttelte vor so viel Indiskretion.

Charrut seufzte innerlich, kannte er doch Kerasor. Er würde nicht eher nachgeben, bis er mehr wusste. Er dachte kurz nach und erzählte dann von ihrem Kurzurlaub.

* * *

Sidona und Onista begrüßten sich durch Umarmung.

„So, du bist also wieder von deinem Kurzurlaub zurück!“ stellte Sidona fest. „Wie war es denn auf Harkon?“

Onista machte eine zustimmende Geste mit der rechten Hand und erzählte ihr in kurzen Sätzen von ihren Erlebnissen auf Harkon und im Besonderen vom Khasurn der Harkonii. Als sie geendet hatte, nickte ihr Sidona zu und erwiderte: „Ich wünsche dir wirklich viel Glück, dass es alles so wird, wie du es dir vorstellst. Vielleicht spreche ich ja wirklich gerade mit einer zukünftigen Adligen!“. Beide Frauen mussten lachen.

„Und, was gibt es bei dir neues?“ fragte Onista.

„Nur das übliche: Arbeit und nochmals Arbeit! Du weißt ja, wenn man was…“

Sidona wurde in ihrem Reden abrupt unterbrochen, als ihr Kommunikationsterminal ein durchdringendes Geräusch von sich gab. Das Signal bedeutete höchste Dringlichkeit und war nur für sehr wenige Vorgänge konfiguriert.

„Entschuldige bitte“ sagte Sidona zu Onista und aktivierte das Kommunikationsterminal.

Auf dem Schirm eine Arki, deren Augen angeschwollen waren, ein Zeichen für intensive Erregung oder dass sie geweint hatte. Sie erkannte die Frau: die Amme ihres Kindes.

„Sie sollen mich doch nicht kontakten, außer, es ist etwas geschehen“, fuhr sie die Frau an.

„Es ist etwas Schreckliches geschehen. Sie müssen unbedingt kommen. Das Kind wurde von einem Insekt gestochen…und stirbt“ Der Rest der Worte ging in einem Weinkrampf verloren. Die Frau war so aufgeregt und aufgebracht, dass sie keine weiteren sinnvollen Wörter mehr hervorbrachte.

Sidona wurde blaß im Gesicht. Ihre Gedanken überschlugen sich, was ihr die Amme zu sagen versuchte. Ihr Magen bildete ein Knoten, als sie die Tragweite erkannte, die das gesagte darstellte. Wenn das Kind sterben sollte, würde die Zukunft düster aussehen. Sie hatte ihre Zukunft darauf aufgebaut, das sie Shyban de Enash mit dem Kind erpressen konnte und er für ihr Stillschweigen bezahlen würde! Mit schwacher Stimme erwiderte sie: „Ich komme sofort!“.

Nachdem die Verbindung getrennt wurde, wandte sie sich langsam zu ihrer Schwester um und sagte wie abwesend: „Ich muss fort! Wir sprechen uns ein anderes mal!“

Onista hatte das Gespräch mitbekommen und war genauso wie Sidona vom Gehörten schockiert. Schließlich ging es um ihre Schwester. Und um das Kind ihrer Schwester. Als Sidona sagte, dass sie das Gespräch ein anderes Mal fortführen würden, schüttelte sie den Kopf und erwiderte bestimmt: „Nein, wir kommen mit. Lass' uns sofort aufbrechen!“

Beide verließen Sidonas Büro. Draußen vor dem Büro warteten Charrut und seine Freunde auf sie. Onista erklärte ihnen kurz, was sich eben ereignet hatte und das sie sofort aufbrechen mussten und dass der gemeinsame Abend mit Kerasor und Tranthar ein anderes mal stattfinden musste. „Selbstverständlich begleiten wir euch“, sagte Tranthar. Als Charrut etwas erwidern wollte, winkte er ab und sagte: „Wozu sind wir deine Freunde, wenn wir euch nicht auch in schlechten Zeiten beistehen?“ Charrut warf einen Blick von Tranthar zu Kerasor und als er auch in Kerasors Gesicht erkannte, dass dieser mitkommen wollte, nickte er und sagte: „In Ordnung“.

Gemeinsam gingen alle los…

* * *

Mit schnellen Schritten gingen sie in Richtung Antigravschacht und ließen sich zum Gleiterdeck nach oben tragen. Sidonas blasses Gesicht erschien im Licht der Antigravschachtbeleuchtung noch weißer und blasser. Als sie oben ankamen, gingen sie stumm in Richtung Sidonas Gleiter. Hinter den beiden Frauen gingen Charrut, gefolgt von Kerasor und Tranthar. Als sie schon fast bei Sidonas sportlichen Zweipersonengleiter waren, drehte sich Onista zu Charrut um und machte eine Kopfbewegung, die Charrut als Zeichen deutete, mit im Gleiter zu fliegen. Er drehte sich zu Tranthar und Kerasor um und sagte: „Ich fliege mit den beiden mit. Folgt uns mit einem Taxigleiter!“ Tranthar nickte und gemeinsam gingen er und Kerasor zu dem Taxigleiterstand. Währenddessen hatte Sidona das Schott ihres Sportgleiters geöffnet. Charrut zwängte sich nach hinten und setzte sich auf einen Notsitz, während vorne Sidona und Onista auf den Standardsitzen Platz nahmen.

Sidona war aufgewühlt. Sie hatte immer versucht, das Kind, das sie zur Welt gebracht hatte, zu verdrängen. Für sie war das Kind nur ein Mittel zum Zweck gewesen, nämlich Shyban de Enash zu erpressen. Aber als sie vorhin die Nachricht erhielt, dass mit dem Kind etwas Schreckliches passiert sei, kamen die unterdrückten und verdrängten Mutterinstinkte in ihr zum Vorschein. Nun machte sie sich Vorwürfe, dass sie sich nie um das Kind gekümmert hatte, sondern alles der bezahlten Amme überließ. Während sie von ihrem Büro zum Antigravschacht und dann zu ihrem Sportgleiter gingen, drehten sich ihre Gedanken wie im Kreis nur um das Kind und was passiert sein konnte. Sie nahm nur unbewusst war, wie sich Onistas Freund Charrut mit den anderen beiden Männer unterhielt und später sich hinter ihnen auf einen ausfahrbaren Notsitz Platz nahm. Nachdem das Schott des Gleiters geschlossen war, aktivierte sie die Bordpositronik und steuerte den Gleiter gen Himmel. Nur kurz wunderte sie sich, dass die Positronik langsamer reagierte als sonst, aber sie ignorierte das Symptom, sie schob es auf ihre Ungeduld und Nervosität. Nachdem der Gleiter eine vorgegebene Höhe erreicht hatte, beschleunigte sie mit maximalen Werten und steuerte den Gleiter in Richtung Vorstadt.

* * *

Charrut zwängte sich an den beiden Sitzen im Sportgleiter vorbei und fuhr den Notsitz aus. Nachdem er sich hingesetzt hatte, stiegen auch Onista und ihre Schwester Sidona ein. Sidona aktivierte die Bordpositronik, wobei sie hier etwas zögerte, bevor sie den Gleiter startete. Kurz darauf beschleunigte sie den Gleiter und dieser beschrieb eine langgestreckte Kurve, bevor er auf Kurs ging. Währenddessen dachte Charrut darüber nach, was er in der Eile von Onista erfahren hatte. Eine Palbertonta später riss ihn Sidonas ‚Was…‘ aus seinen Gedanken.

