Onista lachte kurz auf und erwiderte: „Einen Prago, bevor Charrut und ich uns richtig kennengelernt haben, bekam ich diesen Anzug von meiner Schwester. Als Charrut dann den Anzug sah, hat er ihm besonders gefallen und so habe ich ihn behalten.“

„Wie haben sie sich denn kennengelernt?“ fragte Onythia und deutete auf eine Bank, die am Rand des Weges stand. Nachdem sie sich gesetzt hatten, sagte Onista: „Er war im letzten Vothari mein befehlshabender Offizier an Bord einer LEKA-Disk. Er hat mir insofern imponiert, als dass er sich, verzeiht, wenn ich offen bin, nicht wie viele andere Adelige überheblich und herablassend gab. Und Ende Tartor des letzten Vothars trafen wir uns rein zufällig in einer Trinkhalle und dort versuchte er dann, mich unter den Tisch zu trinken. Aber da hatte er sich die Falsche ausgesucht“, entgegnete Onista und musste bei den letzten Worten grinsen.

„Dann haben sie sich noch gar nicht lange gekannt, als er Ultrals und mein Leben gerettet hat“, stellte Onythia fest.

Einige Augenblicke herrschte Stille zwischen den Frauen und nur die Balzrufe der Ebitii und das Plätschern des kleinen Wasserlaufs, der sich zwischen Büschen und Bäumen nahe der Sitzbank hindurch schlängelte, waren zu hören.

„Darf ich Sie etwas persönliches Fragen?“ fragte Onythia und blickte Onista direkt an.

„Sicher“ entgegnete Onista.

„Ich erwähnte vorhin die Regeln und Kodexe, die im Adel allgegenwärtig sind. Das betrifft nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen im Adel. Charruts Mutter war z.B. verantwortlich für das Harkon-System. Wären SIE dazu bereit? Dazu bereit, Ihren jetzigen Beruf aufzugeben, Varynkor zu verlassen, sich um den Khasurn zu kümmern, ihn nach innen wie nach außen zu vertreten? Sich mit Politikern, Interessenverbänden und Bittstellern auseinander zusetzen?“

Onista saß still da und dachte über die Worte von Onythia nach. Nach einer Zehnteltonta blickte sie Onythia an und sagte: „Ja, dazu wäre ich bereit. Ich würde für Charrut mein bisheriges Leben aufgeben und ein neues beginnen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben“.

* * *

Nachdem Onythia und Onista den Essensraum verlassen hatten, herrschte am Essenstisch einige Augenblicke Stille, in der Ultral I. seinen Sohn beobachtete, der nachdenklich am Tisch saß.

‚Ich hätte es ihr längst erzählen sollen, Zeit genug hatte ich‘ ging es Charrut selbstkritisch durch den Kopf. ‚Jetzt habe ich wieder ein Problem mehr, was ich lösen muss.‘

Ultral trank einen Schluck K’amana und sprach dann seinen Sohn an: „Was lernst Du daraus?“

Charrut fuhr sich mit den Händen durch sein Haar und erwiderte: „Keine Geheimnisse zu haben, jedenfalls nicht vor der Person, die man liebt“.

* * *

Charrut wachte mitten in der Nacht auf. Er überlegte, was ihn geweckt haben mochte. Ein Geräusch? Magenknurren, weil er vielleicht zu wenig gegessen hatte? Er kam nicht darauf… Nach einigen Palsartontas entschied er sich, aufzustehen.

Vorsichtig, um nicht Onista zu wecken, stand er auf und ging leise in den Aufenthaltsraum. Dort zog er sich ein tunikenähnliches Gewand an. Er regelte die Beleuchtung im Aufenthaltsraum auf das minimalste herunter, nahm sich ein Glas Wenas aus der Harkon-Region Uwita und setzte sich in einen bequemen Sessel. Nach einigen Zehnteltontas und nachdem das Wenasglas fast geleert war, stellte er fest, dass sich seine Gedanken immer wieder um einige Punkte drehten: Was würde er machen, wenn er die Ausbildung an der Akademie bestanden haben würde? Würde er in der Imperialen Flotte bleiben oder zurückkehren nach Harkon? Und, könnte Onista die Anforderungen bestehen, die an eine Frau eines Khasurnoberhaupt gestellt wurden? Konnte Sie letztendlich SEINE Anforderungen erfüllen? Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass ihn die Ausbildung, einmal abgesehen vom Drill, den militärischen Gepflogenheiten und das Anwenden erlernten Wissens wie Waffen- und andere Militärkenntnisse eines gebracht hatte: er war erwachsen und reifer geworden.

Der Tod seines Bruders hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er hatte damals zu nichts mehr Lust gehabt und sich um den Khasurn zu kümmern erst recht nicht, wohl weil sein Bruder sich schon früh für den Khasurn interessiert hatte.

Er war viel im Elimor-Sektor unterwegs gewesen, war hier und dort auf Veranstaltungen gewesen, hatte seinen Status ausgenutzt und Geld versprochen, was er nicht besaß. Sein Vater war dann immer wieder eingesprungen. Sein Vater und er hatten dann immer wieder heftige Auseinandersetzungen, aber reden konnten sein Vater und er nicht miteinander. Seine Schwester Chamah‘ney hatte am Anfang sich immer schützend vor ihm gestellt und gehofft, er würde sich ändern, aber er machte weiter so wie bisher. Irgendwann zog sie sich dann von ihm zurück, nachdem er sich nicht änderte.

Mit einem inneren Seufzer trank er den letzten Rest des Glases und resümierte, dass seine Taten und sein Verhalten von früher wohl seiner jugendlichen Unreife zuzuschreiben war. Er stand auf, goss sich ein zweites Glas Wenas ein und setzte sich wieder.

Wenn er nach der Ausbildung nach Harkon zurückkehren würde, was dann? Sein Vater war noch nicht in dem Alter, wo man sich als Khasurnoberhaupt zurückziehen und dem Nachfolger als Berater zur Seite stehen würde. In der Imperialen Flotte bleiben? Es dürstete ihn nicht nach Auszeichnungen und Orden, vielmehr reizten ihn die gefährlichen Abenteuer und Einsätze. Die Auszeichnungen empfand er nur als Bestätigung dafür, dass er sich erfolgreich für das Reich engagierte. Aber es gab etwas, was er am ersten Prago auf der Akademie in seinem Zimmer gelesen hatte, direkt unter dem Bild des Imperators: ‚Ehre, Werte, Tradition, Integrität, Disziplin!‘. Darüber hatte er oft in seiner Freizeit nachgedacht. Dafür würde er in der Flotte bleiben, denn die letzten Votharii an der Akademie und der Vorfall im Elimor-Sektor Anfang diesen Vothars hatten ihn eines gelehrt: der eigentliche Feind kam von innen. Für ihn war es unvorstellbar, das Erschaffene nicht zu beschützen, zu wahren, fortzuentwickeln. Und der Tato, den er getötet hatte, hatte es ihm mit seinem letzten Atemzug angedroht: ‚Es wird ein Sturm kommen, der Euch und euresgleichen hinwegfegen wird…‘

Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Nein, er würde in der Imperialen Flotte bleiben! Dort konnte er sich am besten und am ehesten einbringen, in der ersten Reihe stehend. Und wenn der Ruf kommen sollte, dass er Khasurnoberhaupt werden sollte, konnte er immer noch vom Elimor-Sektor aus etwas beitragen.

Und Onista? Würde Sie es schaffen? Sie hatte nie die khasurninterne ‚Ausbildung‘ erhalten, die die Frauen der Adeligen erhielten: den Umgang mit anderen Adeligen, die ungeschriebenen Gesetze beachtend, die nicht auf dem Papier definierten Regeln einhaltend? Würde Sie auf Ihn warten können, falls sie heiraten sollten, während er irgendwo in der Galaxis im Einsatz war? Vielleicht mehrere Votanii nicht heimkommen konnte? Und, war sie die Frau, wie er sie sich wünschte? Frau, Gefährtin, rechte Hand, an seiner Seite stehend, ihm den Rücken freihaltend? Viele Punkte würde er sofort mit ‚Ja‘ beantworten, aber trotzdem musste er mit Onista reden. Er konnte es nicht direkt in Worte fassen, aber für ihn gab es so etwas wie Seelenverwandtschaft. Und die hatte er bereits damals an Bord der LEKA zwischen ihnen gespürt, und erst recht, als sie sich kennengelernt hatten. Er wäre sonst nie so schnell bereit gewesen, eine neue Beziehung nach Auris einzugehen. Ganz kurz tauchte vor seinem geistigen Auge Auris auf, aber mit einer Handbewegung über sein Gesicht wischte er den Gedanken fort: vorbei, Vergangenheit, ein anderes Leben…

Er blickte in sein Glas und wollte gerade den letzten Schluck trinken, als er sie sah: sie stand an der Ecke des Aufenthaltsraum angelehnt und beobachtete ihn.