Sie hatten Varynkor-Etset verlassen und steuerten eine Vorstadt an, als die Steuer- und Kontrolleinheiten vor Sidona anfingen zu flackern. Erst war das Flackern nur kurz, wurde aber immer hektischer. „Was…“ stieß sie aus, den Rest verschluckte sie, denn kurz darauf fingen nun auch die Triebwerke an, auszusetzen. Sie starrte wie hypnotisiert auf die Kontrolleinheiten, unfähig, zu reagieren, einen klaren Gedanken zu fassen. Onista stieß sie von der Seite an und sagte scharf: „Nun unternimm endlich etwas!“

„Ich kann nicht!“ erwiderte sie tonlos und drückte wahllos diverse Sensorfelder auf der Steuereinheit. „Die Positronik reagiert nicht!“

„Positronik! Was ist los?“ rief Onista, aber es gab keine Antwort. Fast gleichzeitig wurden alle Kontrolllichter dunkel und die Triebwerke hörten auf zu arbeiten. Der Bug des Gleiters, der noch einige hundert Quars über den Boden dahinraste, neigte sich dem Erdboden entgegen.

„Wir stürzen ab“, sagte Sidona tonlos und starrte wie hypnotisiert durch das Bugfenster nach draußen.

„Zur Seite!“ sagte von hinten Charrut mit befehlender Stimme und zwängte sich zwischen den Sitzen nach vorne. Er blickte kurz die ausgefallenen Kontrolleinheiten an und stellte fest, dass es nur eine leicht modifizierte Variante der üblichen Gleiter war. Er griff zu einer fast unsichtbaren Klappe unterhalb der Steuereinheit und öffnete diese. Dahinter kam ein kleiner Steuerknüppel zum Vorschein, der rein hydraulisch-mechanisch funktionierte. Er ergriff den Steuerknüppel und zog ihn zu sich, um den Absturz abzufangen. Langsam, nur ganz leicht änderte sich der Flug des Gleiters. Der Boden war schon gefährlich Nahe, als der Bug des Gleiters endlich wieder auf den Horizont zeigte.

„Den She’Huhanii sei Dank“ stieß Onista hervor und Sidona fing an hysterisch zu lachen.

„Wir werden es nicht ganz schaffen“ sagte Charrut schweratmend, bevor die euphorische Stimmung der Frauen zu groß wurde. „Die Tragflächen sind einfach zu klein. Der Gleiter ist schwerer zu steuern als ein Na’tha-meh.“

Die ersten Ausläufer der Vorstadt tauchten vor ihnen auf, kleinere Wälder und Parks. Charrut hatte alle Hände voll zu tun, den Gleiter daran vorbei zu dirigieren. Als der Gleiter noch ungefähr 20 Quars über den Boden war, riß die Luftströmung ab und der Gleiter war dadurch nicht mehr steuerbar. Charrut ließ den Steuerknüppel los und rief: „Achtung! Ich kann nicht mehr steuern. Deckung!“ Er warf sich hinter die Sitze von Sidona und Onista, während sich der Bug des Gleiters den Erdboden neigte und einige Bäume ins Visier nahm.

Einige Atemzüge später war nur noch der Lärm von zersplitterndes Holz und zerreißendes Metall zu hören, dann herrschte tödliche Stille.

* * *

Wiederholt warf sie einen Blick auf ihr Vot. ‚Irgendwann muss doch die Zielperson herauskommen und mit ihrem Gleiter starten‘ ging es ihr durch den Kopf. Sie hatte sorgfältig recherchiert, sie kannte die Gewohnheiten der Zielperson in- und auswendig. ‚Warte einfach weiter‘ beruhigte sie sich selbst, ‚sie wird schon kommen‘. Trotzdem dauerte es noch fast eine viertel Tonta, bis sich Bewegungen am Antigravschacht abzeichneten. Heraus kamen die Zielperson und, wenn sie sich nicht täuschte, die vier Personen von vorhin, die sie beinahe ertappt hatten. Die Zielperson ging mit einer anderen weiblichen Arki in Richtung ihres Gleiters, gefolgt von einem Mann, der sich wohl von den beiden anderen Männern verabschiedet hatte. Ihre Augen wurden immer größer, als sie feststellen musste, dass sowohl der Mann als auch die beiden Frauen zusammen in den Gleiter stiegen. ‚Das darf nicht wahr sein. Das war so nicht geplant!‘ schrie es in ihrem Kopf. Ihre sorgfältige Planung, ihre pragolange Recherche war mit einem Schlag über den Haufen geworfen. Leicht verbittert und mit Frust sah sie durch das Bugfensters ihres Mietgleiters, wie der Gleiter startete. Kurz darauf hob auch ein Taxigleiter ab und folgte den ersten. Sie schüttelte den Kopf. ‚So viel Pech kann ich doch gar nicht haben‘, sagte sie sich, als auch sie ihren Gleiter aktivierte und den beiden anderen Gleitern im Abstand folgte. Ein schneller Blick auf das Vot sagte ihr, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis der Positronikvirus die Systeme des Gleiters zum Erliegen bringen würde. Und tatsächlich, einige Augenblicke später sah sie, wie der erste Gleiter an Höhe verlor und kurz darauf in einen Sturzflug überging. Mit etwas Verzögerung folgte ihm der zweite Gleiter. Auch sie ging mit ihrem Mietgleiter niedriger, denn sie wollte nicht entdeckt werden. Jeden Augenblick musste der Gleiter der Zielperson am Boden zerschellen, und sie traute ihren Augen nicht, als der Gleiter vom Sturzflug in einen Gleitflug überging. Langsam zweifelte sie an ihrem Können. ‚Wie kann das sein?‘ fragte sie sich. Aber bevor sie darauf eine Antwort finden konnte, stürzte der Gleiter doch noch ab, raste gegen einen Baum in einem Park außerhalb Varynkor-Etsets. Kurze Zeit später landete der zweite Gleiter in der Nähe der Absturzstelle. Vorsichtig ging sie ebenfalls niedriger und verharrte mit ihrem Mietgleiter hinter einem Baumwipfel, keine 70 Quars von der Abturzstelle entfernt. Sie sah, dass zwei Personen aus dem Gleiter geschleudert worden waren. Sie hatte genug gesehen. Jetzt musste sie sich zurückziehen, bevor die sicherlich benachrichtigten Rettungskräfte eintrafen. Sie wendete den Gleiter und flog nach Varynkor-Etset zurück. Dieser Teil ihres Auftrags war ein folgenreicher Misserfolg. Jetzt musste sie in Erfahrung bringen, ob ihre Zielperson ums Leben gekommen war und wer die beiden anderen Personen waren.

* * *

Tranthar und Kerasor sahen sich auf dem Gleiterdeck um und erspähten ein Gleitertaxi. Schnell gingen sie zum Gleiter und stiegen ein. Als die Positronik fragte, wohin der Flug gehen sollte, sagte Tranthar: „Folge dem Gleiter, der gleich von diesem Gleiterdeck starten wird“.

Wenige Augenblicke später startete der Gleiter und folgte dem von Onistas Schwester. Die Fluggeräte stiegen auf und nahmen Kurs auf ein unbekanntes Ziel.

Einige Zeit später bemerkten Kerasor und Tranthar, dass der Sportgleiter von Onistas Schwester etwas an Höhe verlor, um kurz darauf in einem Sturzflug zu übergehen.

„Was machen die denn?“ fragte Tranthar laut, mehr zu sich als zu Kerasor.

Überrascht und etwas verwirrt sahen beide dem Sturzflug des Gleiters zu, während ihrer diesen weiterhin verfolgte.