Langsam kam sie auf ihn zu und fragte: „Du siehst so nachdenklich aus. Schwerwiegende Gedanken?“

Charrut machte eine zustimmende Geste mit der Hand.

Sie setzte sich auf seine Knie, nahm sein Glas Wenas und trank den letzten Schluck aus, und sagte. „Erzähle!“

Charrut schaute sie einige Augenblicke an und erzählte ihr dann von seinen Gedankengängen, die ihm erst wenige Palbertontas vorher durch den Kopf gegangen waren.

Als er geendet hatte, herrschte erst einmal Stille im Aufenthaltsraum, bis Onista von Charruts Knie aufstand, ihn an seiner Hand in Richtung Bett zog und sie sich hinlegten. Onista lehnte sich an Charrut an und sagte: „So etwas ähnliches hat mich Onythia heute Mittag auch gefragt, und weist Du, was ich geantwortet habe? – Ja !“

* * *

Nachdem Charrut kurz mit Onythia gesprochen hatte, kehrte er in den Wohntrakt zurück. Onista war gerade dabei, sich etwas aus ihren Reisesachen zum Anziehen heraus zu suchen, als Charrut eintrat.

Onista fragte: „Was machen wir heute?“

„Heute habe ich leider wenig Zeit. Ich muss mit Vater und unserem Sicherheitschef über einige sicherheitspolitische Aspekte reden und vorher habe ich noch ein persönliches Gespräch mit meinem Vater, was die wirtschaftliche Planung des Elimor-Sektors betrifft“.

Onista machte ein enttäuschtes Gesicht und sagte: „Mit anderen Worten: ich sitze hier alleine herum?“

„Nein. Ich habe mir erlaubt, mit Onythia zu reden. Sie lässt Dich in…“ Charrut warf einen Blick auf seine Votta und fuhr fort: „…fünf Zehnteltontas abholen. Ihr werdet nach Yephroth fliegen und Euch einen angenehmen Prago machen.“ Charrut nahm Onista in den Arm und sagte: „Aber der morgige Prago ist nur für uns. Und wenn Du nichts dagegen einzuwenden hast, zeige ich Dir den Gebirgssee, wo ich früher gerne baden ging. Wenn Du keinen Badeanzug hast…“ und auf Charruts Gesicht erschien ein unverschämtes Grinsen, „..macht das gar nichts, wir brauchen keinen in diesem Gebirgssee.“ Sie küssten sich leidenschaftlich, bevor Charrut ging. Als er schon fast aus dem Raum hinausgegangen war, drehte er sich nochmals um und sagte: „Und falls du doch einen Badeanzug mitnehmen willst, die Kosten übernehme ich“, drehte sich um und ging.

Nach annähernd fünf Zehnteltontas ertönte wieder das melodisches Klingelsignal. Onista ging zum Schott und öffnete es. Davor stand ein Bediensteter.

Er verneigte sich vor Onista und sagte: „Zdhopan, ich soll Euch zum Gleiterdeck geleiten. Sie werden dort von Onythia de’moas Chihan erwartet!“

Onista nickte und folgte ihm. Kurze Zeit später erreichten sie das Gleiterdeck. Der Bedienstete blieb am Antigrav-Schacht stehen und deutete auf einen Mehrpersonengleiter mit den Insignien des Harkon-Khasurns. Davor stand Onythia sowie vier Arbtans, die Haltung angenommen hatten.

Onista ging auf Onythia zu. Als sie bei ihr war, begrüßten sie sich und Onista fragte: „Warum sind die Arbtans hier?“

Onythia erwiderte: „Seit der Entführung im Eyilon sind die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt worden. Sie werden uns begleiten und sind unsere Leibgarde. Aber genug davon. Lass uns nach Yephroth-Etset aufbrechen und was Interessantes für Dich einkaufen“. Dabei lächelte sie wissend und beide Frauen stiegen in den Gleiter, der kurz darauf startete.

* * *