„Da stimmt etwas nicht“ sagte Kerasor, als sie sahen, dass der Gleiter von Onistas Schwester langsam seine Flugbahn korrigierte und viel zu nahe über den Boden flog. Als Sidonas Fluggerät nur mit wenig Abstand, aber viel zu hoher Geschwindigkeit einigen Bäumen eines Parks auswich, sagte Kerasor: „Ich informiere die Sicherheitskräfte“ und führte seinen Kommunikator zum Mund. Tranthar verfolgte wie gebannt den Flug des Gleiters vor ihnen, bis er sah, dass sich dessen Bug dem Boden näherte.

„Jetzt passiert es! Die stürzen ab!“ rief er.
Gemeinsam mit Kerasor sah er, wie der Gleiter zwischen einigen Bäumen hindurchraste, dabei mit den schmalen Tragflügeln hängenblieb, herumgewirbelt wurde und dann noch mit viel zu hoher Geschwindigkeit von einem anderen Baum abrupt aufgehalten wurde.

* * *

Charrut schlug die Augen auf und sah über sich Blätter eines Baumes leicht im Wind bewegen. Der Geschmack von Blut in seinem Mund ließ ihn schlagartig an den Gleiterabsturz denken. Mühsam richtete er sich auf und sah, dass er fast 20 Quars weit vom Gleiter, oder, das, was einmal ein Gleiter war, am Boden lag. Langsam, mit müden Schritten, schleppte er auf das Gleiterwrack zu. Jeder Schritt verursachte Schmerzen, insbesondere seine linke Schulter. Den linken Arm konnte er nicht bewegen. Er vermutete, dass sein Arm oder seine Schulter gebrochen war. Aber die Sorge um Onista trieb ihn an, ließ ihn seine Schmerzen verdrängen. Als er beim Wrack angekommen war und einen Blick ins Innere durch das zersplitterte Bugfenster warf, sah er Sidona. Sie lag fast wie von selbst hingelegt über die beiden Gleitersitze. Aber hier kam jede Hilfe zu spät. Ihr ausdrucksloses Gesicht und ihre gebrochenen Augen sagten ihm, dass sie tot war. Aber wo war Onista? Sie lag nicht im Gleiter und auf den Weg dorthin hatte er sie nicht gesehen.

Unterbewusst nahm er war, dass ein Gleiter landete und kurz darauf heraneilende Schritte auf ihn zukamen. Währenddessen hatte er Onista erspäht. Sie lag hinter einem Busch, nur ihre Beine schauten hervor. Unter Missachtung seiner Schmerzen, immer wieder aufstöhnend und mit tränenden Augen, eilte er zu seiner geliebten Neentin, zu Onista.

Als er Onista erreicht hatte, kniete er sich neben sie und drehte sie vorsichtig auf den Rücken, während er ihren Namen flüsterte. Er sagte immer wieder ihren Namen, immer drängender, immer lauter. Irgendwann zuckten ihre Augen und flackernd öffneten sie sich in ihrem wächsernen Gesicht. Sie schien einen Moment zu brauchen, um sich zu erinnern, was geschehen war. Ihre Augen blickten suchend umher, bis sie Charrut erkannte. Sie zitterte vor innerer Kälte und er spürte, dass ihre Kräfte sie langsam verließen. Qualvoll, stockend, mit aus den Mundwinkeln rinnendem Blut, sagte sie: "Wir hatten so… wenig Zeit. Und jetzt … ist es schon vorbei. Bitte halte… die Totenwache… für mich!"

"Nein, halte durch, Hilfe kommt!" Und nach einem Augenblick, der für Charrut wie eine Ewigkeit vorkam, mit kaum noch hörbarer Stimme: "Küsse mich… ein letztes Mal". Charrut beugte sich mit nassen Augen zu ihr hinunter und küsste ihre blassen, schwachen Lippen. Als sich ihre Lippen nach einiger Zeit trennten, spürte er instinktiv, das sie zu den She’Huhanii gegangen war. Zögernd, als wenn ihn etwas davon abhalten wollte, hob er seine rechte Hand und schloss ihre Augen.

Die schnellen Schritte, die er gehört hatte, verlangsamten sich und hörten dann in einigen Quars Entfernung auf. Tranthar wollte weitergehen, aber Kerasor hielt ihn fest. Tranthar sah Kerasor an und wollte etwas sagen, aber Kerasor schüttelte nur langsam den Kopf.

Erst leise, dann immer lauter schrie er seinen inneren Schmerz hinaus…

Nach einer endlos scheinenden Zeit, als er sich beruhigt hatte, raffte er sich auf und rief Kerasor zu sich.

Als sich Kerasor neben ihm niederkniete, sagte er leise: "Hilf mir, sie richtig zu legen"

Gemeinsam bettenden sie Onista dem Sonnenaufgang liegend aus und Charrut setzte sich neben sie, während Kerasor zu Tranthar zurückging. Kerasor zog Tranthar mit sich und beide setzten sich in respektvollen Abstand auf einen Stein. Tranthar sah Kerasor fragend an und Kerasor sagte nach kurzem Zögern nur ein Wort: "Totenwache!".

Charrut betete zu den She’Huhanii. In Gedanken beschwor er die uralte Formel, um die Götter wohlgesonnen zu stimmen. Wenn eine Seele zu den Füßen der She’Huhanii erschien, musste sie sich fragen lassen, ob sie aus den Fehlern, die sie unter den Lebenden gemacht hatte, lernen konnte oder nicht. Mit der Fürsprache desjenigen, der zu den She’Huhanii betete, wurden die Götter milder gestimmt, denn der Betende bat durch sein Gebet um Vergebung für die Fehler der Seele. Aber die Totenwache bestand nur zu einem Teil aus der Bitte um Vergebung. Der andere Teil bestand darin, Abschied zu nehmen und die Seele gehen zu lassen – gehen zu lassen, damit die Seele in das Reich der She’Huhanii aufgenommen werden konnte und für den Betenden, damit derjenige einen Neuanfang seines Lebens vollziehen konnte.

In Charruts Gedanken tauchten Bilder von Onista auf: das erste Kennenlernen an Bord der LEKA, ihr Wiedersehen in der Trinkhalle, ihre Abende zu zweit, ihre leidenschaftliche Liebe, der Messerkampf mit dem Nebenbuhler, der Besuch auf Harkon. Zu kurz, viel zu kurz war ihnen Zeit geblieben…

* * *

Kurz darauf hörte Kerasor die von ihm alarmierten Sicherheits- und Rettungskräfte, die jetzt eintrafen. Während Tranthar und Kerasor die Rettungskräfte in Empfang nahmen, zu Sidona und später zu Onista geleiteten, untersuchten die Sicherheitskräfte das Gleiterwrack. Charrut, der sich auf einen Stein gesetzt hatte und die Behandlung eines Medikers stoisch über sich ergehen ließ, fühlte sich innerlich wie tot. Vor einigen Tontas waren Onista und er auf Varynkor eingetroffen; glücklich und zufrieden und jetzt? Onista war tot, sein Traum von einer glücklichen und gemeinsamen Zukunft war geplatzt wie eine überreife Frucht. Er hatte die Totenwache gehalten, aber seine Gefühle konnte er nicht einfach abschalten. ‚Unmöglich‘, ging es ihm durch den Kopf‚ dass alle positronischen Komponenten wie auch die Redundanzsysteme im Gleiter von Sidona ausfielen. Einfach unmöglich! Und doch, wenn er sich zurück erinnerte, waren die Systeme kurz hintereinander mit einem Flackern der Konsolen ausgefallen.

Die Stimme des Medikers holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. „Sie haben Glück im Unglück gehabt. Zwar jede Menge Schnittwunden, aber weder der Arm noch die Schulter sind gebrochen. Der Arm ist lediglich ausgekugelt. Ihre Schnittwunden habe ich mit Wundspray behandelt, aber den Arm einrenken sollte ein Spezialist durchführen.“

Charrut war so in Gedanken gewesen, dass er die Behandlung seiner leichteren Schnittwunden gar nicht mitbekommen hatte. Er sah kurz den Mediker an und sagte: „Machen Sie es. Jetzt!“

Der Mediker sah in überrascht an und erwiderte: „Ich habe Ihnen zwar ein Schmerzmittel injiziert, aber ich bin kein Physiotherapeut, kein Spezialist. Es könnte schmerzhaft sein. Sie sollten es wirklich durch…“. Charrut wollte jetzt nicht hören, was der Mediker konnte oder nicht konnte. Er unterbrach ihn mit ärgerlicher Stimme: „Tun Sie es JETZT! Ich kann jetzt hier nicht fort.“

Der Mediker schüttelte nur den Kopf, nahm aber hinter Charrut Aufstellung, umfasste den Arm und sagte: „Trotz des Schmerzmittels werden Sie Schmerzen verspüren. Entspannen Sie sich“.

„Fangen Sie schon an“ erwiderte Charrut.

Der Mediker griff fester zu und gleich darauf spürte Charrut einen stechenden Schmerz, begleitet mit einem leichten knirschenden Geräusch. Schmerzvoll verzog er das Gesicht, bis der Schmerz nachließ. Währenddessen war der Mediker schon dabei, sein Arm und die Schulter zu fixieren.

Tranthar kam mit einem bullig aussehenden Sicherheitsoffizier auf ihn zu und beide blieben vor ihm stehen.

„Ich bin Doun Ousko, Sicherheitsoffizier 2. Klasse. Ich benötige ihre Aussage zu dem, hmm, Unfall“ sagte der Sicherheitsoffizier mit tiefer Stimme zu Charrut.

Charrut sah ihn kurz nachdenklich an und fing dann an, vom Start des Gleiters bis zum Absturz alles zu erzählen. Als er geendet hatte, rieb sich der Sicherheitsoffizier sein Kinn und schüttelte langsam seinen Kopf.

„Eigentlich ist so etwas unmöglich. Jedes Transportsystem hat diverse Sicherheitsfunktionen, die ein Versagen der Positronik und deren angeschlossenen Systeme verhindern sollen“. Der Sicherheitsoffizier dachte kurz nach und sagte dann mit fester Stimme: „Ich lasse ein Spezialistenteam kommen, die das Wrack untersuchen sollen.“ „Ich will wissen, wie es passieren konnte!“ erwiderte Charrut mit einer Stimme, die keinen Widerstand zuließ. Der Sicherheitsoffizier nickte verständnisvoll Charrut zu und ging dann in Richtung Gleiterwrack davon.

Tranthar setzte sich einen Augenblick später langsam neben Charrut nieder und fragte: „Wie geht es dir?“

Charrut machte eine unbestimmte Bewegung mit der rechten Hand, sagte aber nichts. Was sollte er auch sagen? Er fühlte nichts außer einer großen Leere in sich, fast so, als wenn ein Teil von ihm herausgerissen worden sei. Aber ihn beschäftigte vielmehr die Aussage des Sicherheitsbeamten, die seiner Überlegung von vorher entsprach: ein Ausfall aller Sicherheitsfunktionen des Gleiters war einfach unmöglich!

Als Kerasor auf sie zukam, stand Tranthar auf und sagte zu Charrut: „Lass uns in die Akademie fliegen. Deine Verletzungen müssen behandelt und die eingerenkte Schulter nochmals kontrolliert werden und außerdem können wir hier sowieso nichts mehr ausrichten!“

„Nein, ich bleibe. Ich muss wissen, wie es geschehen konnte.“ erwiderte Charrut und schüttelte dabei heftig seinen Kopf.

Kerasor sah Tranthar an und sagte dann, Charrut anblickend: „Dann bleiben wir auch!“. Tranthar und er setzten sich neben Charrut und gemeinsam warteten sie auf das Ergebnis der Wrackuntersuchung.

* * *

Tranthar hatte, während sie warteten, von Zeit zu Zeit einen verstohlenen Seitenblick auf Charruts Gesicht geworfen und sich selbst immer wieder gefragt, wie er reagieren würde, wenn er die Frau verlieren würde, die er heimlich liebte. Er wusste es nicht. Jedenfalls sah er in Charruts Gesicht einen Ausdruck großer Traurigkeit und Verlorenheit, gepaart mit Unverständnis. Dann und wann zuckte ein schmerzhafter Impuls über sein Gesicht; immer dann, wenn er sich bewegte und der eingekugelte Arm Wellen von Schmerzen aussandte.

Als der ermittelnde Sicherheitsoffizier, Doun Ousko, nach einer für Tranthar quälend langen Zeit wieder erschien und vor Charrut stehen blieb, sah er, dass Charruts geistesabwesender Blick wieder in die Gegenwart zurückkehrte.

Der Sicherheitsoffizier warf noch einmal einen Blick auf seine Mikro-Positronik und kratzte sich verlegen am Hinterkopf, als er zu sprechen anfing.

„Es tut mir leid, aber das Spezialistenteam ist noch keinen Schritt weitergekommen. Fest steht nur, dass alle Sicherheitsfunktionen ausgefallen sind, und zwar gleichzeitig. Wie so etwas geschehen konnte, ist auch den Spezialisten ein Rätsel! Dass, was vom Gleiter übrig geblieben ist, wird jetzt zur intensiveren Untersuchung in ein Speziallabor abtransportiert. Mir wurde versichert, dass mit Hochdruck an der Lösung dieses Mysteriums gearbeitet wird. Trotzdem werden sicherlich einige Pragos vergehen, bis ein erster Bericht vorliegt!“

Charrut stand auf, mit ihm Kerasor und Tranthar. Sein Gesicht war nur eine Handspanne von dem Gesicht des Sicherheitsoffiziers entfernt. Mit einer Stimme, die Tranthar regelrecht frösteln ließ, sagte er: „Ich erwarte von Ihnen, dass alles unternommen wird, um diese Unmöglichkeit aufzuklären. Und ich will schnellstens informiert werden. Haben Sie mich verstanden?“

Tranthar konnte sehen, wie es im Gesicht des Sicherheitsoffiziers arbeitete, es einen abweisenden Ausdruck annahm. Bevor dieser antworten konnte, und Tranthar rechnete mit einer heftigen Zurechtweisung, sagte er beschwörend zu Charrut: „Wir sollten jetzt gehen! Wir können hier sowieso nichts mehr ausrichten und stehen den Spezialisten nur im Weg.“

Charruts Blick wanderte langsam vom Sicherheitsoffizier zu ihm und nach einigen Augenblicken erwiderte er: „Einverstanden.“

Gemeinsam mit Kerasor nahm er Charrut in die Mitte und sie gingen in die Richtung ihres Taxigleiters. Als sie am Sicherheitsoffizier vorbei kamen, sagte Tranthar im Vorbeigehen: „Nehmen Sie es nicht persönlich. Er steht noch unter Schock.“

Der Sicherheitsoffizier sah ihn an und erwiderte: „Tue ich nicht!“

Aber Tranthar konnte sehen, wie es noch immer im Gesicht des Offiziers arbeitete.

* * *

einige Pragos später – irgendwo in Debara Hamtar

Der Abschlussbericht über den Auftrag lag der Organisation vor. Nach dessen Auswertung, dem Abgleich mit Informationen anderer Quellen, wurden die Informationen an ein dreiköpfiges Beurteilungsgremium der Organisation weitergeleitet. Als diese die Daten durchsahen und studierten, sagte Gesprächspartner 1: „Sie ist unfähig!“

„Wir sollten sie besser ausbilden und ihr nochmals eine Chance zur Rehabilitation geben“, erwiderte Gesprächspartner 2.

„Das sind unnötige Kosten. Wir haben ihr eine letzte Chance gegeben und sie hat sie nicht genutzt. Unsere Klienten erwarten eine einhundert prozentige Auftragserfüllung“, sagte Gesprächspartner 3.

„Wir können von Glück reden, dass der Adlige dabei nicht gestorben ist. Das hätte weitreichende Folgen für uns haben können, angefangen von seinem Khasurn über den Shekur des Sektors bis in den Kreis des Imperators, da diese Raumakademie als sein Prestigeobjekt gilt“, erwiderte Gesprächspartner 1. „Wir können es uns nicht leisten, unfähige Mitarbeiter einzusetzen. Wir haben einen Ruf zu verlieren!“

„Sie muss eliminiert werden!“ sagte Gesprächspartner 3 bestimmend. „Ich setze einen Mitarbeiter der Kategorie zwei auf sie an.“

Nachdem die beiden anderen Gesprächspartner ihre Zustimmung signalisiert hatten, wurde die Akte „Sidona Ferinei“ geschlossen. Für die drei Leiter der Untersektion der Organisation war der Fall damit abgeschlossen.

„Ich habe hier einen neuen Auftrag vorliegen“, sagte Gesprächspartner 2…

* * *

Mit sich wegen des verpatzten Auftrags unzufrieden, schlug sie wie besessen auf den Schlagsack im Trainingsraum ihres Stützpunkts ein. Sie suchte ein Ventil und der Schlagsack war dafür ein hervorragend geeignetes Mittel. Immer wieder schlug sie zu, immer heftiger und bemerkte dabei nicht, dass sie beim Zuschlagen ihre Wut hinausschrie.

Ein Alarmsignal der Stützpunktpositronik ließ das Implantat hinter ihrem rechten Ohr ansprechen und sie abrupt innehalten: Einbruchalarm.

Ein Moment lang war sie nicht fähig, die richtige Konsequenz und Entscheidung daraus zu ziehen. Aber nur einen kurzen Augenblick. Tai-Vothanii-lange Übungen ließen sie instinktiv das Richtige tun. Wie von einer gespannten Feder angetrieben eilte sie zum anderen Ende des Trainingsraums und öffnete dort die Tür zur Bekleidungskammer. Rasch trat sie ein, entnahm den Einsatzanzug, den sie auf Varynkor getragen hatte, und zog ihn so schnell es ging an; der Anzug war nicht nur schwarz und antireflexionsbeschichtet, sondern verbarg auch ihre Körpertemperatur. Anschließend ergriff sie eine Restlichtverstärkerbrille und setzte diese rasch auf. Danach rannte sie in den Trainingsraum zurück und nahm einen Dolch an sich, der neben vielen anderen unterschiedlichen Stichwaffen an der Wand hing.

Anschließend stellte sie sich hinter ihren alten Trainingsroboter und sagte leise: „Positronik, Notfallprogramm ‚Verschluss‘ ausführen!“

Schlagartig wurde es dunkel. Einige Kontrolleinheiten warfen schwachen Schimmer in den Raum. Zeitgleich wurden die nicht benötigten Systeme im Stützpunkt heruntergefahren. Das unterschwellige Summen und Vibrieren, das sie schon lange nicht mehr wahrnahm, hörte auf und das einzige, was sie jetzt noch hörte, war ihr eigener Atem und das Pochen ihres Herzens.

Sie wartete. Hatte sie sich getäuscht? Oder war es gar eine Fehlfunktion der Positronik? Als nach etlichen Paltortontas sich noch immer nichts änderte, wollte sie gerade die Deckung hinter ihrem Trainingsrobot verlassen, als sich die Tür zum Trainingsraum langsam öffnete. Sofort blieb sie stehen.

Sie musste ihre Augen zusammen kneifen, um überhaupt einen geringen Kontrast zwischen dunkel und ganz dunkel erkennen zu können, trotz der Restlichtverstärkerbrille. Ein fast nicht wahrnehmbarer Schatten bewegte sich geräuschlos und langsam an ihrem Trainingsroboter und damit an ihr vorbei. Der oder die Unbekannte musste einen vergleichbaren Anzug tragen. Sie schürzte ihre Lippen. Sie versuchte abzuschätzen, wie weit der Eindringling von ihrem Standort entfernt sei, um den Dolch zu werfen, aber sie zog den Gedanken wieder zurück. Es war einfach zu riskant, denn wenn der Dolch nicht richtig traf, waren ihre Chancen nach dem Wurf gleich Null. Nein, sie musste sich selbst von hinten an den Unbekannten heranpirschen und ihn ausschalten.

Vorsichtig hinter dem Roboter hervortretend, folgte sie dem Schatten. Sie umfasste den Dolch fester und hielt ihn so in der Hand, das die Klinge nach oben zeigte. Sie wollte dem auf sie angesetzten Attentäter die Kehle durchschneiden.

* * *

Den Arm zum Todesstoß ausholend und einen zusätzlichen Schritt zum Attentäter zu machen war eins. Die andere Hand wollte gerade das Kinn des Fremden umfassen, als sie ins Leere griff. Der Schwung des Arms mit dem Dolch ließ sie einen weiteren Schritt nach vorne machen, während sie für einen Bruchteil einer Palsartonta wie erstarrt danach stehen blieb. Instinktiv wollte sie sich zur Seite bewegen, als sie aufstöhnte. Ein höllischer Schmerz pulsierte durch ihren Körper, dessen Zentrum ihr rechter Hüftbereich war. Instinktiv wollte sie sich nach hinten werfen und mit einer Rolle Rückwärts aus dem Gefahrenbereich bewegen, aber es misslang ihr gründlich. Der Schmerz war einfach zu stark. Stattdessen landete sie langgestreckt auf ihrem Rücken. Das war ihr Glück. Der Attentäter, der jetzt ihr den Rest gegeben hätte, stolperte über ihre Füße und Beine und strauchelte heftig. So schnell es ihre Schmerzen zuließen, stand sie wieder auf und versuchte ihrerseits, den Attentäter anzugreifen. Beide prallten aufeinander. Geschwächt von der starken Verletzung umklammerte sie ihren Mörder und versuchte, ihren Dolch in seinen Körper zu stoßen.

„So nicht, Anfängerin!“ stieß die Person direkt vor ihr aus, seinen Atem in ihrem Gesicht spürend. Sie erkannte die Stimme wieder. Diese würde sie unter tausenden widererkennen: Es war ihr alter Ausbilder!

Einige Palsartontas rangen beide miteinander und versuchten, den jeweils anderen mit ihren Messern nieder zu strecken. Sie spürte, wie sie schwächer wurde, wie sie immer mehr Blut verlor. Panik erfasste sie. Sie sah ihren Tod kommen, weil durch ihre Schwäche der andere ihr immer überlegener wurde.

„Grüße die She’huhans von mir“, kam es direkt vor ihr aus seinem Mund.

Von Todesangst erfasst, hielt sie den anderen fest und ließ sich nach hinten fallen. Sie hörte noch ein von Überraschung ausgestossenes Stöhnen, bevor sie auf den Boden schwer aufschlug und auf ihr der Attentäter mit seinem Körpergewicht. Ihr wurde regelrecht die Luft aus dem Körper gepresst und einige Palsartontas wurde es ihr Schwarz vor Augen.

Sie wunderte sich zwar, warum der andere sich nicht bewegte, aber das war ihr in diesem Augenblick egal. Mit letzter Kraft stemmte sie den anderen zur Seite und holte tief Luft. Einige tiefe Atemzüge brauchte sie, um etwas zu Kräften zu kommen.

* * *

„Licht!“ rief sie, während sie sich langsam zur Seite drehte, um aufzustehen.

Unter heftigen Schmerzen gelang es ihr nach einigen Palsartontas. Während sie schwankend da stand, sah sie die Blutlachen am Boden, die von ihr stammten. Und sie erkannte auch, warum sich der Attentäter nicht mehr bewegte. Ihr Dolch steckte in seiner Kehle. Wie sie es geschafft hatte, wusste sie nicht, aber das war jetzt nicht wichtig.

Aus der Wunde stark blutend, schleppte sie sich in die vollpositronisch gesteuerte Medikstation ihres Stützpunkts. Sie ließ sich schwer atmend auf den Untersuchungstisch fallen und aktivierte die Medikpositronik. Einige hervorgestoßene Befehle genügten und der vorhandene Medikroboter fing an, sie zu untersuchen und die Verletzungen zu behandeln.

Währenddessen dachte sie nach. Jetzt stand sie auf der Abschussliste, da war sie sich ganz sicher. Der letzte Auftrag, der nur ein Teilerfolg war, musste ihre Auftraggeber davon überzeugt haben, sie auszuschalten. Über kurz oder lang würden sie wissen, dass sie noch immer am Leben war, spätestens dann, wenn sich ihr Attentäter nicht mehr bei ihnen meldete. Was konnte sie tun? Sie hob ihre blutverschmierten Hände vor ihre Augen und sah, dass sie zitterten.

Sie musste sich eingestehen, obwohl es bisher ihre Arbeit war, andere für Cronners zu töten, dass auch sie leben wollte. Sie konnte mit ihrem Raumschiff fliehen, von Zeit zu Zeit auf irgendwelche Planeten eine Zwischenstation einzulegen, aber die Organisation würde sie jagen, bis sie eliminiert war. So schnell entkam man der Organisation nicht! Nein, sie musste eine radikale Wendung vollziehen. Nur wie?
Zdhopandel, Sie haben einen starken Blutverlust erlitten. Außerdem muss die schwere Verletzung operativ behandelt werden. Sie erhalten jetzt eine Injektion, die sowohl schmerzstillend, blutaufbauend und narkotisierend wirkt“, sagte der Medikrobot zu ihr.

„Halt! Wie lange wird die operative Behandlung dauern?“ flüsterte sie.

„2 Tontas und 17 Paltortontas“, erwiderte der Roboter.

„Wecke mich nach spätestens vier Tontas!“ befahl sie dem Roboter flüsternd.

Ihre Zeit war kostbar, aber jetzt musste sie sich erstmal behandeln lassen, sonst würde jeder weitere Gedanke an ihre Zukunft verschwendet sein.

Kurz darauf spürte sie die Injektion und schlief ein.

* * *

Wie durch einen Nebel hörte sie eine Stimme, die etwas zu ihr sagte.

„… vier Tontas sind…“

Langsam setzten ihre Denkvorgänge wieder ein. Was war mit vier Tontas?

Zdhopandel, sie wollten nach vier Tontas geweckt werden“, sagte der Medikrobot, der neben ihr stand.

Sie schlug die Augen auf. Ja, richtig, der Kampf gegen den Attentäter, der sie eliminieren sollte, ihre Verletzung.

„Hilf mir, mich aufzurichten“, befahl sie dem Roboter. Kurz darauf saß sie auf dem Untersuchungstisch.

Zdhopandel, Sie sollten sich ausruhen und schlafen. Ihre Verletzungen wurden behandelt.“

Am Boden vor dem Untersuchungstisch sah sie noch die Blutspur, die von ihr stammte.

Sie ließ sich vom Tisch gleiten und ging langsam in Richtung Zentrale ihres Stützpunkts. Sie fühlte zwar keine Schmerzen, aber eine große Schwäche in ihr.

In der Zentrale setzte sie sich vorsichtig in den Sessel und schloss die Augen. Was sollte sie tun? Sie hatte keine Bekannten und Freunde, an die sie sich wenden konnte. Das Leben eines Auftragskillers war einsam. Und doch musste sie untertauchen, von der Bildfläche verschwinden, für die Organisation nicht mehr erreichbar sein. An wen konnte sie sich also wenden?

Sie zermarterte sich das Gehirn, aber letztendlich fiel ihr nur eine Person ein, die ihr vielleicht helfen konnte: dieser Adelige Namens Charrut del Harkon, der den Absturz überlebt hatte. Aber warum sollte er ihr helfen? Und konnte er ihr überhaupt helfen? Seine Freundin, die Schwester der Zielperson, war bei dem Gleiterabsturz ums Leben gekommen, er verletzt worden. Er hatte keinen Grund, ihr auch nur im Entferntesten zu helfen. Eher noch, dass er sich rächen wollte. Aber als Adliger würde er oder sein Khasurn über die finanziellen Mittel und Möglichkeiten verfügen, ihr helfen zu können. Wie also konnte er dazu gebracht werden, ihr zu helfen? Sie musste ihm alle Informationen anbieten, die sie besaß. Dann würde sein Fokus nicht mehr auf ihr liegen, sondern auf dem Auftragsgeber des Attentats, selbst wenn es nur ein Mittelsmann war. Er würde so schlau sein, eins und eins zu addieren und auf den eigentlichen Auftraggeber kommen.

Sie musste schnell handeln, denn ihr zeitlicher Spielraum wurde immer knapper…

„Positronik, suche im Netz nach einem Charrut del Harkon. Ermittle seine COM-IDs sowie alle relevanten Informationen seines Khasurns: Sitz des Khasurns, Vermögenswerte, Verwandtschaftsverhältnisse usw. Zugriff gestattet auf Sperrprogramm SCAN23-3. Höchste Priorität!“ befahl sie.

Danach stand sie auf, um sich zu duschen und etwas Frisches anzuziehen.

* * *

Als sie nach ungefähr einer halben Tonta wieder in der Zentrale erschien, standen mehrere COM-IDs von Charrut del Harkon auf dem Hauptterminal: das seines Khasurns, seines Armbandkommunikator, seiner privaten KSOL, sogar dessen Terminalanschluss auf Varynkor.

„Positronik, übermittle folgende Nachricht in Textform an die COM-ID des Armbandkommunikators von Charrut del Harkon", sagte sie in den Raum hinein.

„Bereit zur Übermittlung!“ erwiderte die Positronik.

„Übertrage diesen Text: Sind sie an den Umständen des Todes ihrer Verati interessiert?“

„Nachricht in Textform wurde gesendet!“ bestätigte die Positronik.

Jetzt konnte sie nur noch warten und hoffen, dass dieser Charrut del Harkon anbiss. Aber sie rechnete sich recht gute Chancen aus.

In der Zwischenzeit musste sie ihr Vermögen auf die Seite schaffen, das Schiff startklar machen und den Stützpunkt zur Vernichtung vorbereiten, um alle Spuren zu verwischen.

* * *

Es war mitten in der Nacht. Seit dem Tod von Onista waren einige Pragos vergangen. Er schlief seither nur noch unruhig und wachte von Zeit zu Zeit auf, ihm gingen zu viele Gedanken durch den Kopf. Immer wenn er die Augen schloss, sah er Onista vor seinem geistigen Auge: wie sie gelacht hatte, wie sie ihn mit ihren tiefblauen Augen fasziniert hatte, wie er sie geliebt hatte. Darum war er sofort hellwach, als sein Armbandkommunikator ihm eine eingehende Nachricht signalisierte. Er nahm ihn zur Hand und rief die Nachricht ab.

Auf dem Display erschien der Text: „Sind sie an den Umständen des Todes ihrer Verati interessiert?“

Er glaubte nicht, was er las. Er musste es ein zweites Mal lesen. Ruckartig setzte er sich auf, in seinem Kopf schrillte eine Armada von Alarmglocken. Hatte ihn sein Gefühl direkt nach dem Absturz doch nicht getrogen? Es war also doch kein wie auch immer geartetes Zusammentreffen unglücklicher Umstände, die zum Ausfall aller positronischen Systeme von Sidonas Sportgleiter geführt hatten?

Natürlich wollte er es wissen, jetzt erst Recht. Wer aber konnte die Person sein, die ihm diese Nachricht zukommen ließ? Irgendein Techniker, der den Auftrag hatte, die positronischen Komponenten des Wracks im Labor zu untersuchen und eventuell etwas gefunden hatte? Nein! Er verwarf gleich darauf wieder den Gedanken. ER war direkt angesprochen worden und nicht über die Sicherheitskräfte von Varynkor! Die rätselten noch immer, warum der Gleiter abstürzen konnte.

Charrut stand auf und holte seine private KSOL, die im Schrank lag und die er von Harkon mitgebracht hatte, heraus. Er schloss seinen Armbandkommunikator an die KSOL und aktivierte sie. Seine Finger flogen über die Sensorfelder der KSOL und tippten Befehle ein. Danach legte er beide Geräte zur Seite und wartete. Er ließ den Weg der Nachricht zurückverfolgen. Zumindest hoffte er, dass seine Bemühungen von Erfolg gekrönt sein würden. Jedes Gerät im Tai Ark’Tussan hatte eine einmalige COM-ID-Kennummer. Zwar gab es Techniken, die versuchten, die COM-ID zu verschleiern, aber dann war es noch immer möglich, den ungefähren Standort zu lokalisieren, von wo aus sich das entsprechende Gerät in die Hyperkom-Sphäre eingebucht hatte.

Nach einiger Zeit gab die KSOL ein Signal von sich, dass die Aufgabe erledigt war. Er hob die KSOL an und ließ sich die Information zeigen. Wie er befürchtet hatte, standen auf dem Display Zeichen, die niemals eine originäre COM-ID sein konnte.

‚Also wird versucht, die COM-ID zu vertuschen‘, ging es ihm durch den Kopf. Aber vielleicht konnte er zumindest einkreisen, von wo aus die Nachricht gesendet worden war. Dazu musste er allerdings die Nachricht beantworten.

Seufzend tippte er die Antwort auf seiner KSOL ein: „Selbstverständlich. Was bieten Sie?“

Nachdem er die Nachricht abgesendet hatte, tippte er wieder Befehle auf seiner KSOL ein und wartete wieder.

Wenige Palbertontas später erfuhr er den Weg, den die Nachricht genommen hatte: von seinem Armbandkommunikator über diverse Zwischenstationen bis zur letzten Relaisstation im Sektor Kendarkos, mehr als 4000 Lichtjahre entfernt.

‚Mehr als 4000 Lichtjahre entfernt!‘ murmelte er zu sich selbst. Er war einigermaßen überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet.
‚Damit scheiden fast alle anderen Punkte aus‘, sagte er sich in Gedanken. Unbewusst knirschte er mit den Zähnen und ballte seine Hände zu Fäusten.

Wenige Palbertontas später erhielt er wieder eine Textnachricht: „Alle vorhandenen Informationen. Von der Auftragsannahme bis zur Durchführung des Auftrages. Einschließlich aller verfügbaren Hintergrundinformationen“.

Während Charrut das las, verschlug es ihm die Stimme. Es war ein geplanter Absturz gewesen! Seine geliebte Neentin war Opfer eines eiskalten Mordplans gewesen. Wut und Zorn stiegen in ihm auf, seine Augen fingen an, stark zu tränen. Mit einem Aufschrei entlud sich seine aufgestauchte Wut, suchte sich ein Ventil und blindlings griff er sich den Kristallstein, ein Andenken von Harkon, der auf dem Nachttisch stand und warf ihn mit voller Wucht von sich. Unbeabsichtigt prallte der Kristallstein gegen das Terminal der Akademie-Positronik und zerplatzte in viele kleine Stücke.

Er brauchte einige Palbertontas, bis er sich soweit beruhigt hatte, dass er wieder klar denken konnte.

Die Person wartete auf eine Antwort. Natürlich wollte er alle Informationen haben. Die Frage, die sich ihm stellte, war aber: wer war die Person und warum wandte sie sich an ihn?

Er griff nach seinem Armbandkommunikator und tippte mit unterdrückter Wut seine Antwort ein: „Wer sind Sie und was verlangen Sie!“

Es dauerte fast eine halbe Tonta, bis er eine Antwort erhielt.

„Wer ich bin, spielt keine Rolle! Wollen Sie nun die Informationen oder nicht? Dafür erwarte ich folgendes: einen sicheren Zufluchtsort, keine Gewaltausübung gegen mich. Dafür erhalten Sie alle Information auf einem Speicherkristall.“

Charrut fuhr sich mit der rechten Hand über den Kopf durch sein schulterlanges Haar. Wenn er die Textinformation richtig verstand, dann war die Person, die Kontakt mit ihm aufgenommen hatte, selbst auf der Flucht und stand unter Zeitdruck. Was die Informationen auf dem angebotenen Speicherkristall anging, da stimmte irgendetwas nicht! Solche Informationen konnte man nicht einfach abrufen wie ein Koch-Rezept oder irgendwelche Nachrichten. Diese Art der Informationen stand eigentlich nur wenigen Personen zur Verfügung. Er schätzte, dass es nicht mehr als eine Handvoll waren. Das engte den Kreis der Verdächtigen erheblich ein. Und er hatte eine Vermutung, wer die Person war, nur eben leider keinen Beweis. Aber den konnte er sich beschaffen. Dazu musste er nur der Person von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Was den sicheren Zufluchtsort anging, musste er sich noch Gedanken machen. Er brauchte etwas Zeit, über alles nachzudenken. Die Person würde erheblich unter Zeitdruck geraten, wenn er sich Zeit ließ, da war er sich ganz sicher.

Mit verbissenem Gesicht tippte er seine Antwort in den Armbandkommunikator: „Ich muss es erst organisieren. Kontaktieren Sie mich wieder in 17 Tontas!“

Anschließend legte er sich wieder auf sein Bett. An Schlafen war überhaupt nicht mehr zu denken, zu viele Gedanken eilten durch seinen Kopf. Einige Zeit später hatte er einen Entschluss gefasst. Er musste mit Tranthar sprechen…

* * *

Wenige Augenblicke später hatte er sich angezogen und stand kurz darauf vor dem Zimmer von Tranthar. Er musste einige Male klopfen, bis ihm die Tür geöffnet wurde.

Ein völlig verschlafener Tranthar stand in der Tür und sah ihn mit einem übermüdeten und zugleich überraschten Blick an.

„Charrut!“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Müde sagte Tranthar. „Ist etwas?“

„Ich muss mit dir reden!“ entgegnete Charrut.

„Jetzt? Weißt du, wie spät es ist?“ erwiderte Tranthar schlaftrunken. „Kann das nicht warten?“

Während Tranthar gähnen musste und er sich sein wirres rotes Haar mit einer Hand nach hinten strich, schüttelte Charrut bestimmt den Kopf und erwiderte: „Nein, es duldet keinen Aufschub!“. Damit drängte sich Charrut ins Zimmer von Tranthar.

Tranthar war viel zu müde, um Widerstand zu zeigen. Während sich Charrut an ihm vorbeizwängte und in seinem Zimmer in einem Sessel Platz nahm, sah ihn Tranthar nur müde hinterher und sagte dann zynisch: „Komm doch herein und nimm Platz."

Tranthar ließ sich in einem anderen Sessel fallen und sah Charrut fragend an. Wie Tranthar nicht anders erwartet hatte, kam Charrut gleich zur Sache.

„Ich benötige deine Hilfe. Und die deiner Sippe!“

Tranthar war überrascht. Das erste Mal, das Charrut von ihm Hilfe erbat. Und nicht nur von ihm, sondern auch gleich noch von seiner Sippe!

„Da bin ich aber gespannt. Erzähle!“

Und Charrut fing an, von dem Kontakt, seiner Vermutung und seiner Idee zu erzählen…

* * *

‚17 Tontas‘ sollte sie warten! Musste sie warten. Mit verbissenem Gesicht hatte sie die letzte Textnachricht von diesem Charrut del Harkon zur Kenntnis genommen. Sie konnte sich vorstellen, dass einige Vorbereitung seinerseits zu treffen waren, aber trotzdem: 17 Tontas waren für sie eine kleine Ewigkeit.

In der Zwischenzeit hatte sie ihr schwerverdientes Vermögen, das auf vielen Konten verteilt war, auf einen Speicherkristall transferiert. Außerdem war der Stützpunkt zur Sprengung vorbereitet worden.

Jetzt saß sie in der Zentrale ihres Schiffes und die Triebwerke liefen bereits warm. Sie warf einen letzten Blick auf ihren Stützpunkt und den angrenzenden Urwald. Etwas Wehmut erfüllte sie. Diese einsame Welt war eine neue Heimat für sie geworden. Nach jedem Auftrag kam sie hierher zurück und erholte sich, tankte neue Energie. Und jetzt musste sie endgültig Abschied nehmen.

„Positronik, starte das Schiff und nehme eine Parkposition in 5000 Quars Höhe ein“, befahl sie der Schiffspositronik.

"Ti'Ghen, Zdhopanda", bestätigte die Schiffspositronik und aus dem nur unterschwellig hörbaren Grummeln wurde ein hörbares Rauschen, als die Triebwerke hochgefahren wurden. Auf den Monitoren in der Zentrale sah sie, wie der Planet immer kleiner wurde, als sich das Schiff von der Planetenoberfläche entfernte. Keine Palbertonta später änderte sich das Triebwerksgeräusch und die Positronik meldete, dass sich das Schiff genau 5000 Quars über dem Stützpunkt befand.

Leidenschaftslos drückte sie den Sensor für die Sprengung und auf den Monitoren beobachtete sie, dass sich eine Explosion keine zwei Dran von ihrem Stützpunkt ereignete: das Schiff des auf sie angesetzten Auftragsmörders. Nachdem sie erfahren hatte, dass sie 17 Tontas warten musste, hatte sie Spionsonden ausgesandt, die das Schiff suchen sollten, mit dem der Attentäter zum Planeten gekommen war. Danach hatte sie befohlen, am Schiffskörper Sprengsätze anzubringen. Und diese hatte sie gerade gezündet.

„Positronik, zünde jetzt die Sprengsätze im Stützpunkt“, befahl sie. Sie konnte es nicht selbst durchführen, dafür hingen zu viele Erinnerungen an diesem Stützpunkt.

"Thi’Gen, Zhdopanda", kam die Bestätigung und nur wenige Augenblicke später sah sie eine gewaltige Explosion, dort, wo eben noch ihr Stützpunkt gewesen war.

Seufzend sah sie zu, wie die Explosionswolke immer größer wurde und kurze Zeit später in sich zusammenfiel.

Innerlich gab sie sich einen Ruck. Sie war professionell genug, um sich auf neue Gegebenheiten schnell einzustellen.

Sie warf einen Blick auf ihre Vot. Sie musste noch viele Tontas warten, bis die vereinbarte Zeit vorbei sein würde. Sie entschloss sich, sich hinzulegen und auszuruhen, ihr Körper musste sich erst noch von den Verletzungen und der Operation erholen. Sie stand auf und verließ die Zentrale in Richtung ihres Wohnbereichs.

Pünktlich zur vereinbarten Zeit erschien sie wieder in der Zentrale und nahm wieder Platz im Kommandosessel.

„Positronik, sende folgende Nachricht in Textform an den Armbandkommunikator von Charrut del Harkon: "Ich erwarte Ihre Antwort!"

„Nachricht in Textform wurde gesendet!“ bestätigte die Positronik.

„Positronik, setze den Kurs in Richtung Thantur-Lok, Geschwindigkeit bei 5% der Lichtgeschwindigkeit!

"Thi’Gen, Zhdopanda", kam die Bestätigung, während sich das Schiff in Bewegung setzte.

* * *

Charrut saß in seinem Zimmer und wartete. Vor ihm auf dem Tisch lagen der abgenommene Armbandkommunikator und seine KSOL bereit, falls sich der Attentäter bei ihm meldete. Die 17 Tontas waren eben abgelaufen. Dass die Person, die sich bei ihm gemeldet hatte, der Attentäter und Mörder war, war für Charrut in den zurückliegenden 17 Tontas immer mehr zur Gewissheit geworden. Es war alles vorbereitet: Vom Treffpunkt über die Unterstützung seitens Tranthar und seiner Sippe bis hin zu seiner eigenen Einstellung – insbesondere seine eigene Einstellung. Er hatte dem Mörder sein Wort gegeben, keine Gewalt gegen ihn auszuüben. So oft er auch in der Vergangenheit mit seinem Vater Auseinandersetzungen hatte, so musste er doch zugeben, dass sich seine khasurninterne Ausbildung, als Nachfolger seines Vaters und als Angehöriger des Mittleren Adels, nicht vergebens war. Ein einmal gegebenes Wort würde man nicht brechen, ohne das Gesicht zu verlieren. Weder vor anderen noch vor sich selbst. Nein, er würde sein Wort halten, obwohl alles in ihm danach trachtete, den Mörder eigenhändig zu töten.

Der Armbandkommunikator gab ein Signal von sich; eine Nachricht war eingegangen. Er rief die Nachricht ab: Der Mörder erwartete seine Antwort!

Er tippte diese ein. Er hatte sie in Gedanken schon längst formuliert gehabt.

‚Ich will Sie von Angesicht zu Angesicht sehen und aus ihrem Mund erfahren, was Sie wissen. Außerdem erwarte ich alle Informationen auf einem Speicherkristall. Treffpunkt ist ein verlassener Stützpunkt im Asterioidenfeld eines Nachbarsystems von Varynkor am 11. Prago to Dryhan zur 16. Tonta. Die Koordinaten folgen am Ende dieser Information. Kommen Sie allein mit einem Beiboot. Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, kontaktieren Sie mich nicht mehr!‘. Charrut tippte im Anschluss die Koordinaten der verlassenen Ortungsstation ein, überprüfte nochmals seine Angaben und sendete die Nachricht.

Jetzt hieß es abwarten, ob sich der Mörder von Onista darauf einließ. Mehr konnte er momentan nicht tun.

Nach einer gefühlten Ewigkeit bekam er eine Antwort. Der Mörder wollte von ihm nochmals die Zusicherung, dass er keine Gewalt ausüben würde. Er antwortete, er bürge mit seinem Ehrenwort, dass er keine Gewalt gegen ihn ausüben und ihn an einen sicheren Zufluchtsort bringen würde!

Eine knappe Tonta später war das Treffen endgültig vereinbart. Jetzt musste er nur noch Tranthar informieren, dass die Aktion angelaufen war.

* * *